Anke Drygala:
Die Differenz denken.
Zur Kritik des Geschlechterverhältnisses.
Wien: Turia + Kant 2005.
143 Seiten, ISBN 3–85132–437–4, € 15,00
Abstract: Es ist das Verdienst konstruktivistischer Theoriebildungen, eine grundlegende Kritik an biologisch abgeleiteten und essentialistisch begründeten Aussagen über Geschlechtlichkeit geleistet zu haben. Das der Identitätskonstruktion vorausliegende Problem, die erkenntnistheoretische Dimension, wurde dabei jedoch weitgehend ausgeblendet. Auf der Grundlage dieser Problematik expliziert Anke Drygala in dem vorliegenden Buch die Voraussetzungen und möglichen Perspektiven des Ansatzes eines „Denkens der Differenz“ zweier Geschlechter, wie er u. a. von den Philosophinnen Geneviève Fraisse und Luce Irigaray vertreten wird. Während Geneviève Fraisse den Begriff der „Geschlechterdifferenz“ einführt, mit dem das Geschlechterverhältnis als solches zum Gegenstand der Untersuchung werden kann, denkt Luce Irigaray das Geschlechterverhältnis als „irreduzible Alterität“, in dem sich die Geschlechter nicht als gleiche oder verschiedene gegenübertreten, sondern sich in ihrer jeweiligen Andersheit als unbegreiflich und unerfassbar wechselseitig anerkennen.
Anke Drygala zeigt zunächst die Barrieren auf, die es Frauen strukturell erschweren, über sich als Frau zu sprechen und die einem Denken der Geschlechterdifferenz somit entgegenstehen. Frauen haben im philosophischen Diskurs keinen anerkannten Status, da das weibliche Geschlecht Gegenstand philosophischer Reflexionen und Objekt wissenschaftlicher Theorien ist, ohne dabei jedoch als selbst denkendes Geschlecht präsent zu sein. Durch diesen Prozess der Ausgrenzung sind Frauen innerhalb dieser Theorien in einer abhängigen Position, die es ihnen unmöglich macht, sich als das andere Geschlecht zu denken.
Generationen von Frauen verschiedener Epochen haben versucht, Ausdrucksformen eines weiblichen Selbstverständnisses zu entwickeln und zu begründen. Als Beispiele wählt Anke Drygala hier die „Selbstvergewisserung in der Beziehung zu einer Anderen“ (S. 40) der Madame de Sévigné sowie die von Simone de Beauvoir gedachte „relationale Andersheit“ (S. 47). Während Madame de Sévigné (1626–1696) ihre Selbstgewissheit aus der Liebe zu ihrer Tochter bezog, hat Simone de Beauvoir in ihrem Buch Le deuxième Sexe (1949) erstmals ein theoretisches Modell entwickelt, in dem sich Frauen als ein Selbst denken können.
Allerdings bleibt Beauvoir der dialektischen Tradition verpflichtet, so dass sie zwar den Gedanken der Geschlechterdifferenz einführt, ihre Argumentation letztendlich dann aber doch auf eine prinzipielle Gleichheit der Geschlechter abstellt.
Im dritten Kapitel ihres Buches setzt Anke Drygala sich mit Judith Butlers Auffassung von Körperlichkeit als einem Prozess der Materialisierung auseinander, nach der davon ausgegangen wird, dass sowohl „sex“ (als biologisches Geschlecht) als auch „gender“ (ursprünglich in Abgrenzung von „sex“ gedacht als Bezeichnung für eine sozio-kulturell konstituierte Geschlechtsidentität) Konstruktionen sind, die diskursiv erzeugt werden. Nach Anke Drygala gibt es in Butlers Argumentation jedoch „eine unausgesprochene Gleichsetzung der Binarität weiblich/männlich mit Heterosexualität, die so nicht überzeugend ist.“ (S. 61). Denn Heterosexualität müsse nicht binär sein, da „hetero“ in seiner ursprünglichen Bedeutung ein Ausdruck für Vielfältigkeit sei (S. 61). Insofern greife Butlers Kritik an der Diskursmacht der Heteorsexualität zu kurz, „wenn nicht gleichzeitig gezeigt wird, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, das Verhältnis der Geschlechter zueinander zu denken.“ (S. 62).
In den konstruktivistischen Erklärungsmodellen wird der Geschlechterbegriffs auf die Dimension der Geschlechtsidentität reduziert. Die damit verbundene Entsexuierung und Entsexualisierung des Gender-Konzepts führt nach Drygala dazu, dass die Begriffe des Geschlechts und des Geschlechterverhältnisses nivelliert werden.
So konnte der konstruktivistische Ansatz zwar die Vorstellungen von Geschlechtsidentität aufzeigen, letztendlich blockiere er jedoch durch seine Kritik an jeder Art von geschlechtlicher Konstruktion weitergehende Reflexion darüber, warum wir Geschlechter markieren und uns im Alltag an dieser Geschlechterdifferenz orientieren.
Hier ist vorauszuschicken, dass in der deutschen Sprache der Begriff „Differenz“ mit etwas Trennendem verbunden wird. Mit dem von Geneviève Fraisse in den Diskurs eingeführten Begriff der „Geschlechterdifferenz“ betont diese jedoch das Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander, also die Beziehung, in der die jeweilige Verschiedenheit der Geschlechter ausgehandelt wird. Im Zentrum von Fraisse‘ Analyse steht also nicht das Geschlecht oder die Geschlechtsidentität sondern das Geschlechterverhältnis. Fraisse vertritt die These, dass Geschlechtlichkeit als Ergebnis der Auseinandersetzung zweier verschiedener Geschlechter entsteht, wobei auch der jeweilige philosophisch-historische Kontext zu berücksichtigen sei.
Luce Irigaray geht in ihren Arbeiten über die diskurstheoretische Analyse der Geschlechterdifferenz hinaus. Während es Fraisse um die wissenschaftstheoretische Bereitstellung von Begriffen geht, mit denen das Denken der Differenz operieren kann, strebt Irigaray die Hervorbringung eines Denkens an, das der Frau die Möglichkeit gibt, sich als Andere zu positionieren. Die Reflexion der Geschlechterdifferenz hat nach Irigaray auf mehreren Ebenen zu erfolgen: ontologisch, erkenntnistheoretisch und ethisch. Die Kategorie der Differenz ist demnach auf das Geschlechterverhältnis selbst anzuwenden: es ist die Beziehung zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht zu denken, nicht deren jeweilige Identität. Denn es geht Irigaray nicht darum, Merkmale der Unterscheidung der Geschlechter aufzuzeigen, sondern um die Analyse der Grenzsetzung, des sich-gegenseitig-als-anderes-Geschlecht-Bestimmens. Nur so kann, nach Irigaray, die Frau als bisher aus dem philosophischen Diskurs ausgeschlossene in denselben zurückgeführt werden.
Anke Drygalas fasst ihre Überlegungen am Schluss ihres Buches wie folgt zusammen:
Es reicht nicht aus, über Geschlechterkonstruktionen zu reden, wenn sich in der symbolischen Ordnung unseres kulturellen Systems etwas ändern soll. Dazu werden vielmehr Kategorien des Denkens benötigt, die sicherstellen, dass die jeweiligen Besonderheiten der Geschlechter nicht unter einer Oberkategorie zusammengefasst und damit nivelliert werden. Denn nur zwei autonom-gedachte Geschlechter haben die Möglichkeit, ihre jeweilige Andersheit wechselseitig anzuerkennen. Da die Bestimmung des Geschlechterverhältnisses als unabschließbarer Prozess gedacht wird, ist damit jede „essentialistische oder fundamentalistische Begründung von Geschlechtlichkeit ausgeschlossen.“ (S. 114)
In ihrem sehr empfehlenswerten Buch zeichnet Anke Drygala argumentativ übersichtlich die Entwicklung des Denkens der Geschlechterdifferenz nach und bietet somit auch eine gute Einführung in dieses – trotz oder gerade wegen der hohen Akzeptanz des Gender-Konzepts – brisante Thema. Die spannendste Frage bleibt dabei m. E. die nach der politischen Umsetzung und Umsetzbarkeit eines „Denkens der Differenz“.
URN urn:nbn:de:0114-qn073243
Petra Ruers
Ottersberg/FernUniversität Hagen/Erziehungswissenschaften
E-Mail: petra.ruers@t-online.de
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