Vom Exodus einer Töchtergeneration. Schrifstellerinnen um 1900 und das väterliche Über-Ich

Rezension von Annette Kliewer

Cornelia Vuilleumier Pechota:

O Vater, laß uns ziehn! .

Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Lou Andreas-Salomé.

Hildesheim, Zürich: Olms 2005.

412 Seiten, ISBN 3–487–12873–X, € 58,00

Abstract: Die Lausanner Literaturwissenschaftlerin Vuilleumier Pechota untersucht in ihrer Dissertation an drei Texten von Schrifstellerinnen der Jahrhundertwende, wie diese die Emanzipation von Töchtern gegen die Erwartungen ihrer Väter darstellen. Dabei stellt sie Parallelen auf zwischen der Situation von Frauen und der von Juden: Von beiden sei verlangt worden, dass sie sich an die herrschende Kultur anpassen. Ziel sei die Assimilation an das „Fremde“ gewesen.

Das Titelzitat verweist auf die heimatlose Mignon in Goethes Wilhelm Meister. Cornelia Vuilleumier Pechota zeigt die intertextuelle Bedeutung dieses Motivs in der Frauenliteratur der Jahrhundertwende. Dabei untersucht sie Gabriele Reuters Gunhild Kersten (1894/1904), Hedwig Dohms Christa Ruland (1902) und Lou Andreas-Salomés Ruth (1895).

Gabriele Reuter

In Gunhild Kersten widersetzt sich eine Sängerin dem Kunstverbot ihres Vaters, mit der Hilfe von Ersatzeltern erlangt sie doch künstlerischen Erfolg. Vor sich selbst rechtfertigt sie diese Entwicklung zu einem eigenständigen Leben durch eine Umdeutung des verstorbenen Vaters, der als derjenige wahrgenommen wird, dem sie ihre künstlerische Begabung verdankt.

Hedwig Dohm

In Christa Ruland, dem dritten Band aus ihrer Trilogie von Frauenleben, bricht die Heldin mit den Erwartungen des Vaters und der Gesellschaft gegenüber ihrer „weiblichen Bestimmung“ und wählt ein Leben ohne Mann. Damit widerspricht Dohm den üblichen fiktionalen Gestaltungen ihrer Zeit, Romanen also, in denen entweder das Scheitern der emanzipierten Frau im Selbstmord bzw. im Wahnsinn oder aber ihr resignatives Sich-Fügen in Mutterschaft, Ehe und häusliche Tätigkeit dargestellt wird.

Lou Andreas-Salomé

Ruth schließlich greift autobiographische Erlebnisse mit dem Pfarrer Hendrik Gillot auf, der als Ersatz-Vater inzestuöse Abhängigkeiten geschaffen hatte. Andreas-Salomés beliebtester Roman verweist auf die Notwendigkeit, sich auch von geistigen Ersatzvätern zu befreien.

Vuilleumier Pechota gelingt es in allen drei Studien, die „Double-bind“-Situation der Töchter darzustellen, die sich einerseits befreien möchten von den Einschränkungen, die das Verhältnis zum Vater ihnen auferlegt, die den Vater andererseits aber auch als Ansporn sehen, der ihnen bei der Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit zum Vorbild werden kann. Dabei werden als Väter sowohl die leiblichen Väter als auch die gewählten Ersatzväter, besonders aber die geistigen Väter, in diesem Fall oft Nietzsche oder Stirner, betrachtet. Störend ist, dass es kein vergleichendes Kapitel gibt, das die Ergebnisse der drei Einzelstudien miteinander zusammenführt. Außerdem wird nicht so ganz klar, warum gerade diese drei Texte ausgewählt wurden, ist doch die Ausblendung der Mutter und die Darstellung eines intensiven Tochter-Vater-Verhältnisses ein Thema, das sich in der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels in einer Vielzahl der Texte von Schriftstellerinnen der Jahrhundertwende findet.

Parallelen zur jüdischen Assimilation?

Das Buch ist als Band 30 der Reihe „Haskala“ des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien erschienen und demnach in ein Forschungsinteresse eingegliedert, das deutsch-jüdischen Wechselwirkungen in der Kultur gilt. Dieser Strang des Interesses, die Zusammenführung von jüdischer und weiblicher „Andersheit“, die um die Jahrhundertwende als gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommen wurde, ist das eigentliche Novum von Vuilleumier Pechotas Ansatz. Gerade hier aber ist die Arbeit nicht überzeugend: Es wird nicht wirklich deutlich, wie „reale Affinitäten und Solidaritäten zwischen beiden Gruppen“ entstehen konnten. Vuilleumier Pechota behauptet, die Titelfiguren spiegelten sich jeweils in den jüdischen Figuren der Romane. Sie setzt Fragen der jüdischen Assimilation und der weiblichen Akkulturation parallel. Dabei geht sie aus von der Selbstverständlichkeit, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Vater immer in die mit dem göttlichen Übervater einschreibt und damit ein Auszug der Töchter aus der väterlichen Welt auch immer an den Exodus-Gedanken der jüdischen Tradition erinnert. Zum anderen widmet sich Vuilleumier Pechota immer wieder etwas langatmigen onomastischen Untersuchungen der Figurennamen, die darauf verweisen, dass jüdische Assimilation stattgefunden hat (etwa wenn sie untersucht, wieso Dohm ihren Roman von Christa Ruben in Christa Ruland umgetitelt hat). Der Erkenntnisgewinn aus diesem Ansatz ist aber – trotz der impliziten Bezüge zur jüdischen Buchstaben- oder Namenssymbolik – wenig erhellend.

In der Substanz spielt schließlich der Vergleich mit dem Judentum eine eher marginale Rolle, intertextuelle Bezüge werden stattdessen hauptsächlich zu den Übervätern Nietzsche und Goethe hergestellt. Vuilleumier Pechota stützt die Ergebnisse von Untersuchungen, in denen die wichtige Rolle Nietzsches für die Diskussionen innerhalb der ersten bürgerlichen Frauenbewegung und im Denken der Schrifstellerinnen dieser Zeit herausgearbeitet wurde. Selbst Autorinnen wie Hedwig Dohm, die sich kritisch-ironisch mit dem geistigen Ersatzvater auseinandergesetzt hat, sind in ihren Argumentationen von seiner „neuen Moral“ oder von seiner Forderung, sich von den falschen Vätern abzusetzen, beeinflusst.

Nichts für Laien

Insgesamt ist dem Buch anzusehen, dass Vuilleumier Pechota sich intensiv mit den drei Autorinnen auseinandergesetzt hat, interessant ist vor allem das reichhaltige Bildmaterial. Manchmal aber werden wichtige neue Funde in Fußnoten abgehandelt, so dass Understatement kennzeichnend ist für eine Herangehensweise, die viele Kenntnisse voraussetzt. Diese Haltung führt aber auch dazu, dass Leser/-innen manchmal zu wenig „mitgenommen“ werden, gerade bei den doch oft noch unbekannten Texten (alle drei sind noch nicht wieder aufgelegt!) und Biographien der drei Autorinnen hätte man doch manchmal mehr „didaktische“ Hilfen erwartet und weniger Anspielungen.

URN urn:nbn:de:0114-qn073185

Dr. habil. Annette Kliewer

Landau/Universität Koblenz-Landau, Abteilung Landau/Institut für Germanistik

E-Mail: annette.kliewer@wanadoo.fr

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