Friederike Kuster:
Rousseau – Die Konstitution des Privaten.
Zur Genese der bürgerlichen Familie.
Berlin: Akademie 2005.
232 Seiten, ISBN 3–05–004161–7, € 49,80
Abstract: Methodisch versteht sich die Habilitationsschrift als Beitrag zur Rekonstruktion moderner politischer Philosophie. Als zentraler Ansatzpunkt dient das Familienkonzept von Rousseau, seine Schriften werden auf Geschlechterkonstruktionen und bürgerliche Geschlechterordnungen hin untersucht. Grundanliegen der Studie ist es, Bürgerlichkeit unter ihrem zentralen Aspekt des Privaten zu betrachten und in den Kontext moderner kontraktualistischer Philosophie zu stellen. Die Autorin vertritt die Ausgangsthese, Rousseau müsse eine „Schlüsselstellung“ (S. 9) in der Geschichte der bürgerlichen Geschlechter- und Familienordnung zugesprochen werden. Durch ihn sei die Trennung des Privaten vom Öffentlichen eingeleitet und festgeschrieben worden.
Die Arbeit ist in vier Abschnitte gegliedert. Einer ausführlichen Einleitung (S. 11–24) folgen im ersten Teil eine Art Prolegomena (S. 25–65). Der Abschnitt dient als Überblick zur kontraktualistischen Philosophie der Neuzeit. Die Darstellung der um Rousseau gruppierten Vertragslehren beeindruckt durch Präzision, insbesondere werden die Interdependenzen zwischen vertragstheoretischer Autoritätslegitimation des Staates und familiärer Herrschaftsstruktur klar herausgearbeitet. Behandelt wird vor allem, wie sich Rousseau den Tendenzen kontraktualistischer Vereinheitlichung von Staat und Familie entgegensetzt.
Im zweiten Teil (S. 67–89) werden die Texte Rousseaus konkretisiert, in denen er die Entstehung der Familie als natürliche, also nicht-vertragliche Ableitung erörtert und es wird in Rousseaus ökonomische Ableitungen eingeführt (Arbeit, Eigentum, soziale Abhängigkeit). Kuster untersucht Rousseaus Konzept der geschlechtlichen Aufgabenverteilung im Rahmen wechselseitiger Angewiesenheit der Geschlechter innerhalb der familiären Existenzweise.
Im dritten Teil (S. 91–142) wird Rousseaus Neukonzeptionierung der Familie im Vergleich mit dem aristotelischen Dualismus von oikos und polis interpretiert. Kuster sieht Rousseaus Familienmodell zwischen neuaristotelischem Ansatz und bürgerlich kontraktualistisch begründeter Familienlehre. Vor diesem Hintergrund einer „Neuauflage des aristotelischen oikos“ (S.133) integriere Rousseau die Stellung der Frau innerhalb der Geschlechterverhältnisse als Teil einer Funktionsgemeinschaft. Rousseau gehe es nicht um Gerechtigkeitsfragen, auch nicht um faktische rechtliche Gleichstellung. Die aristotelische Finalität der Natur avanciere in der Rousseauschen Übertragung auf das Geschlechterverhältnis zum „männlich-bourgeoisen Ideologem“ (S. 142).
Der vierte Abschnitt (S. 143–196) erstreckt sich schließlich auf das Verhältnis von Familie und Staat. Die anti-kontraktualistische Familienlehre wird expliziert und festgestellt, dass Rousseaus Familie als Organisationsform der materiellen Bedingungen der gesellschaftlichen Reproduktion zu verstehen sei, sie diene als ökonomische Basis der Republik selbst.
Die Autorin wirft Teilen der fachphilosophischen Rezeption „theoretische Fahrlässigkeit“ (S. 12) vor, wenn Rousseaus Stellungnahmen zur Frauenfrage und zur bürgerlichen Familienstruktur lediglich als marginal oder als „misogyne Entgleisung“ (S. 12) gekennzeichnet werden. Während es der feministischen Philosophie um die Rekonstruktion der auch von Rousseau übernommenen Legitimationsstrukturen einer politischen Unterdrückungsgeschichte gehe, in der Rousseau „zum Stammvater weiblicher Unterdrückung“ (S. 13) stigmatisiert worden sei, will Kuster eine Theorie der Bedeutsamkeit entwerfen, in der eine differenzierte Interpretation einschlägiger Schriften Rousseaus möglich sei. Die Autorin möchte insofern eine „Forschungslücke“ (S. 13) schließen, die sowohl Fachphilosophie als auch feministische Theorie gebildet haben. Kuster geht es deshalb vor allem um eine Rekonstruktion des Familienthemas in Rousseaus Texten. Die untersuchten Arbeiten von Rousseau (Émile, Nouvelle Héloïse, Contract Social, Erster und Zweiter Diskurs) belegen einerseits den gesellschaftskritischen Standpunkt des Philosophen, der ihn zu einer komplexen Neu-Konzeptionierung veranlasst habe. Nach Kuster entwirft Rousseau „zwei Modelle authentischen Lebens“ (S. 14), zum einen die individualistische moderne Freiheitssphäre, zum anderen die politische Sphäre des Sozialen. Erst als die Stellung der Frau zur woman question politisiert werden konnte und die Verwirklichung emanzipatorischer Forderungen realistisch wurden, habe sich Rousseau auf die Problematik der historischen Entwicklungen zur bürgerlichen Familie eingelassen. Rousseau erörtere beispielsweise – was durchaus als Neukonzeptionierung angesehen werden müsse – konkrete familiäre Strukturen (oikos) im Rahmen staatsrechtlicher Auseinandersetzungen (polis). Primitives Feudalpatriarchat werde im oikos ersetzt durch „aufgeklärten, empfindsamen Paternalismus“ (S. 19). Emanzipatorische Forderungen scheiterten in seiner Lehre an fehlenden ökonomischen Grundvoraussetzungen, er verwerfe sie ganz bewusst als eine durchaus denkbare Möglichkeit zur Vervollständigung kritischer Gesellschaftslehren. Rousseau falle damit in alte Legitimationsmuster finaler Begründungsstrukturen zurück.
Kuster beschreibt sodann eingehend Rousseaus Charakterisierungen der Familie und die Kultivierung der Geschlechterverhältnisse: Er ersetze im Familienmodell fehlende kontraktualistische Begründungsstrukturen durch ein ethisches „Grundmuster transparenter, unverzerrter Kommunikation und Interaktion“ (S. 21). Familie sei als Institution des Sentimentalen zu verstehen, weise eine empfindsam-introspektive Beziehungsstruktur auf. Familie werde bei Rousseau zum „Ursprungsort und zum Erfahrungsraum einer selbstbezüglichen Innerlichkeit“ (S. 21). Privatheit, Intimität, subjektszentriertes Gefühl, empfindsame Individualität und Geselligkeit, Authentizität und Wahrhaftigkeit, moralisches Überlegenheitsgefühl gegenüber der herrschenden Form von Gesellschaftlichkeit, affektiver Gleichklang einer zärtlich-empfindsamen Geselligkeit – der familiäre Binnenraum sei prädestiniert für die Entfaltung einer gefühlsbetonten Innerlichkeit und damit erhebe Rousseau die bürgerliche Familie zu einer Art „Kult“ (S. 22). Die Kraft gegenseitigen Mitfühlens stelle einen zentralen Faktor in Rousseaus Familienmodell dar. Diese Beschreibungen seien aus Sicht Rousseaus geeignet, um die bürgerliche Gesellschaft selbst zu kritisieren. „Die bourgeoise Existenz fungiert für Rousseau als Chiffre existentieller Bedeutungslosigkeit inmitten entfremdeter Verhältnisse.“ (S. 22).
Kuster wirft Rousseau zwar den ersten Entwicklungsschritt zur Trennung von Privatem und Öffentlichkeit vor. Sie relativiert diesen Vorwurf aber: Privatheit werde modern behandelt. Das neue Familienkonzept Rousseaus diene der eigentlichen grundlegenden Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Dies habe zur Konsequenz, dass das Verhältnis von Familie und Staat aus der Sicht des Privaten differenziert bestimmt werden könne. Die öffentliche Sphäre müsse als Gradmesser für Unterdrückungsmechanismen in den familiären Strukturen gelten.
„Die von Rousseau ursprünglich betriebene Abkoppelung der Sphäre des Privaten von der des Politischen führt schließlich zu einer Refamiliarisierung des Politischen“ (S. 24). Diese durchaus positive Würdigung schränkt Kuster allerdings erneut ein: Rousseau ersetze den Dualismus Privatheit/Öffentlichkeit durch Geschlechtertrennung, in dem er lediglich Männern vorbehalte, rationale gemeinsinnfähige familiäre Gefühlsgemeinschaft entwickeln zu können. Damit habe er die Geschlechter polarisiert und stütze die öffentliche Ordnung des Staates.
Rousseaus philosophische Schriften erlauben es, von ihnen fasziniert zu sein und sie gleichzeitig mit misstrauischer Distanz zu lesen. Rousseau insgesamt zu verwerfen, ist zwar möglich, aber doch irgendwie ausgeschlossen. Kuster ist es mit der vorliegenden Studie eindrucksvoll gelungen, gegenüber Rousseaus Gesamtkonzept ein gleichsam fasziniertes Misstrauen entwickelt zu haben. Sie charakterisiert Rousseau zunächst durchaus als modernen Denker, der den Nachweis erbracht habe, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weder auf Voraussetzungen der Natur noch auf göttlicher Willkür beruhen. Kuster entlarvt das Konzept – bei aller betonten Bedeutsamkeit – aber auch als den bewussten Versuch, präventive Vorkehrungen gegenüber potentiellen Emanzipationsbestrebungen der Frauen getroffen zu haben. Der Kontraktualist Rousseau hat Vertragslehren mit Blick auf die Gleichstellung der Frau im Haus, Gesellschaft und Staat verworfen und diesen Widerspruch wortgewaltig rechtfertigend vorgetragen.
Dass diese bis heute folgenreiche Strategie als solche aufgedeckt wird, ist der Studie von Friederike Kuster zu verdanken. Mit den Vorhaltungen verbindet sie feministische Rationalität und philosophische Wissenschaftlichkeit. Es handelt sich um eine klar strukturierte, philosophiegeschichtlich durchgehend präsente und sprachlich imposante Arbeit zur Interpretation moderner politischer Philosophie, die in der Fachwelt große Anerkennung erwerben wird.
URN urn:nbn:de:0114-qn073122
Prof. Dr. Regina Harzer
Universität Bielefeld; Fakultät für Rechtswissenschaft/Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie; Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF)
E-Mail: regina.harzer@uni-bielefeld.de
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