Idealisierung, Dämonisierung, Psychologisierung. Zur Karriere der Judith-Figur im deutschsprachigen Drama des 19. Jahrhunderts

Rezension von Sigrid Nieberle

Gabrijela Mecky Zaragoza:

„Da befiel sie Furcht und Angst …“.

Judith im Drama des 19. Jahrhunderts.

München: Iudicium 2005.

180 Seiten, ISBN 3–89129–756–4, € 16,00

Abstract: Anhand dreier Judith-Dramen – von Heinrich Keller 1808, einem Anonymus 1818 und Friedrich Hebbel 1841 – exemplifiziert Gabrijela Mecky Zaragoza die „Container“-These der feministischen Psychoanalyse, die Christa Rohde-Dachser entwickelt hat: Das Weibliche in der Kultur wird durch die männliche Diskurshegemonie in abgegrenzten Räumen – etwa der Fiktion und des Theatralen – domestiziert und somit als Furcht und Angst erregendes Moment für das Männliche bewältigt. Je diffuser die Ängste eines Autors in seiner Lebenswelt und psychischen Auseinandersetzung damit sind, desto weiter entfernt er sich mit seiner Judith-Version von der biblischen Vorlage, so die These von Mecky Zaragoza.

Theoretische Grundierung

Gabrijela Mecky Zaragoza folgt für ihre Interpretation der Judith-Dramen des 19. Jahrhunderts der These von Norbert Elias, dass die Ausdifferenzierung der Zivilisationsprozesse, namentlich der politischen, wirtschaftlichen und industriellen Umwälzungen um 1800, den Menschen zunehmende Anpassungsleistungen abforderte, die ihrerseits die Produktion von Ängsten beförderten. Christian Begemann führte auf dieser Grundlage für das 18. Jahrhundert eine begriffliche Differenzierung zwischen Furcht und Angst als Konsequenz der Verbürgerlichung der Gesellschaft ein. Ihren theoretischen Ausdruck finde diese Differenzierung in Kierkekaards berühmter Schrift „Begrebet Angest“ (1844), in der Furcht als objektbezogene Affektäußerung klassifiziert wird, die sich von der Angst als objektlose, diffuse Unlust am Dasein kategorisch unterscheide. Mecky Zaragoza verfolgt in ihrer Einleitung diese begriffsgeschichtliche Entwicklung sowie Elias‘ Über-Ich-These und erläutert die Affekt entlastende Funktion des Dramas mithilfe der hierfür einschlägigen Textstationen (Aristoteles, Lessing). In Rohde-Dachsers These von der „Container“-Funktion des Weiblichen in der Kultur, das in einer männlich dominierten Gesellschaft durch seine Domestizierung in definierten Räumen eine Entlastungsfunktion übernimmt, steht ebenso die Affekt reinigende Funktionalisierung von Literatur im Mittelpunkt wie in Freuds psychoanalytischer Verrätselung der Angst und des Weiblichen. Angst und Verdrängung organisierten sich demnach in einem hermeneutischen Zirkel psychischer Produktionsprozesse, was womöglich auch auf die Entlastungsfunktion des Dramas zu übertragen wäre. Die (Kästchen-)Wahl, die der Mann nach Freuds Lektüre von Shakespeare Kaufmann von Venedig treffen kann, beschränkt sich auf die Frau als „Gebärerin, Genossin oder Verderberin“ (S. 67). Jene Ergänzungsfunktion des Weiblichen, die aus der Definitionsmacht des Männlichen erklärlich sei, ist nach Mecky Zaragoza (mit Rohde-Dachser) mithin eine „kollektive Abwehrorganisation von gigantischen Ausmaßen“ (S. 46).

Heinrich Kellers Judith (1809)

Zu Heinrich Kellers versifiziertem Judith-Drama gibt es bislang kaum Forschung. Keller verfasste dieses Stück nach seiner traumatisierenden Erfahrung mit der Besatzung seiner Wahlheimat Rom durch die Franzosen. Gesundheitliche Probleme machten dem Bildhauer und Dichter seine Weiterarbeit mit schweren Materialien wie dem Marmor unmöglich, er verlegte sich mehr und mehr auf die Literatur. Seine Judith-Figur, so liest sie Mecky Zaragoza mit der Unterscheidung Theweleits, changiere zwischen der ‚roten‘, blutigen, bedrohlichen Frau einerseits und der ‚weißen‘, glatten, unschuldigen Figur andererseits. Werde zunächst die Furcht vor Hunger und Terror auf eine Furcht vor der rätselhaften, Männer verführenden Zauberin Judith verschoben, so wende sich das Blatt letztlich hin zur Idealisierung der Tat Judiths: Die kastrierende Frau, die Holofernes köpft, wird zur allegorischen Figur als Befreierin ihres unterdrückten Volks – in diesem Fall der Römer, die sich ihres französischen Jochs entledigen sollen. In jener Idealisierung liege eine Domestizierungsleistung begründet, die die Frauenfigur zum Containment textexterner wie textinterner Furcht bestimme.

Das anonyme Drama Judith und Holofernes (1818)

Aufgrund fehlender biographischer Angaben über den Verfasser des 1818 im Zerbster Andreas-Füchsel-Verlag erschienenen Dramas Judith und Holofernes liest Mecky Zaragoza das nicht namentlich gekennzeichnete Vorwort als dem Stück zugrundeliegendes dramenpoetisches Programm. In diesem Vorwort wird die Figur der Judith mit dem „Talmudischen“ verknüpft, und das Weibliche, das die christlichen Werte bedroht, dient als Projektion antisemitischer Rede. Judith missbraucht „die Liebe eines großen Feldherrn, die Stütze einer jeden Nation“ (S. 100) und „kann in einem übertragenen Sinne auch als ein weiblich besetzter Verrat des Jüdischen an der neuen deutsch-christlichen Edelnation“, wie sie der anonyme Autor entwirft, „gelesen werden“ (S. 111). Eine solche politisch umfassende Bedrohung durch den weiblichen Verrat bedürfe deshalb des Containments auf der Theaterbühne. Dass Judith am Ende einer Höllenfahrt entgegensieht, bekräftige nicht allein noch einmal die Skepsis gegenüber der Integration des Jüdischen in eine deutsche Nation, sondern führe in einer autoreferentiellen Geste die „Container“-Funktion des Weiblichen – seine Austreibung aus der Kultur – dramaturgisch eindrücklich vor Augen (vgl. S. 132).

Friedrich Hebbels Judith (1841)

Mit Hebbels Abkehr von der biblischen Judith, die er „nicht brauchen“ kann, wie er im Tagebuch betont (vgl. S. 145), vollzieht sich nach der Dämonisierung die Psychologisierung der Figur. Die Verfasserin bettet die Entstehung der Tragödie in den autobiographisch nachweisbaren Kontext einer konkreten Furcht Hebbels vor Mangel und Hunger sowie einer scheinbar manifesten Angststörung (mit einem entsprechenden Symptomkatalog), ein, die er seit der Kindheit erlitt. Aber auch ohne diese personalisierte Lesart von Furcht und Angst kann die Problematik einer durch die Vergewaltigung durch Holofernes paralysierten Judith als Tollkirschenschönheit (verführend und tödlich zugleich) deutlich gemacht werden. Das Weibliche, das im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse seine bürgerlichen Grenzen zu überschreiten drohte, musste in seine Grenzen verwiesen werden: Nach Hebbel wisse nämlich das weibliche Geschlecht um seine Unterordnung unter das männliche und sei deshalb umso entschlossener, dagegen – auch mit Gewalt – anzugehen. Interessant scheint für den Autor die Komplexität der psychischen Prozesse im Geschlechterverhältnis gewesen zu sein, die zudem auch durch die Manasses-Episode vertieft und profiliert werden: Judith als verwitwete Jungfrau hatte in der Begegnung mit dem angsterfüllten, impotenten Ehemann, der sie nicht berühren konnte, keine Gelegenheit, die ihr zugewiesene Schuld zu rechtfertigen oder überhaupt zu diskutieren. Als sie letztlich „verröchelt“, stirbt sie an der wiederum nicht selbst verursachten Schuld des Mordens, weil sie sich für die Vergewaltigung durch Holofernes notwendig rächen musste. Diese Tragik lasse Judith nahezu zur Schablone für den später prosperierenden Typus der Femme fatale werden.

Insgesamt liegt mit Mecky Zaragozas Studie ein überaus interessanter Vergleich dreier Judith-Dramen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor, der aus dem spezifischen Blickwinkel eines mentalitäts-, begriffs- und psychohistorischen Erkenntnisinteresses durchgeführt wurde und mit dem auch versucht wird, die Texte der einzelnen Autoren – je nach unterschiedlicher Quellen- und Forschungslage – biographisch auszudeuten und die Werkgenese mit der psychosozialen Verfasstheit ihrer Urheber in Zusammenhang zu bringen. Dabei kommt auch die Forschungsliteratur ausreichend zum Zug. Zu vermerken wäre lediglich ein methodischer Widerspruch, der sich daraus ergibt, dass begriffs- und mentalitätsgeschichtlich großer Wert auf die Historizität der untersuchten Begriffe (wie Furcht, Angst, Mitleid) gelegt wird, im Gegensatz dazu jedoch die Anwendung der These Rohde-Dachsers, die auf einer kritischen Lektüre Freuds beruht, als methodischer Anachronismus erscheint. Denn die „Container“-These, die auf eine „kollektive Abwehrreaktion von gigantischen Ausmaßen“ (S. 46) abhebt, müsste sich auch an einem ‚gigantischen‘ Textkorpus quer durch alle Zeiten belegen lassen. Dies soll aber nicht heißen, dass sie für die genannten Beispielen nicht plausibel erschiene.

URN urn:nbn:de:0114-qn073232

Dr. Sigrid Nieberle

Universität Greifswald, Institut für Deutsche Philologie

E-Mail: nieberle@uni-greifswald.de

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