Erfolgreiche Ambivalenz. Sarah Bernhardts Inszenierungen von Weiblichkeit

Rezension von Doris Kolesch

Claudia Thorun:

Sarah Bernhardt.

Inszenierungen von Weiblichkeit im Fin de siècle.

Hildesheim u.a.: Olms 2006.

362 Seiten, ISBN 978–3–487–13177–1, € 29,80.

Abstract: Claudia Thorun untersucht die Inszenierungen von Weiblichkeit am Beispiel der Schauspielerin Sarah Bernhardt, die im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu den erfolgreichsten Künstlerinnen ihrer Zeit gehörte. Dazu werden die Darstellungen ausgewählter Rollenfiguren ebenso analysiert wie die schauspieltheoretischen Überlegungen Bernhardts und schließlich die Rezeption ihres Schaffens in Theaterkritiken, aber auch Werbebildern und Medieninszenierungen. Das lesenswerte Buch erlaubt Einblicke in konkrete theatrale Verkörperungen von Weiblichkeit im Fin de Siècle, unternimmt jedoch keine ausreichende theatergeschichtliche wie kulturwissenschaftliche Kontextualisierung, obwohl die Verfasserin in der Einleitung ihrer Studie das Ziel formuliert, Gendertheorie, Theatergeschichte und Kulturwissenschaft zu verknüpfen.

Mythos und Modernität

Sarah Bernhardt kann zu Recht als erster Medienstar des Theaters bezeichnet werden. Die erfolgreiche Künstlerin, die nicht nur Schauspielerin, sondern zugleich auch Regisseurin, Intendantin, Theaterdirektorin und PR-Managerin in einer Person war, arbeitete konsequent und unter Einsatz der im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert neuen Medien wie Film, Werbebild, Schallplatte etc. an der öffentlichen Inszenierung ihres Images. Sarah Bernhardt kooperierte mit namhaften Regisseuren ihrer Zeit, sie inspirierte zeitgenössische Künstler wie Alphonse Mucha oder Henry Toulouse-Lautrec, und sie war darüber hinaus ein beliebtes – und gut bezahltes – Photomodell der wichtigsten Photographen der Jahrhundertwende wie Paul Nadar, Napoléon Sarony oder Aimé Dupont. Als eine der ersten Künstlerinnen überhaupt vermischte sie bewusst Bühnen- und Privatleben und ließ beispielsweise in Amerika ihr Bild mittels Werbung für die Zigarettenmarke Duke’s verbreiten, für die sie im Kostüm der Théodora posierte, der Heldin des gleichnamigen, ganz auf ihre Person zugeschnittenen Historienspektakels von Victorien Sardou, in dem sie auf der Theaterbühne große Erfolge feierte. Der außerordentliche, schon zu Lebzeiten ins Mythische und Legendäre reichende Ruhm von Sarah Bernhardt, der noch heute virulent ist, aber auch ihre erstaunliche Modernität machen sie zu einem gewichtigen und lohnenswerten Gegenstand theaterhistorischer, kulturwissenschaftlicher wie gendertheoretischer Untersuchungen.

Verbindung von Sinnlichkeit und Tugend

Claudia Thorun unternimmt in ihrer Dissertation den Versuch, die drei genannten Untersuchungsperspektiven, also Theatergeschichte, Kulturwissenschaft und Gender Studies, in der Analyse der Bernhardtschen Inszenierungen von Weiblichkeit zu verbinden. Dazu betrachtet sie zunächst anhand von Rezeptionszeugnissen, Bildern und (einigen wenigen) audiovisuellen Dokumenten ausgewählte Figurendarstellungen der Schauspielerin: ihre Wirkung als Phädra in Jean Racines gleichnamiger Tragödie, als Kameliendame in zahlreichen Bühnen- und Filminszenierungen der Dame aux Camélias von Alexandre Dumas fils sowie als schon erwähnte Théodora in Victorien Sardous aufwendigem Historiendrama. Am Beispiel dieser exemplarischen Darstellungen einer klassischen Tragödienheldin wie Phädra, der eher dem Typus der femme fragile zuzuordnenden Kameliendame sowie der femme fatale Théodora gelingt es der Autorin, zentrale Aspekte der Bernhardtschen Weiblichkeitsinszenierungen herauszuarbeiten und zu differenzieren. Insbesondere die anschaulichen und genauen Beschreibungen von Bernhardts Darstellungsstil als Kameliendame tragen zu einem nuancierten Bild der Schauspielkunst Sarah Bernhardts bei, die nach Thorun gerade durch die Verbindung widersprüchlicher, sich ausschließender Dimensionen charakterisiert werden kann: „Beim breiten Publikum war Bernhardt weder als rein sexuell motivierte Frauenfigur noch als reine Heilige erfolgreich. Den größten Erfolg hatte sie, wenn sie die widersprüchlichen Aspekte von Sinnlichkeit und Tugend verknüpfte. Die Kameliendame war die ideale Rolle für Bernhardt, da der Kernkonflikt des Dramas genau diese Thematik spiegelte. Hier zeigte sie eine körperliche Sinnlichkeit, die auch sexuell gelesen werden konnte, die aber durch ihre verhaltene Zärtlichkeit sublimiert schien. Ihre Kameliendame war nicht nur Hure und nicht nur Heilige, sondern brachte beide Aspekte in der ambivalenten Darstellung der tugendhaften Kurtisane zusammen.“ (S. 120)

Problematik des close reading

Ergänzt und komplettiert werden die Ausführungen zu Bernhardts Inszenierungen von Weiblichkeit durch Reflexionen über Hosenrollen und gegengeschlechtliche Besetzungen, also gleichsam Inszenierungen von Männlichkeit, die mit Rollen wie Hamlet, Cherubin oder dem Herzog von Reichstadt zum festen Bestandteil von Bernhardts Repertoire gehörten. Nicht zuletzt ihre Verkörperung von Hamlet als jugendlich-entschlossenem Rächer und nicht als zweifelndem Zauderer in der Tradition romantischer Empfindsamkeit stellte eine viel beachtete, in Frankreich, England und Deutschland durchaus unterschiedlich und kontrovers diskutierte Innovation dar. Spätestens bei dieser kultur- und nationenspezifischen Rezeption zeigt sich ein zentrales methodisches Manko der Arbeit, das die gesamten, im Einzelnen durchaus interessanten Ergebnisse schmälert und dazu führt, dass die Ausführungen vielfach zu sehr an der Oberfläche verbleiben. Thorun schreibt selbst in ihrer problembewussten Einführung, dass ein unkritisches Vertrauen auf Rezeptionszeugnisse wie Kritiken, Leserbriefe, künstlerische Selbstaussagen etc. insofern prekär ist, als diesen Quellen nicht umstandslos geglaubt werden darf, sondern immer der jeweilige Entstehungskontext ebenso wie zeitgenössische Wertvorstellungen, Machtverhältnisse, Interessenskonflikte etc. mitbedacht werden müssen. Allerdings verhindert die von der Autorin durchgängig verwendete Methode des close reading von Texten eben diese dringend nötige Kontextualisierung. Neben und ergänzend zu den geleisteten hermeneutischen Lektüren hätte hier ein diskurs- und kulturanalytischer Zugang, wie er beispielsweise von Peter Burke oder Mieke Bal jeweils mit unterschiedlichen Akzenten entwickelt wurde, die Quellen in ihrem kulturhistorischen Kontext erschließen müssen. Auch ist es schade, dass die Verfasserin bisweilen gerade dann ihre Überlegungen abbricht, wenn es für die Leser/-innen besonders spannend und – im besten Sinne – fragwürdig wird: So bleibt der Widerspruch, dass Bernhardt als junge Schauspielerin zunächst für ihre schwache, nicht tragende Stimme kritisiert, wenig später jedoch eben diese Stimme besonders gelobt wurde (vgl. S. 18 und S. 30), ebenso unkommentiert wie die bemerkenswerte Spannung zwischen Bernhardts Festlegung auf eine fragile, weibliche Körperlichkeit und ihrer Betonung der „männlichen Intellektualität“, die sie an der Darstellung von männlichen Rollen wie Hamlet faszinierte. Das auffällige Auseinanderklaffen der Rezeption von Bernhardts Hamlet in Frankreich, England und Deutschland, wobei sich gerade in Deutschland, ganz im Gegensatz zur enthusiastischen Aufnahme in England, die Kritiker mit besonders misogynen und abwertenden Einschätzungen unrühmlich hervortaten, kann Thoruns einseitig auf die Rezeptionszeugnisse gerichteter Blick nicht erklären. Dazu hätte eine fundiertere Einbindung der entsprechenden Quellen in zeit-, kultur-, gesellschafts- und rezeptionsspezifische Kontexte geleistet werden müssen.

Bernhardts schauspieltheoretische Position

Ein weiteres Kapitel ist den schauspieltheoretischen Selbstaussagen von Sarah Bernhardt gewidmet, die posthum unter dem Titel L’Art du théâtre 1923 veröffentlicht wurden. Angesichts einer bis heute andauernden Vernachlässigung von Schriften aus weiblicher Feder als theater- und schauspielrelevanten Texten ist es lobenswert, dass die Verfasserin Bernhardts Überlegungen als theoretische Abhandlung zur Schauspielkunst ernst nimmt und ausführlich vorstellt. Allerdings stößt auch hier die Methode des close reading schnell an allzu enge Grenzen. So fehlt in diesem Kapitel nahezu komplett der theaterhistorische und theoriegeschichtliche Bezug, der es erlauben würde, Bernhardts Position im Rahmen der beiden großen Entwicklungsstränge der Schauspielkunst („Verstandesschauspieler“ versus „Gefühlsschauspieler“), die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – mit zahlreichen Nuancierungen und Erweiterungen – bis heute diskutiert werden, zu verorten. Weder erfahren die Leserinnen und Leser, dass und weshalb Bernhardts Schrift exakt den gleichen Titel trägt wie eine einschlägige historische Abhandlung zur Schauspielkunst, nämlich Francesco Riccobonis L’Art du théâtre von 1750, noch wird in der erforderlichen Detailliertheit beispielsweise Denis Diderots wichtiges Paradoxe sur le comédien als Referenz- wie auch Absetzungspunkt von Bernhardts eigenen Überlegungen vorgestellt.

Die Medienfigur Sarah Bernhardt

Das letzte Kapitel vor einem resümierenden Fazit und Ausblick ist der Sarah-Bernhardt-Rezeption in Kritiken und zeitgenössischen Quellen, aber auch in den neuen Medien wie Werbebild oder Film gewidmet. Zwar stellt dieses Kapitel eine partielle Wiederholung zu den Kapiteln 1 und 2 dar, die den Darstellungsstil von Bernhardt in Bezug auf ihre Inszenierungen von Weiblichkeit wie Männlichkeit anhand von Kritiken und zeitgenössischen Rezeptionszeugnissen untersuchten, allerdings liegt nunmehr der Akzent weniger auf einzelnen Rollen, sondern auf übergeordneten Aspekten wie Gefühlsdarstellung, Virtuosität oder auch Künstlichkeit sowie, mit Blick auf die in der Rezeption zirkulierenden Weiblichkeitsbilder, auf Bernhardts jüdischer Herkunft oder ihrem Bild als zugleich treusorgender Mutter und erfolgreicher Geschäftsfrau.

Resümee

Claudia Thorun hat eine lesenswerte Studie verfasst, die sich mit Sarah Bernhardts Inszenierungen von Weiblichkeit aus theaterhistorischer und gendertheoretischer Sicht beschäftigt. Angesichts der umfassend untersuchten literarischen Imaginationen von Weiblichkeit im Fin de Siècle ist es erstaunlich, dass ihr Buch zu den wenigen Publikationen gehört, die unser Wissen und unsere Kenntnisse über diese Epoche um eine Analyse konkreter theatraler Verkörperungen und Inszenierungen von Weiblichkeit erweitern. Die Arbeit ist anschaulich und in einer gut lesbaren Sprache ohne störenden Jargon verfasst. Kritisch ist jedoch die mangelnde Kontextualisierung, die fehlende Einbindung und analytische Durchdringung der untersuchten Rezeptionszeugnisse zu bewerten, so dass eine theatergeschichtliche wie kulturwissenschaftliche Situierung und Bewertung der gewonnenen genderspezifischen Erkenntnisse noch weitgehend aussteht.

URN urn:nbn:de:0114-qn081090

Prof. Dr. Doris Kolesch

Freie Universität Berlin, Institut für Theaterwissenschaft

E-Mail: kolesch@zedat.fu-berlin.de

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