Faszination einer Kindsmörderin. Medea im 20. Jahrhundert

Rezension von Barbara Feichtinger

Inge Stephan:

Medea.

Multimediale Karriere einer mythologischen Figur.

Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2006.

332 Seiten, ISBN 978–3–412–36805–0, € 29,90.

Abstract: Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Inge Stephan interpretiert ein beeindruckendes Panorama von Medea-Bearbeitungen in Literatur, bildender Kunst, Film und Musik. Sie spürt in ihrem Buch zur Medea-Rezeption im 20. Jh. in höchst differenzierter und anregender Weise den vielfältigen künstlerischen Auseinandersetzungen der Moderne mit einer in vieler Hinsicht provozierenden Frauengestalt der Antike nach.

Medea – eine Provokation

Offenbar übte im Rahmen der bis heute ungebrochenen „Faszinationsgeschichte“ des antiken Mythos die zutiefst ambivalente Figur der Medea – sie ist heilkundige Zauberin und zugleich todbringende Giftmischerin, leidenschaftlich Liebende und Mehrfachmörderin aus Liebe und enttäuschter Liebe (des Bruders, des Onkels, der Nebenbuhlerin und zuletzt der eigenen Kinder) – eine besondere Anziehung auf Künstler/-innen des 20. Jhs. aus. Das gilt besonders für jene, die sich der Auseinandersetzung mit den tabuisierten dunklen Seiten des Eros und der Mutterliebe und damit den zerstörerischen Impulsen im Menschen, die im Verlauf des Zivilisationsprozesses nur mühsam humanitär oder christlich übertüncht worden sind, bewusst stellten. Das blutige Erbe dieses „Urtextes“ der Zivilisation war immer schwer anzunehmen gewesen – schon die Aufführung von Euripides‘ Tragödie in Athen hatte einen Skandal verursacht. Dies hatte bis weit ins 20. Jh. hinein zu einer verdrängenden Tabuisierung von Medeas Gewaltpotential geführt oder zu Versuchen, Medeas extremes Handeln – durch Verschiebung der Mordtaten, Ausblendung, Entsühnung, Umdeutung, Psychologisierung oder Pathologisierung – kommensurabel zu machen. Andererseits wurde Medea – und dies zunehmend im 20. Jh. – als Figur der Überschreitung in politischen Konfliktsituationen geradezu emphatisch aufgerufen und heroisiert. Dass Medea selbst als maßlos gedemütigtes Opfer eine faszinierende Frau ist, die ihre Umgebung durch Intellektualität, rhetorische Kraft und kämpferische Entschiedenheit weit überragt und als umstrittene Täterin die Ordnung der Geschlechter fundamental in Frage stellt, hat im 20. Jh. – spät, aber nun in stattlicher Zahl, – auch weibliche Künstler motiviert, sich der mit Medeas Geschichte spätestens seit Euripides eng verknüpften Frage nach Geschlechterverhältnis und Geschlechterkampf zu widmen.

Weibliches Schreiben am „Mythos Medea“

Es gelingt Inge Stephan, den maßgeblichen Anteil von Autorinnen an der jüngeren Rezeptionsgeschichte gebührend zu würdigen, ohne dabei die kritische Distanz der literaturwissenschaftlichen Analytikerin zu verringern und selbst einen feministischen Diskurs fortzuschreiben (vgl. dazu insbesondere auch Kap. 10 „Medea, meine Schwester? Medea-Entwürfe in feministischen Diskursen“, S. 158–167). Aufschlussreich ist die Betonung der enormen Schwierigkeiten, die insbesondere Frauen mit der Kindermörderin Medea hatten und haben, wie sie in einem Zitat aus Olga Rinnes Medea. Das Recht auf Zorn und Eifersucht (1988) zum Ausdruck kommen, das von einem Gespräch unter Freundinnen anlässlich der Geburt einer Tochter berichtet: „Plötzlich trat für einen Augenblick völlige Stille ein. Die neue Mutter hatte erklärt, sie habe ihrer Tochter neben dem Rufnamen, den wir schon kannten, einen zweiten Vornamen gegeben: Medea. Auf unseren Gesichtern spiegelten sich die unterschiedlichen Empfindungen, von Verwirrung und ungläubigem Erstaunen bis hin zu offener Bestürzung. Medea? War das nicht die Frau, die ihre eigenen Kinder getötet hatte? Die Frage, die im Raum stand – warum hast du deiner Tochter ausgerechnet diesen Namen gegeben? – sprach keine von uns aus.“ (Zit. nach S. 7)

Die Analyse der Bewältigungsstrategien solcher Schwierigkeiten und Berührungsängste zeigt, dass neben psychologisierenden Ansätzen, Medeas „unerhörte“ Tat zu verstehen und sie als Täterin zu entschulden oder gar zu heroisieren, insbesondere bei den Autorinnen Versuche stehen, Medea zu entlasten und vom Mordvorwurf freizusprechen. Dies haben Ursula Haas in ihrem Roman Freispruch für Medea (1987) durch den Bericht über eine Abtreibung von Jasons Kind oder Christa Wolf in Medea. Stimmen (1996) durch die Umdeutung sämtlicher Gewalttaten Medeas in lancierte Gerüchte und üble Nachrede versucht. Bemerkenswert ist dabei freilich, dass sich die Autorinnen (wie auch Marie Luise Kaschnitz in Griechische Mythen [1944] oder Helga M. Novak Brief an Medea [1978]) primär vor-euripideischer Quellen der antiken Literatur bedienen, um auf ihrer Suche nach einer „anderen Medea“ die Verbrechen der Kolcherin zu entschärfen oder zu tilgen. Das frauenfreundliche, ja geradezu feministische Potential des euripideischen Textes selbst – ihm wird ja zur Last gelegt, Medea und (Kinder-)Mord im kollektiven Gedächtnis der westlichen Zivilisation untilgbar miteinander verknüpft zu haben, – wird dagegen weder von den Autorinnen noch von Stephan selbst wahrgenommen (vgl. dazu Barbara Feichtinger: Medea – Rehabilitation einer Kindsmörderin? Zur Medea-Rezeption moderner deutschsprachiger Autorinnen. In: Grazer Beiträge 18, 1992, S. 205–234). Völlig zu Recht hinterfragt Stephan jedoch die frauenspezifischen Versuche, Medeas Gewaltpotential zu verharmlosen und die Figur zu einer neuen Ikone der Mütterlichkeit im Gefolge der neuen Frauenbewegung der siebziger Jahre umzudeuten. Stephan betont, „dass sich die Pro- und Kontrapositionen in der ‚Mordsache Medea‘ mit dem jeweiligen Geschlecht des Autors bzw. der Autorin nicht einfach kurzschließen lassen“ (S. 11). Den Vereindeutigungsversuchen stellt sie Katja Lange Müllers Essay Doch hoffe ich, Medea hört mich nicht (1990), Elfriede Jelineks Medea-Paraphrase Lust (1992) und Dea Lohers Manhattan Medea (1999) gegenüber, in denen der Kindermord besonders drastisch ausfantasiert wird. In der bildenden Kunst findet dies etwa in den Medea-Arbeiten (1985) von Angela Hampel eine visuelle Entsprechung. Hampel mache die für die ungebändigte, ja martialische Medea-Gestalt besonders spezifische Mischung aus Angst und Faszination besonders deutlich.

Medea als Grenzüberschreitung

Stephan spürt all diesen Widersprüchen und Ambivalenzen in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Medea-Figur nach, ohne sie vorschnell einzuebnen oder harmonisieren zu wollen. Sie macht damit in überzeugender Weise deutlich, dass gerade in der Vielfalt der Konfliktfelder, in die Figur eingebunden ist, eine wesentliche Ursache für die augenfällige Zunahme von Medea-Bearbeitungen in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. zu suchen ist. Zahlreiche Aspekte in der Geschichte der Grenzen überschreitenden und Grenzen sprengenden Medea – der Übergang von alten zu neuen (Familien-)Ordnungen, Migration und Fremdheit, Alter, Geschlechterkampf, Mütterlichkeit, Religion, Erotik und sexuelle Untreue, Macht und Verrat usw. – rühren an Grundvoraussetzungen unseres westlichen zivilisatorischen Selbstverständnisses und bieten Projektionsflächen und Diskursformen von enormer Aktualität.

Inge Stephans Buch selbst ist in mehrfacher Hinsicht und mit großem Ertrag grenzüberschreitend konzipiert. Der Schwerpunkt liegt auf Medea-Bearbeitungen des 20. Jhs., doch werden Zeugnisse aus früheren Jahrhunderten einbezogen, weil nur so die verschiedenen Facetten der Figur deutlich gemacht und der extreme Wandel der rezeptionsgeschichtlichen Deutungen aufgezeigt werden kann. Die Untersuchung ist nicht chronologisch aufgebaut, weder konzentriert auf einen Autor oder eine Autorengruppe noch auf eine Epoche, Nation oder Gattung beschränkt. Über den kleinen Kanon der literarischen Texte hinaus, die das Bild Medeas geprägt haben, wie Euripides‘ Medeia, Senecas Medea, Franz Grillparzers Das goldene Vließ (1821) oder Hans Henny Jahnns Medea (Urfassung 1924), werden nicht nur weniger bekannte Texte wie etwa die Medea-Dramen von Friedrich Maximilian von Klinger (Medea auf dem Kaukasus 1790) behandelt, sondern auch Werke wie beispielsweise Gertrud Kolmars Die Jüdische Mutter (1930/31), die traditionell nicht als Medea-Zeugnisse erkannt worden sind. Zudem werden impulsgebende Werke der bildenden Kunst und Musik einbezogen, wobei sich Stephan – die ein Werk aus Ruth Tesmars Medea-Zyklus (1997) für das Titelbild ihres Buches gewinnen konnte – auch als feinfühlige und kenntnisreiche Interpretatorin (post-)moderner Kunst erweist. Erstmals werden auch die Medea-Filme als Rezeptionszeugnisse umfassend gewürdigt, da in ihnen der durch Jahrhunderte latent geführte Kampf zwischen Archaisierung und Modernisierung des Mythos offen ausgetragen wird. Nicht zuletzt wird auch der Rekurs auf den Medea-Mythos im interkulturellen Diskurs und Austausch thematisiert, da spektakuläre Medea-Inszenierungen wie etwa in Japan oder Südafrika in besonderem Maße die Brisanz einer Figur vermitteln, die in den politischen Auseinandersetzungen des 20. Jhs. verstärkt international aufgerufen wird. Ein Ausblick ins 21. Jahrhundert, in dem eine immer stärkere Erosion des mythischen Kernbestands thematisiert wird, rundet das enorme Panorama der dargebotenen Medea-Bearbeitungen ab.

Medea als Bedrohung kultureller Ordnungen: die „wilde Frau“, die „böse Mutter“, die „fremde Andere“, die „gewalttätige Rächerin“

Inge Stephan strukturiert ihr überbordendes Material – man spürt, dass hier aus dem Fundus einer längeren, intensiven und ertragreichen Forschungsphase geschöpft wird, – entlang von vier großen Konfliktfeldern der Moderne, die in der Medea-Gestalt verkörpert werden (und die allesamt mit gender-Fragen aufs vielfältigste und intensivste verwoben sind): 1. Medea als positive oder negative Identifikationsfigur im „Kampf der Geschlechter“, insbesondere als Leit- oder Schreckbild weiblicher „Emanzipation“ im Kontext der neuen Frauenbewegung nach 1968; 2. Medea als Bewältigungsfigur, wenn politische und familiale Ordnungen in die Krise geraten, wie etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, als über die „Schuld“ der Mütter debattiert und „Mütterlichkeit“ neu valorisiert wurde; 3. Medea als zentrale Projektionsfigur in Debatten über Ethnizität und Rassismus, über abweichendes und fremdartiges Verhalten (nicht zufällig wird Medea, die bereits bei Euripides als Fremde und Ausländerin erscheint, im 20. Jh. häufig als Zigeunerin, Negerin oder Jüdin imaginiert oder als hybride Figur der Vermischung entworfen); 4. Medea als Reflexionsfigur in den Auseinandersetzungen um die Bedeutung von Gewalt und deren Legitimität, die mit ihren Taten in archaische Praktiken der Blutrache und des Menschenopfers zurückführt, die in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart eine bestürzende Aktualität gewonnen haben.

Angesichts der dargebotenen Fülle an Material und überzeugenden Analyseangeboten wagt die Rezensentin kaum anzumerken, dass ihr bisweilen eine umfassendere Verortung der so heterogenen Medea-Bearbeitungen in ihren (literar-)historischen und autorenspezifischen Kontexten, insbesondere jedoch in ihren gattungs- und medientheoretischen Rahmungen wünschenswert erschienen wäre. Stattdessen sei betont, dass das Buch – jenseits des darin vermittelten profunden Fachwissens – in enormem Maße anregt, sich weiter und tiefer mit der faszinierenden großen Kolcherin zu beschäftigen, einfach Lust macht, die vorgestellten Medea-Bearbeitungen umfassender kennen zu lernen und sich auf eigenständige Spurensuche zu begeben. In diesem Sinn legt Inge Stephan selbst eine äußerst kreative Medea-Bearbeitung vor, die zur Begegnung und Auseinandersetzung mit Medea inspiriert.

URN urn:nbn:de:0114-qn081035

Prof. Dr. Barbara Feichtinger

Universität Konstanz

E-Mail: barbara.feichtinger@uni-konstanz.de

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