Stefan Moses:
Ilse Aichinger.
Ein Bilderbuch von Stefan Moses.
Frankfurt am Main: Fischer 2006.
160 Seiten, ISBN 978–3–10–000528–1, € 29,90
Abstract: Das von Stefan Moses zusammengestellte „Bilderbuch“ zeigt Fotos von Ilse Aichinger. Sie selbst kommt durch eine Reihe von Geschichten und Gedichten zu Wort. In diesen intimen Dialog werden auch die Leser/-innen einbezogen. Das ermöglicht Annäherung.
Ilse Aichinger sitzt im Caféhaus. Sie schreibt. Ihre Augen sind auf das Blatt Papier gerichtet. Sie wirkt heiter. Die Fotos von Stefan Moses, der die Schriftstellerin seit vielen Jahren kennt, zeigen Ilse Aichinger sehr oft lachend. Manchmal wirkt sie verträumt oder auch nachdenklich, immer ist sie hellwach. Anrührend ein Bild aus dem Jahr 2006, das beide zeigt, den Fotografen und die Schriftstellerin: Sie sitzen in Rollstühlen auf einer Terrasse in Wien. Sie liest, er fotografiert (vgl. S. 134 ff.).
Zum 85. Geburtstag von Ilse Aichinger (geb. 1921) hat Stefan Moses (geb. 1928) Fotos und Texte der österreichischen Autorin zusammengestellt. Eingeleitet wird der vom Fischer Verlag sehr schön ausgestattete Band mit einem kurzen Essay von Horst Krüger:
„Wer Ilse Aichinger kennenlernen will, sollte sich Zeit nehmen. Einer, der unter der Tür, noch im Mantel und den nassen Schirm in der Hand, schon eine Antwort erwartet, wird enttäuscht werden. Er wird, durch den Türspalt hindurch, vielleicht das eine oder andere Detail erhaschen, aber nie wird sich ihm der gewaltige Imaginationsraum öffnen, der sich hinter dem Einlaß auftut. Es gibt die Zimmer der Kindheit, in denen das Sonnenlicht gehütet wird, und einen langen Korridor des Schreckens, der sich bis in die Nachkriegszeit erstreckt. Ein kleiner Raum ist ausschließlich Knöpfen vorbehalten, mit denen man Gedichte legen kann […]“ (S. 5)
Nach dieser Hommage an die Dichterin kommt sie selbst zu Wort: Eine Reihe ihrer Texte werden unkommentiert abgedruckt. Ich verstehe das als ein Angebot zum Dialog mit dem Leser, der Leserin. Die Autorin dabei vor Augen zu haben, empfinde ich als Ermunterung.
„Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr“ (S. 96), schreibt Aichinger in ihrem Band Schlechte Wörter von 1976. (In der Auflistung der Texte wurde dieses Werk vergessen; vgl. die „Editorische Notiz“ S. 160.) „Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind.“ (S. 99) Aichinger gilt als schwierige Autorin. Für eine Dichterin ist das wohl eher als Auszeichnung zu verstehen – Horst Krüger hat darauf hingewiesen. An Konkretion und Klarheit lässt sie es nicht missen.
Aichingers Schreiben zeigt eine ausgeprägte Tendenz zur Verknappung. Das ist bereits an der Bearbeitung ihres ersten und einzigen Romans Die größere Hoffnung (1948; 1960) festzustellen. Auf die erheblichen Textunterschiede dieser beiden Versionen wurde erst kürzlich von Hubert Roland und Anne-Françoise Zeevaert hingewiesen (vgl. Études Germaniques 61, 2006, S. 219–242). Aichingers „Poetik des Schweigens“ ist die Konsequenz einer entschiedenen Haltung gegen jede Form des Konformismus. „Gegen die sehr häufige Meinung des ‚So ist es eben‘, die, was sie vorfindet, fraglos akzeptiert. Die Welt verlangt danach, gekontert zu werden.“ So erläutert Aichinger ihre Position 1993 in einem Gespräch mit Brita Steinwendtner. Wie sich dieses Engagement mit reiner Poesie zu einer spezifischen Schreibweise verbindet, lässt sich in dem „Bilderbuch“ besonders gut an den Gedichten ablesen, die dem Band Verschenkter Rat (1978) entnommen sind. So etwa das Gedicht „Briefwechsel“:
„Wenn die Post nachts käme
und der Mond
schöbe die Kränkungen
unter die Tür:
Sie erschienen wie Engel
in ihren weißen Gewändern
und stünden still im Flur.“ (S. 124)
Das Widersprüchliche und Paradoxe gehört zum Grundbestand von Aichingers Schreiben. In ihrem Buch Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben (2001) fasst sie ihr autobiografisches Projekt unter dem programmatischen Titel „Journal des Verschwindens“ zusammen. Das Flüchtige wird fokussiert und in kurzen Notizen festgehalten. Einzelne Szenen der Vergangenheit werden ergänzt durch dokumentarisches Material, das nicht aus dem Leben der Schriftstellerin stammt, sondern aus ihrem Werk: Das Buch enthält eine Reihe von Texten Aichingers, die in der österreichischen Zeitung Standard zwischen 2000 und 2001 erschienen sind. In vielen dieser Feuilletons beschäftigte sie sich mit Filmen. Ihnen gehört die geheime Leidenschaft der Autorin.
„Stan Laurel und Oliver Hardy, immer noch im Imperialkino zu sehen, sind Extremformen einer ins Chaos kippenden Ordnung: der eine britisch und dünn, den Blick ratlos und verschleiert auf das Kinopublikum gerichtet oder quer hindurch, der andere wabbelig und ratlos, leicht in Wut zu bringen und ebenso leicht wieder heraus. Ihre Auftritte laufen nach dem Grundsatz ‚tit for tat‘ (‚Wie du mir, so ich dir‘), nicht gerade einem Ziel der christlichen Seefahrt, aber doch fürs erste eingängig.“ (S. 117)
Unter dem Begriff „Souveränität der Lächerlichkeit“ fasst Aichinger die berühmten Stummfilmkomiker Stan Laurel und Oliver Hardy ins Auge. Sie hat eine Vorliebe für Absonderlichkeiten, für absurde Situationen und Szenen, auch für das Unauffällige, das Kleine und vom Vergessen Bedrohte. Ihre literarischen Reisen gehen nicht ins Ferne und Fremde, sondern zeigen Einzelnes und Alltägliches in einem neuen, ungewohnten Licht. Ergänzt und unterstützt wird dieser „andere“ Blick durch Fotos von Bill Brandt, der die Texte von Ilse Aichinger begleitet. Zu diesen Bildern hat Aichinger eine besondere Affinität, die sie in Film und Verhängnis so erläutert:
„Sein Gefühl für ‚hiding‘ hält ihn von Hysterie ab. Sein Sinn für den diffizilen Wahn, der der Normalität gewachsen sein sollte, läßt ihn im Zustand eines klassischen Filmtitels: Eyes Wide Shut.“ (Film und Verhängnis, S. 104)
Der Bezug von Text und Bild, der Verweis auf andere Medien – die Fotografie, den Film oder auch die Musik – ist für Aichingers autobiografisches Buch Film und Verhängnis konstitutiv. In dem von Stefan Moses zusammengestellten „Bilderbuch“ dürften die Fotos von Ilse Aichinger und ihre Texte gleiches Gewicht beanspruchen. Die Erzählung „Mein grüner Esel“ (1962) wird begleitet von doppelseitigen Bildern, die den Kleiststeg über die Aspang-Bahn im 3. Bezirk Wiens zeigen. Wir sehen Ilse Aichinger über die Brücke gehen. Sie trägt einen Schirm. Ein Zug fährt durch. Die Autorin kommt zurück. Die Erzählung „Mein grüner Esel“ beginnt folgendermaßen:
„Ich sehe täglich einen grünen Esel über die Eisenbahnbrücke gehen, seine Hufe klappern auf den Bohlen, sein Kopf ragt über das Geländer. Ich weiß nicht, woher er kommt, ich konnte es noch nie beobachten. Ich vermute aber, aus dem aufgelassenen Elektrizitätswerk jenseits der Brücke, von wo die Straße pfeilgerade nach Nordwesten geht […].“ (S. 70)
In Einzelheiten stimmen Text und Bild überein: eine Fußgängerbrücke, Eisenbahnschienen, Elektrizitätsleitungen, Kommen und Gehen, ein Kopf, der über das Geländer ragt. Eine autobiografische Lektüre befördert diese Art der Beziehung von Text und Bild jedoch nicht, denn die Differenzen sind auffälliger. In dem schon erwähnten Gespräch mit Brita Steinwendtner hatte Ilse Aichinger betont: „Das Ich meiner Texte hat nichts mit meinem persönlichen Ich zu tun.“
Die Fotos von Stefan Moses zeigen die private Seite der Autorin. In ihren Texten hingegen entzieht sie sich, verweigert feste Zuschreibungen. „I’m glad, I’m not me“ (S. 84) – diese Zeile von Bob Dylan wählt Ilse Aichinger als Titel eines ihrer Feuilletons (2. 5. 2001), in dem sie davon berichtet, wie sie auf ihrer Lesereise in den USA 1967 den Sänger aufsucht, um für ihren Sohn ein Autogramm zu erbitten. Der Regen verwischt den Text. Lesbar bleibt allein die Signatur des Künstlers. Sie besiegelt den Bund mit dem Rezipienten, seien sie Leser/-innen, Hörer/-innen oder Betrachter/-innen. Das „Bilderbuch“ ermuntert uns, auf die „schlechten Wörter“ und den „verschenkten Rat“ zu hören.
Die von Aichinger mit Liebe und Strenge geprüfte Sprache begreift sich so schnell nicht zu Ende. Der von ihr verschenkte Rat ist in den Wind gesprochen. Die Fotografien von Stefan Moses zeigen uns Momentaufnahmen aus dem Leben der Schriftstellerin, eröffnen Einblicke in ihre Welt, die wir für Augenblicke teilen können: ein alter Bücherschrank, der knarrt und nach Äpfeln riecht, der Kai 1944, die Gonzgagasse, die Küche der Großmutter, Knöpfe und Flecken, von denen es in einer ihrer Geschichten heißt: „Vielleicht sind sie überhaupt Anfänge von Vorstellungen.“ (S. 7 f.) Ja, so ließe sich vielleicht beginnen.
URN urn:nbn:de:0114-qn081052
Prof. Dr. Carola Hilmes
Universität Frankfurt am Main, Institut für Deutsche Sprache und Literatur II
E-Mail: c.hilmes@lingua.uni-frankfurt.de
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