De-Ritualisierung

Rezension von Anna Voigt

Birgit Sauer, Eva-Maria Knoll (Hg.):

Ritualisierungen von Geschlecht.

Wien: WUV Verlag 2006.

246 Seiten, ISBN 978–3–85114–952–4, € 19,40.

Abstract: Im Rahmen des Gender Kollegs an der Universität Wien entstand der von Eva-Maria Knoll und Birgit Sauer herausgegebene Band, in dem Aspekte ritualähnlicher, performativer Einübungsformen von Geschlechtlichkeit dargestellt werden. In den Beiträgen wird eine Strategie einer beschreibenden De-Ritualisierung, einer Dekonstruktion der Ritualisierungsformen von Geschlecht verfolgt.

Standardisierung von Geschlechterrollen und Bildern

Die interdisziplinär zusammengestellten Artikel bieten einen Einblick in eine heterogene Forschung, die kontroverse feministische Ansichten und dekonstruktivistische Ansätze für die Analyse von komplexen Ritualisierungsvorgängen fruchtbar macht. In den Beiträgen wird der Allgegenwärtigkeit von Ritualen, in denen Geschlecht hergestellt wird und Geschlechterdichotomien reproduziert werden, nachgegangen. Die Herausgeberinnen weisen in ihrer Einleitung darauf hin, dass der Begriff des Rituals mit dem der Performanz und der Inszenierung zu den zentralen Denk- und Beschreibungsmodellen gehört, mit denen gesellschaftliche Vorgänge gefasst und hergestellt werden können. Für Andre Gingrich („Ritual und Geschlecht: kultur- und sozialanthropologische Einsichten zu einem Wechselverhältnis: Die formale Gleichstellung der Geschlechter“) liegt das entscheidende, innovative und kritische Potenzial der hier gestellten Forschungsfragen darin, dass sowohl die systemische Stabilisierung der vorherrschenden Geschlechterverhältnisse als auch deren grundlegende Veränderung ohne Rituale nicht denkbar seien.

Im ersten Kapitel („Ritualisierungen von Geschlecht als Körper-Techniken“) stellt Christina Lammer in ihrem Beitrag „Die durchschaubare Gebärmutter“ dar, wie am Uterus vorgenommene Operationen zu einer ritualisierten ‚Austrocknung‘ von Geschlecht führen können, da sie zwar kaum sichtbare Spuren auf der Körperoberfläche hinterlassen, aber häufig als sehr invasiv erlebt werden. Die Radiologie schaffe einen transparenten, durchschaubaren und ‚trockenen‘ Körper in Bewegung. In dem Aufsatz „Rituale der künstlichen Befruchtung: Dimensionen eines Erfolgsdiskurses und dessen Schattenseiten“ wird deutlich, dass die Biomedizin für ungewollt Kinderlose diskursiv als erste und häufig einzige Hilfsinstanz hergestellt werde und dass dabei die IVF-Behandlung als Übergangsritual eine sichere technologische Problemlösung in Aussicht stelle. Durch ein diffuses Schwangerschaftsgefühl und eine übersteigerte Erwartungshaltung werden Durchhalten und Weitermachen befördert, die bei Erfolgsraten von nur 25 bis 45 % nicht gerechtfertigt seien, so Eva-Maria Knoll.

Der Diskurs „Kopftuchdebatte“ wird von Monika Höglinger in ihrem Aufsatz „Verschleierte Frauen in Österreich“ analysiert. Sie stellt fest, dass hinter dem Austausch stereotyper Argumente die Welt des Islams als eine Möglichkeit der Heimat für Frauen verschwindet, deren Zugehörigkeit zu einer Minderheit durch Behandlung als „Andere“ von außen bereits vorweggenommen wurde.

Wissenschaft, Recht und Staatsbürgerschaft in den Medien

Das Thema des 2. Kapitels ist die Ritualisierung von Geschlecht in den Medien. Eva Flicker stellt ein männlich dominiertes System vor, in dem Weiblichkeit und Intelligenz inzwischen vereinbar seien, Weiblichkeit und Erfolg jedoch meist nicht. In ihrem Beitrag „Geschlechterritualisierungen in Spielfilmen mit Wissenschaftsthemen“ zeigt sie wiederkehrende Muster sexualisierter Körperlichkeit auf, die durch die auffällige „Verwendung“ des weiblichen Körpers unter Aspekten von Ästhetisierung deutlich werden. Die kompetenten Wissenschaftlerinnen in diesen Filmen könnten durchaus Intellekt und Sexualität miteinander vereinbaren, sie blieben gleichwohl einsame, traurige Heldinnen.

In dem Aufsatz „Die Gesetze unserer Väter – Das US-Rechtsmelodram als Ritualisierung vorbildlicher Staatsbürgerschaft“ stellt Bettina Scholdan heraus, dass eine Trennung in Gesetzesgerechtigkeit („männlich“) und rächende Gerechtigkeit außerhalb des Gerichtssaals („weiblich“) stattfindet. In ihrer Analyse von Figuren bei O’Shaughnessys und Scottolines im Vergleich zu Grishams Anwältinnen und Staatsanwälten macht sie klar, wie diese Figuren ihren Beitrag zur Deritualisierung männlich konnotierter Staatsbürgerschaft leisten, wie sie aber auch den Weg zur Neuritualisierung einer postfeministischen Weiblichkeit weisen, in der wunderschöne Superfrauen alles können. Martin Weidinger zeichnet in „The Man with the Gun – Rituale der Konstruktion von Geschlecht im amerikanischen Western“ die Dichotomisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit im amerikanischsten aller Genres nach. Die „frontier“-Mythologie stelle die Männlichkeit ins Zentrum und benötige Weiblichkeit, um diese zu konstruieren, diese Weiblichkeit wiederum werde an den Linien der Dichotomie zwischen Heiliger und Hure konstruiert. In den Beiträgen dieses Kapitels werden der weitere Forschungsbedarf und auch dessen Potentiale deutlich.

Fußball und Wellness

Das dritte Kapitel beinhaltet Texte zu Ritual-Arenen als Orten der Ritualisierung von Geschlecht. In dem Aufsatz „Lads vs. Metrosexuals – Fußball als „Maskulines Melodrama“ am Beispiel des Fowler-Le-Saux-Zwischenfalls“ von Georg Spitaler wird die Medienberichterstattung zu einem nicht geahndeten Foulspiel von Le Saux an seinem Gegenspieler Fowler als Resultat einer Reihe von homophoben Provokationen nachgezeichnet. Fußball biete eine Bühne, auf der sportliche Taten moralisch interpretiert werden und Definitionskämpfe um Männlichkeiten stattfinden. In „Heterotopien des Wohlfühlens. Analysen und Thesen zu Wellness“ stellen Elisabeth Futscher und Edith Futscher heraus, wie die Erlösung aus den irdischen An- und Überforderungen durch Wellness stattfinde. Das Selbstcoaching als totales Mobilmachen des unternehmerischen Selbst finde mit Wellness eine Popularisierung und damit Normalisierung. Damit einher gehe ein neues Verständnis von Freiheit, ein authentisches Selbst sei ständig gezwungen, frei zu sein und verantwortlich zu sein. Es wird jedoch zu wenig deutlich, welche Geschlechtervorstellungen hier konstruiert, reproduziert oder dekonstruiert werden sollen und inwiefern innerhalb des Wellness-Diskurses eine Symmetrisierung der Geschlechter oder ein Verschwinden von Geschlecht stattfindet.

Pornographie und Körper im so genannten Neoliberalismus

In Kapitel 4 („Staatsrituale als Ritualisierungen von Geschlecht“) bietet Elisabeth Holzleithner in ihrem Beitrag „Pornographie. Ritualisierungen des Sexuellen im Spiegel feministischer Theorien“ eine kritische Zusammenfassung des feministischen Pornographie-Diskurses. Negiert werde häufig in der Kritik der Pornographie, dass die Erfahrungen von Frauen unterschiedlich sind und auch in sich widersprüchlich sein können, da Frauen als Rezipientinnen keine reinen passiven Opfer der Gewalt der Bilder seien. Eine Studie von Larry Baron mache deutlich, dass politische Offenheit und Toleranz verantwortlich dafür sind, dass die Verbreitung von Pornographie mit größerer Geschlechtergleichheit korreliere. Die Korrelation sei somit komplexer als häufig im radikalfeministischen Diskurs behauptet werde. Die Autorin plädiert dafür, anzuerkennen, dass die Wahl von Pornodarstellerinnen, diese Lohnarbeit auszuüben, sich in einem kapitalistischen, patriarchalen und rassistischen System wenig von anderen unterscheidet, da ökonomische und sexuelle Ungleichheiten Ursachen sind, sich für Sexarbeit zu entscheiden. Deren Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern, solle Hauptanliegen feministischer Interventionen sein. Ritualisierte Bilder sexueller Begegnungen würden uns weiterhin begleiten, die Kompetenz im Umgang sowohl damit als auch in sexuellen Begegnungen solle durch eine Sexualerziehung erlernt werden, die vorherrschende Bilder des Sexuellen und ihre Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit hinterfragt. Bei der Kontrastierung der unterschiedlichen Herangehensweisen an pornographisches Material, dem ritualisierten Austausch von Argumenten, die aufeinander prallen ohne neue Erkenntnisse zu gewinnen, ist sie ganz nah bei der Analyse Höglingers zur Kopftuchdebatte. Die Rekonstruktion der Debatten und der Ausblick, was daraus für die feministische Bewegung gelernt werden kann, sind in beiden Artikeln gelungen. Die Überwindung des ritualisierten Austausches zwischen Feminist/-innen und die gewonnenen Erkenntnisse sollten als Grundlage für zukünftige Auseinandersetzungen dienen.

Eva Kreisky stellt in ihrem Aufsatz „Ermattete Staatskörper und (re-)vitalisierte Körpermärkte – Vergeschlechtliche Körperrituale im Neoliberalismus“ die These auf, das neoliberale Diktat sorge für einen Gesundheitsbegriff, der als privater Besitz gesehen und damit individuell zu pflegen sei. Fraglich ist, ob der „neue Kapitalismus“ nach Verbilligung der Arbeitskosten strebt und inwieweit dies einer kapitalistischen Produktionsweise inhärent und kein neues Phänomen des sogenannten Neoliberalismus ist. Die Erosion nationalstaatlicher Formationen sorgten für eine Notwendigkeit neuer Körperrituale, um eine Einheit eines cyborgisierten Volkskörpers herstellen zu können, so Kreisky in ihrem Fazit.

Die Relativierung aller Ritualisierungen von Geschlecht durch deren Dekonstruktion voranzutreiben, ist ein explizit politisches Vorgehen. Dieses wird von den Herausgeberinnen in der Einleitung proklamiert und von vielen Autor/-innen auch eingelöst. Häufig bleibt allerdings unklar, wie die gewonnen Erkenntnisse zu einer kritischen Perspektive beitragen können. Die Geschlechterstudien täten gut daran, Ritualisierungen weiter näher zu betrachten, um in der Analyse der Konstruktion von Geschlecht nicht zu vernachlässigen, dass ritualisierte Handlungen einen Großteil der Konstruktion übernehmen.

URN urn:nbn:de:0114-qn081181

Anna Voigt M.A.

Berlin

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