Lotte van de Pol:
Der Bürger und die Hure.
Das sündige Gewerbe im Amsterdam der Frühen Neuzeit.
Frankfurt am Main, New York: Campus 2006.
271 Seiten, ISBN 978–3–593–38209–8, € 29,90
Abstract: Lotte van de Pol entwirft kein pittoreskes Bild von der Geschichte der Prostitution in Amsterdam im 17. und 18. Jahrhundert, sondern eine auf vielfältigen Kontextualisierungen beruhende kritische Darstellung, die sich durch eine breite Quellengrundlage auszeichnet.
Lotte van de Pol, die ausgewiesene Kennerin der Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie der Geschichte der Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert, hat sich in ihrer „proefschrift“ mit einem bisher von der Geschichtswissenschaft noch wenig bearbeiteten Thema auseinandergesetzt. Das hier vorliegende Buch ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung dieser Habilitationsschrift, die 2005 auch auf Spanisch erschienen ist. Lotte van de Pol ist promovierte Historikerin, seit 2004 Gastwissenschaftlerin u. a. an der Freien Universität Berlin, und übt Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Erasmus-Universität Rotterdam, der Open Universiteit Heerlen, der Universität Utrecht und am International Institute of Social History in Amsterdam aus. Berühmt und in viele Sprache übersetzt ist ihre zus. mit Rudolf Dekker veröffentliche Untersuchung Frauen in Männerkleidern. Berlin 1990.
Zum vorliegenden neuen Buch von Lotte van de Pol sei vorweg bemerkt, dass sich diese Untersuchung sehr spannend liest, ohne dabei in voyeuristische Klischees zu verfallen. Maßgeblich dafür ist eine gründliche Untersuchung archivalischer Quellen aus der Rechtspraxis, nämlich Verhörprotokollen aus Amsterdam und Den Haag. Darüber hinaus zieht van de Pol eine Vielzahl populärer Schriften, Literatur und Bildquellen sowie Reisebeschreibungen heran, die sie im Text immer wieder mit den Verhörprotokollen kontrastiert.
In der Einleitung erläutert die Autorin den Sprachgebrauch. Die konsequente Verwendung des Hurereibegriffs wird mit dessen zeitgenössischem Gebrauch erklärt. Anschließend daran erfolgt eine Beschreibung und kritische Bewertung der herangezogenen Quellen.
Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert, die religiöse und politische Einstellungen, das ökonomische Umfeld und vor allem die involvierten Personenkreise beschreiben. Wie schwer der zahlenmäßige Umfang der Prostitution – bis auf den heutigen Tag – festzustellen ist, wird bereits im ersten Kapitel deutlich. Die Zahlen für Paris übertrafen jene für Amsterdam und London bei weitem. Die hierarchische Einteilung der Prostituierten ist in der ‚Realität’ (damit sind die Verhörprotokolle gemeint) meist recht kompliziert, da die Flexibilität der Berufsarbeit der involvierten Frauen eine Rolle spielte. Nicht so sehr in Amsterdam, sondern vor allem in Den Haag stellten Kurtisanen und Mätressen die Oberschicht der Prostituierten dar. Die Betreiberinnen von Hurenhäusern waren vor allem Frauen, im Verlauf des 18. Jahrhunderts änderte sich dies jedoch und führte zu einer verstärkten Rolle von Männern in der Organisation von Prostitution. Die Autorin beschreibt die Unterschiedlichkeit und den Variantenreichtum der Hurenhäuser. Je nach Nachfrage fanden sich so genannte „Holhuren“; spezifisch für Amsterdam waren außerdem die davon völlig getrennten berühmten Spielhäuser sowie die Spinnhäuser. Stadtsanierung und Straßenbeleuchtung führten zu den Neuverortungen von Prostitutionsbereichen in den Armenvierteln. Die veränderte Politik der Obrigkeit bewirkte im Verlauf des 17./18. Jahrhunderts eine Zurückdrängung der Spielhäuser und im Nebeneffekt auch ein Ausbleiben von Touristen. Das veränderte gleichzeitig den sozialen Einzugsbereich, aus dem die Kunden stammten. Die Autorin kann nachweisen, dass sich die Elite von den Spielhäusern abwandte, was im Zusammenhang mit der dort vorkommenden Gewalt stand.
Als zentral für die Beschäftigung mit Prostitution wird im folgenden Kapitel der komplexe Themenbereich der Ehre behandelt. Ehre stand im Zusammenhang mit sozialer Stratifikation wurde in besonderer Weise im Sprachgebrauch hergestellt, was sich nicht nur in populärer Literatur, sondern auch in den Gerichtsprotokollen niederschlägt. Frauen und Männer werden darin mit geschlechtsspezifischen Schmähworten bedacht. Aus Sichtweise der ‚ehrenwerten Bürger‘ stellte sich die Ehre der Randgruppen als Umkehrung ihrer eigenen Ehrbegriffe dar. Die Selbstsicht der Prostituierten wiederum war durchaus stark an ‚bürgerliche‘ Normen angelehnt. In den Verhörprotokollen sind Nachbarschaftskonflikte ebenso wie die Billigung der Prostitution zu finden, wobei eine Grenzziehung zwischen ehrbar und unehrenhaft bedeutungsvoll erscheint. Die Verhörprotokolle verweisen auch auf bevorzugte Orte der Prostitution, in diesem Fall die Jonker- und die Ridderstraat, zwei lange, parallel verlaufende Verbindungsstraßen in Amsterdam.
Die zeitgenössischen Einstellungen gegenüber Prostitution, Prostituierten und Frauen werden im dritten Kapitel untersucht. Als besonders ausgeprägt hebt die Autorin die Abneigung gegen stille, also heimliche Huren hervor. Von christlicher Lehre beeinflusste Einstellungen waren starken Veränderungen unterworfen. Van de Pol beschreibt die Angst der Niederländer vor der Strafe Gottes als sehr ausgeprägt, diese Angst stand später auch in Verbindung mit dem Auftreten der Syphilis. Vor allem für das 17. Jahrhundert stellt die Autorin eine harte und abweisende Haltung gegenüber den Prostituierten fest, die – beispielsweise in der Literatur – als heuchlerisch, durchtrieben und geldgierig dargestellt wurden. Besondere Bedeutung wird der Interpretation von so genannter „Hurenliteratur“ beigemessen, die weite Verbreitung und hohe Auflagen fand und die die zeitgenössische Frauenfeindlichkeit bezeugt. Die Autorin geht auch auf den – nur spärlich dokumentierten – Blick von Frauen des 17./18. Jahrhunderts auf die Prostitution ein sowie auf die zwiespältige Haltung der männlichen Kunden.
Die Hintergründe der Verfolgungspolitik kommen im vierten Kapitel zur Sprache. Ausgehend von der Gesetzgebung werden der juristische Apparat und das gerichtliche Vorgehen, das Vorkommen von Untersuchungshaft sowie die Muster im Strafmaß behandelt. Einen besonderen Platz nimmt in der Darstellung das Spinnhaus ein, das rasch zu einem Strafgefängnis wurde. Anhand der quantitativen Auswertung der Verhörprotokolle werden Veränderungen in der Politik gegenüber der Prostitution, die von einer aktiven Verfolgung im 17. Jahrhundert zu weitgehender Toleranz im 18. Jahrhundert reichen, verdeutlicht.
Das fünfte Kapitel ist der Auseinandersetzung mit der Verfolgungspolitik gewidmet. Eine Analyse des Polizeiapparats, der aufgrund seiner Nähe zur Prostitution einen schlechten Ruf bei der Bevölkerung genoss, steht im Mittelpunkt diese Abschnitts. Lotte van de Pol betrachtet das Abkaufsystem für Ehebruchsdelikte. Korruption spielte vor allem bei den von ihr erwähnten Erpressungsaffären von 1738 und 1739, in die ein Polizeibeamter und ein Westfriesischer Heubauer involviert waren, eine Rolle.
Im Folgenden verknüpft die Autorin Erkenntnisse über die Prostituierten und ihre Kunden mit Ergebnissen der Demographie und Migrationsforschung, um die in den Protokollen aufscheinenden Sozialprofile der Prostituierten zu bestimmen. Ihr Augenmerk gilt dabei speziell dem Zusammenhang der Prostitution mit der Ostindienfahrt sowie der sozialen Gruppe der Seeleute und deren Lebensverhältnissen.
Im siebten Kapitel wird die vielfältige Verbindung zwischen Ökonomie und Sexualität behandelt, wobei Prostitution als vorindustrielles Gewerbe betrachtet wird. Die Arbeitsvereinbarungen der einzelnen Prostituierten waren durchaus unterschiedlich. Dem für die Frühe Neuzeit so wichtigen Themenkomplex der Schulden kommt auch in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu. Das Vorkommen unterschiedlicher Formen der Kundenwerbung und eine große Variationsbreite bei Verhandlungen um Geld für Sex verweisen auf zeitgenössische ökonomische Strukturen.
Insgesamt überwiegt der positive Eindruck dieses Buches, das vor allem durch die vielfältigen Verknüpfungen mit der Ökonomie und mit zeitgenössischen moralischen Einstellungen den Bereich der Prostitution vom Randthema der Kulturgeschichte in den Fokus einer Allgemeingeschichte rückt. Angemerkt sei lediglich, dass vereinzelt Begriffe unerklärt bleiben wie beispielsweise Treckschute (S. 94) oder „Hurengänger“ (S. 170) für Kunde, was möglicherweise an der Übersetzung liegt. Zur räumlichen Orientierung all jener Leser/-innen, die den Stadtplan von Amsterdam nicht vor sich haben, wären Karten mit sozialtopographischen Angaben hilfreich gewesen.
URN urn:nbn:de:0114-qn081112
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