Ulrike Vogel (Hg.):
Wege in die Soziologie und die Frauen- und Geschlechterforschung.
Autobiographische Notizen der ersten Generation von Professorinnen an der Universität.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006.
320 Seiten, ISBN 978–3–531–14966–0, € 24,90.
Abstract: Dieser längst überfällige, spannende und gut lesbare Sammelband bereichert die Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Soziologie wie der Frauen- und Geschlechterforschung. Er trägt mit 23 autobiographischen Skizzen sowie einem kommentierenden Vor- und Nachwort der Herausgeberin dazu bei, die bisherige Hoch-Zeit der Soziologie in der deutschen Universität aus Sicht von Wissenschaftlerinnen in Spitzenpositionen lebendig werden zu lassen, und schreibt die an dem Band beteiligten Professorinnen zugleich mit ihren Lebenswerken in diese Geschichte ein. Dabei wird deutlich, wie vielfältig die (Karriere- und Lebens-)Wege dieser „ersten Generation von Professorinnen“, aber auch die Bezüge zwischen Soziologie bzw. Sozialwissenschaften und der Frauen- und Geschlechterforschung sind.
Als eines der wichtigsten Anliegen am Ende ihrer Berufslaufbahn sieht es die Braunschweiger Soziologieprofessorin Ulrike Vogel an, „Frauen mit ihren Leistungen und Anliegen sichtbar zu machen, zu verhindern, dass sie ‚vergessen‘ werden“ (S. 98). Dieses Schicksal, nicht zur Kenntnis genommen zu werden bzw. ‚vergessen‘ zu werden, sei auch eine Gefahr für die Frauen- und Geschlechterforschung. Folglich soll der von ihr herausgegebene Sammelband „in besonderem Maß diesem Ziel des Sichtbarmachens von Frauen dienen und dem ‚Vergessen‘ entgegenwirken“ (S. 99).
Mit dem vorliegenden Band werden autobiographische Schlaglichter auf 23 unterschiedliche (Karriere- und Lebens-)Wege von Professorinnen der Soziologie bzw. Sozialwissenschaften geworfen, die zwischen 1935 und 1949 geboren sind, zu Fragen der Frauen- und Geschlechterforschung publiziert haben und sich als Repräsentantinnen dieses Wissenschaftsgebiets sehen: Rosemarie Nave-Herz, Ingrid N. Sommerkorn, Regina Becker-Schmidt, Ute Gerhard, Helga Krüger, Sigrid Metz-Göckel, Ulrike Vogel, Ilse Dröge-Modelmog, Irene Dölling, Carol Hagemann-White, Marianne Rodenstein, Eva Senghaas-Knobloch, Karin Flaake, Gudrun-Axeli Knapp, Tilla Siegel, Sabine Gensior, Elisabeth Beck-Gernsheim, Doris Janshen, Helgard Kramer, Ilona Ostner, Ilse Lenz, Hildegard Maria Nickel und Ursula Müller. Neun weitere angefragte Professorinnen sagten ihre Beteiligung am Buchprojekt aus Zeitmangel oder Altersgründen ab oder weil sie sich nicht als Frauen- und Geschlechterforscherin sehen.
Diese autobiographischen Notizen, die jede für sich ein Stück Wissenschaftsgeschichte in Gestalt der jeweiligen Autorin lebendig machen und darüber hinaus überaus kurzweilig zu lesen sind, bilden das Herzstück des Bandes. Abgerundet wird das Buch durch ein Vorwort der Herausgeberin, in dem sie die Konzeption der Veröffentlichung vorstellt, und durch ein ebenfalls von ihr verfasstes Nachwort, in dem sie aus den Beiträgen der Professorinnen Gemeinsamkeiten herausarbeitet, Bezüge zwischen soziologischen Ansätzen und der Frauen- und Geschlechterforschung herstellt sowie Ergebnisse eines Workshops mit den Autorinnen zur weiteren Entwicklung der Frauen- und Geschlechterforschung in ihrer Beziehung zur Soziologie präsentiert. Schließlich enthält der Band noch bebilderte Kurzangaben zu allen Autorinnen, was ihn dann vollends zu einem wichtigen und interessanten Nachschlagewerk macht.
In Anlehnung an den Generationenbegriff von Karl Mannheim bezeichnet Vogel die genannten Professorinnen als „erste Generation von Frauen auf Professuren der Soziologie bzw. der Sozialwissenschaften, die sich der Frauen- und Geschlechterforschung zugewandt hat“ (S. 10). Sie verbinde ein „gemeinsamer historisch-sozialer Lebensraum“ (Mannheim): Diesen sieht Vogel erstens in der institutionellen Expansion der Soziologie an den Universitäten der 1960er und 1970er Jahre sowie in der Neuen Frauenbewegung, die günstige Rahmenbedingungen für Wissenschaftskarrieren von Frauen abgaben, wie etwa die Biographien von Ingrid N. Sommerkorn und Helga Krüger verdeutlichen. Zweitens zeichne die Professorinnen eine „prinzipielle Geradlinigkeit“ (S. 292) in den wissenschaftlichen Karrierewegen aus, die sie trotz individuell unterschiedlicher Bildungsbiographien und familiärer Herkunftsbedingungen (z. T. Vertriebene, Herkunft aus Arbeiterfamilien, DDR-Sozialisation) verbinde. Und drittens seien alle diese Frauen mit ihrer Professur und ihrem Wirken in der Soziologie bzw. den Sozialwissenschaften und der Frauen- und Geschlechterforschung „Pionierinnen“ (S. 293) bzw. „Begründerinnen“ (S. 13), denn sie hätten „einen neuen Wissenschaftsbereich, die Frauen- und Geschlechterforschung, an Hochschulen eingeführt“ (S. 9). Die Verknüpfung von zeit- und wissenschaftsgeschichtlichen Schilderungen, persönlichen Erfahrungen und eigenen Beiträgen zur Soziologie und zur Frauen- und Geschlechterforschung macht die Beiträge der Professorinnen ausgesprochen lesenswert, auch über ein Interesse an den einzelnen Biographien hinaus.
Die von den Autorinnen angesprochenen Bezüge zwischen der Soziologie bzw. den Sozialwissenschaften und der Frauen- und Geschlechterforschung sind vielfältig. Nicht zuletzt in diesen Ausführungen wird die Geschichte der Frauen- und Geschlechterforschung mit ihren Kontroversen wieder gegenwärtig, so etwa, um nur einige Beispiele herauszugreifen, wenn Rosemarie Nave-Herz beschreibt, dass sie anfänglich für den Begriff „Geschlechtersoziologie“ gewesen sei, dann aber durch ihre Geschichte mit der Beschäftigung der Geschichte der Frauenbewegung den Begriff „Frauenforschung“ zu akzeptieren lernte (vgl. S. 19 f.); wenn Regina Becker-Schmidt die Entfaltung ihrer „feministischen Theoreme“ (S. 42) schildert; wenn Irene Dölling den von ihr 1980 gegründeten halboffiziellen Arbeitskreis „Kulturhistorische und kulturtheoretische Aspekte von Geschlechterverhältnissen“ vorstellt, der über neun Jahre hinweg in ihrer Wohnung tagte (vgl. S. 119); wenn Marianne Rodenstein die Zweigleisigkeit ihrer stadtsoziologischen Forschungen („mit und ohne feministischen Ansatz“) reflektiert (S. 143) oder wenn Ursula Müller schreibt, dass die Frauenforschung in ihrem Verständnis immer schon Geschlechterforschung gewesen sei (vgl. S. 284). In diesen wenigen Beispielen werden sehr unterschiedliche Sichtweisen auf die Frauen- und Geschlechterforschung, aber auch auf deren Bezüge zur Soziologie bzw. zu den Sozialwissenschaften deutlich, die die wissenschaftshistorische und -theoretische Vielfalt der aktuell existierenden Sichtweisen zu diesen Bezügen widerspiegeln und einen Fundus für weitere Forschungen zur Konturierung dieses Wissenschaftsbereichs darstellen. Diese Perspektivenvielfalt prägte ebenfalls den Workshop, den Ulrike Vogel mit den Autorinnen zur weiteren Entwicklung der Frauen- und Geschlechterforschung in ihrer Beziehung zur Soziologie am 27. Januar 2006 an der Technischen Universität Braunschweig durchführte.
Die beeindruckende Namensliste der Beiträgerinnen dieses längst überfälligen Sammelbandes weist aber auch darauf hin, welche Frauen mit und in dem Band nicht sichtbar gemacht werden: Die fehlenden Fachhochschulprofessorinnen werden von der Herausgeberin zwar gesehen, aber nicht angesprochen, die Professorinnen im deutschsprachigen Ausland (Österreich, Schweiz), die den deutschen Diskurs der Frauen- und Geschlechterforschung in Bezug zur Soziologie bzw. zu den Sozialwissenschaften ebenfalls mit geprägt haben bzw. prägen, bleiben angesichts der Konzentration des Bandes auf den nationalstaatlichen Kontext der deutschen Universität unberücksichtigt. Im Sinne des Sichtbarmachens wäre es zumindest hilfreich gewesen, wenn ihre Namen genannt worden wären.
Den Anspruch des Bandes beschreibt Ulrike Vogel schließlich wie folgt. „[…] wichtig ist mir, dass die Leistungen dieser Frauen als Hochschullehrerinnen deutlich werden.“ (S. 99) Die Perspektive der Hochschullehre fehlt in den meisten Beiträgen jedoch gänzlich und lässt die Orientierung der deutschen Universität, d. h. die Hochschätzung von Forschung bei gleichzeitiger Geringschätzung von Lehre auch bei den beteiligten Professorinnen einmal mehr lebendig werden: In den autobiographischen Notizen werden vor allem die Forschungsleistungen in Gestalt von durch die jeweilige Autorin begründeten Ansätzen, von ihr verfassten Büchern oder etwa durchgeführten Projekten geschildert. Ihre Leistungen in der Qualifizierung und Platzierung des (weiblichen) wissenschaftlichen Nachwuchses, die doch bekanntermaßen eine wichtige Funktion für die Weitergabe und damit die Tradierung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Wissensgebiete haben, werden aber nicht benannt. Um nachhaltig dem ‚Vergessen‘ der Frauen- und Geschlechterforschung entgegenzuwirken, wäre es jedoch wichtig, nicht nur die vorangegangene Generation, etwa in Gestalt von Helge Pross oder Theodor W. Adorno, die beide mehrfach genannt werden, zu würdigen, sondern auch die nachfolgende in den Blick zu nehmen.
URN urn:nbn:de:0114-qn081087
Dr. Heike Kahlert
Universität Rostock, Institut für Soziologie und Demographie
E-Mail: heike.kahlert@uni-rostock.de
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