Dehnung des Diskurses – Therese Hubers Beziehungsmodell

Rezension von Barbara Gribnitz

Petra Wulbusch:

Therese Huber und Emil von Herder.

Zum Geschlechterdiskurs um 1800.

Tübingen: Niemeyer 2005.

324 Seiten, ISBN 978–3–484–32124–3, € 46,00.

Abstract: In der Dissertation aus dem Umfeld der Osnabrücker „Arbeitsstelle Therese Huber“ wird am Beispiel des Briefwechsels Therese Hubers mit Emil von Herder nach dem „kreativen Potential des Subjekts“ (S. 5) im Umgang mit dem Geschlechterdiskurs gefragt. Wulbusch analysiert Therese Hubers Beziehungsmodell, dessen Ziel es war, ‚weibliche‘ Freiräume, die jedoch die Geschlechterhierarchie nicht verletzen, zu schaffen. Eine interessante Studie, der eine klarere begrifflich-methodische Durchdringung zu wünschen gewesen wäre.

Indem die Verfasserin das weitgehend unbekannte Briefwerk Therese Hubers und deren Verhältnis zum Schwiegersohn Emil von Herder in den Mittelpunkt rückt, eröffnet sich ihr ein neues und spannendes Untersuchungsfeld. Sie will „mikroanalytisch in eine solche Mutter-Sohn-Beziehung hinein[zu]leuchten“, die sie als „eingebunden in verschiedene Diskurse: über Liebe, Mutterliebe, Freundschaft und Geschlecht“ betrachtet (S. 3). Dabei soll nach den Widersprüchen zwischen den Diskursen und innerhalb eines Diskurses gefragt werden, denn diese Widersprüche erlaubten dem Subjekt, welches zwar vom Diskurs hervorgebracht, aber nicht determiniert werde, sich Handlungsspielräume zu schaffen (vgl. S. 4 f.). Den Diskurs bzw. die Diskurse repräsentieren vier einschlägige Texte (Rousseau, Campe, Brandes, Pockels), wobei die Besonderheit, „daß eine Mann-Frau-Beziehung hier als eine Mutter-Sohn-Verbindung bestimmt und gelebt wurde“ und die dominante Mutter nicht dem Frauenideal entsprach, die Beziehung Therese Huber – Emil von Herder prädestiniere, die Regeln und Grenzziehungen der Diskurse sichtbar werden zu lassen (vgl. S. 7).

Biographische Annäherung

Während sich die Verfasserin mit einem kurzen Nachzeichnen der bekannten „Lebensphasen“ Therese Hubers begnügt, widmet sie den „Lebensspuren“ Emil von Herders das mit Abstand umfangreichste Teilkapitel (50 S.). Als 1806 die nur acht Jahre später mit einem Bruch endende intensive Beziehung begann, standen sich also eine 41jährige lebenserfahrene, erfolgreich tätige Schriftstellerin und ein 22jähriger labiler, um Anerkennung ringender Forstbeamter ohne berufliche Aufgabe gegenüber. Die Konstellation dominierende Frau – abhängiger Mann widersprach aber den herrschenden Vorstellungen einer Geschlechterhierarchie, und so ergibt sich „die für diese Arbeit zentrale Frage nach der Art und Weise, wie die Beteiligten sich zu diesem Widerspruch stellten, ihn argumentativ aufarbeiteten“ (S. 72). Hier deutet sich ein methodologisches Problem an. Ungeachtet der einleitenden Aussagen, nach denen Leserin und Leser wissen, dass diese argumentative Aufarbeitung im Mutter-Sohn-Modell besteht und eine Analyse dieser Überlagerung erwarten, versucht die Verfasserin, eine Art Spannung im weiteren Untersuchungsverlauf aufzubauen, der über die Diskussion der Konzepte Freundschaft, Herrschaft, Geschlecht, Bildung durchaus folgerichtig in die Thematik Muttermacht – Mutterliebe mündet. Diese Vorgehensweise zwingt sie jedoch, die jeweils aufgeworfene Problematik in beschränkter Perspektive zu diskutieren. Zudem erzeugt sie die Illusion einer linearen Abfolge, als ob Therese Huber und Emil von Herder zunächst eine Mann-Frau-Beziehung probiert hätten und nach deren Scheitern dann zum Mutter-Sohn-Modell übergegangen wären (einmal wird dies sogar explizit ausgesprochen, vgl. S. 229). Damit widerspricht die Verfasserin aber nicht nur ihrem selbstgesteckten Arbeitsziel, sondern auch ihrem Textkorpus: Schon in den ersten Briefen aus dem Jahr 1806 inszeniert sich Therese Huber als „neue Mutter“ und von Herder als „durch Dein Alter mir zum Sohn gegeben“ oder „theures Kind“ (Therese Huber: Briefe. Bd. 2: 1804-Juni 1807. Bearb. von Magdalene Heuser, Petra Wulbusch u.a. Tübingen 2003, Nr. 207, 213).

Der primäre Grund für das Scheitern der Beziehung liege in der Persönlichkeit Therese Hubers, deren Selbstdarstellung: „‚stark und doch weiblich‘“ lautete (S. 79). Dem Bekennen einer ihr laut Geschlechterdiskurs nicht zustehenden Stärke ließ sie die Versicherung folgen, trotzdem weiblich zu sein – ein diskurskonformes und dennoch emanzipatorisches Denken (vgl. S. 80). Die Auflösung dieses Widerspruchs sah Therese Huber in der Beziehung zu einem stärkeren Mann: „Der stärkere Mann konnte ihr sowohl das Festhalten an ihrem Selbstbild als ‚stark‘ als auch an der Geschlechterordnung ermöglichen, in der sie ihre Identität als ‚weiblich‘ verankert sah. Die Verantwortung für die Einhaltung der Diskurskonformität lag somit nicht mehr bei ihr, sondern bei jenem Mann, dem die von ihr zugedachte Rolle zufiel“ (S. 81). Damit ist die zentrale Aussage der Untersuchung benannt, die folgenden Kapitel dienen der Ausformung dieses besonderen Beziehungsmodells.

Freundschaft, Herrschaft, Geschlecht, Bildung

Der dem Konzept Freundschaft gewidmete Teil des Bandes erbringt dementsprechend das Ergebnis, dass Therese Huber Freundschaften zwischen Frauen verwerfe, weil in dieser Beziehung unter Gleichen keine Regeln, sondern Anarchie und Uneindeutigkeit herrschen. Hingegen erfahre sie in der hierarchisch geordneten Beziehung zu Männern Anerkennung, Freiheit und Macht, solange sie ihrerseits den Vertrag erfüllt: Ist sie liebenswürdig, wie ihr Geschlecht es verlangt, darf sie auch herrschen, weil sie sich ihrer Unterwerfung unter die Männer stets bewusst ist, und sie ist frei, weil sie die Regeln kennt. Folgerichtig untersucht die Verfasserin im nächsten Kapitel den Aspekt Herrschaft und unterlegt Therese Hubers Modell Rousseaus Ausführungen als Folie. Überzeugend markiert sie die Unterschiede: Rousseaus Emile befiehlt, Therese Huber praktiziert einen vorauseilenden Gehorsam, der Freiheit durch die Umwandlung des fremden Willens in den eigenen herstellt, die männliche Autorität als letzte Instanz tritt hinter die gemeinsame Sache (Ehe) zurück, die der Frau eine gewisse Unabhängigkeit garantiert, und wenn bei Rousseau aggressives Verhalten in Konfliktsituationen durchaus als möglich und männlich gilt, so plädiert Therese Huber für eine männliche Herrschaft der überlegenen Güte und Klugheit. Ein Zitat aus einem Brief an von Herder akzentuiert diesen letzten Punkt: „‚Es ist nicht männlich, weil wir gegen Dich nicht stehen können ohne unweiblich zu sein‘“; jedes Verhalten, das eine unweibliche Reaktion hervorruft, ist unmännlich (S. 116). Therese Hubers Vorstellung von männlicher Herrschaft durch überlegene Güte und Klugheit ist das Pendant zu Rousseaus weiblicher Herrschaft durch Sanftmut und wird durch die gleiche Strategie produziert: Grenzziehung bei gleichzeitigem Versprechen von Macht, die sich jedoch als Ohnmacht entpuppt, weil sie die Anerkennung der Grenze voraussetzt: „Wenn er sich ‚überlegen gütig und klug‘ verhält, kann er herrschen, so die Verheißung; verhält er sich aber so, verfügt er de facto über keine Macht“ (S. 120).

Die folgenden Abschnitte über Geschlecht und Bildung referieren zeitgenössische Ansichten, um sie Therese Hubers Bild des sanften Mannes als starke Persönlichkeit, zu der jeder Mann erzogen werden müsse, gegenüberzustellen.

Muttermacht, Mutterliebe

Der Aspekt Erziehung führt zur Problematik der mütterlichen Macht. Während der Frau bloßes einfühlendes Helfen zukomme, habe eine Mutter nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, Kritik zu äußern, die der Sohn zwar anzuhören habe, doch als „‚freier Mann‘“ müsse er seine Entscheidung mit „‚unbefangener Ueberlegenheit‘“ treffen (1807, vgl. S. 237). Auf dieses stete Kritisieren reagierte von Herder mit einem Angriff auf Therese Hubers Position als Frau („‚außer der Schranken des Geschlechts‘“) und einer Grenzziehung (1812, vgl. S. 238). Therese Hubers Antwort definiert die Rechte der Liebe und damit der Mutter als grenzen- und schrankenlos. Ein Jahr später formuliert sie dann erst- und letztmalig, vorsichtig und indirekt die Pflicht des Kindes zur Unterordnung am Beispiel ihrer eigenen unter den Vater und interpretiert von Herders vorausgehende Entschuldigung als kindliche Nachgiebigkeit und Anerkennung ihres Oberrechts. Die Überlagerung der Rollen Mutter-Frau bzw. Sohn-Mann wird deutlich, wenn Therese Huber zum einen vom Sohn als ihrem Herrn spricht: „Erst als sie sich selbst zur Schwächeren erklärt, ist sie bereit, sich das Recht zu erteilen – genauer gesagt: sich durch Herder das Recht erteilen zu lassen –, von ihm Nachgiebigkeit fordern zu können“ (S. 243), und zum anderen die mütterliche Macht der väterlichen Macht analog setzt – ein erneuter „Versuch einer Zusammenführung von ‚weiblicher‘ Identität und ‚männlicher‘ Autorität“ (S. 243).

Medium Brief

In einem letzten Kapitel behandelt die Verfasserin das Kommunikationsmedium Brief im Zusammenhang mit den Festschreibungen ‚weiblichen‘ Verhaltens, welches Gesehenwerden und Sehen voraussetzt (Rousseau). So erlaube der Brief der Schreiberin eine aktive Rolle, indem sie den Adressaten als Projektionsfläche benutze (Briefwechsel Therese Hubers mit Reinhold), oder biete ihr eine geschlechtstypische Rückzugsmöglichkeit, indem sie Verletzungen durch Worte dem Medium und nicht dem Schreiber anrechne (Briefwechsel mit von Herder).

Schluss

Die allzu allgemeinen Schlussbemerkungen, der Geschlechterdiskurs um 1800 sei ein vielschichtiger, gebrochener und die Korrespondenz Therese Huber – Emil von Herder ein originärer Beitrag dazu (vgl. S. 298, 301), verhindern leider eine zusammen- und weiterführende Diskussion der aufschlussreichen, aber verstreuten Ergebnisse hinsichtlich des diskursdehnenden Beziehungsmodells starke Frau – stärkerer Mann. Einen interessanten Anstoß zum Weiterdenken gibt die Verfasserin, wenn sie einen Brief heranzieht, in welchem Therese Huber das Verhältnis zu ihrer Tochter Luise von Herder als Mann-Frau-Relation beschreibt: Damit löse sie die Geschlechterordnung von der biologischen Basis und nutze sie als bloßes Deutungsmuster (vgl. S. 299).

URN urn:nbn:de:0114-qn081041

Dr. Barbara Gribnitz

Kleist-Museum, Frankfurt (Oder)

E-Mail: gribnitz-b@gmx.de

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