Maria Anna Kreienbaum, Tamina Urbaniak:
Jungen und Mädchen in der Schule.
Konzepte der Koedukation.
Berlin: Cornelsen Scriptor 2006.
160 Seiten, ISBN 978–3–589–22141–7, € 16,95
Abstract: Was ist reflexive Koedukation? Es ist eine Pädagogik „aufgeklärter Heterogenität“ (Annedore Prengel), die über die Diskussion der Geschlechterfrage an der Schule und auch über bloß formale Gleichheit (z. B. im Geschlechterverhältnis) hinaus differenzierte pädagogische Handlungsperspektiven im Umgang mit Vielfalt/Differenzen im Schulalltag eröffnen will. Ihr Ziel ist es, „gute Bedingungen für Lernprozesse“ (Kreienbaum/Urbaniak) zu schaffen, die individuelle Freiheit, Kreativität und Entwicklungsprozesse von Kindern und Jugendlichen im Interesse der Herstellung von Chancengleichheit ermöglichen.
Das vorliegende und bereits in seinem Erscheinungsjahr in 4. Auflage gedruckte Buch von Maria Anna Kreienbaum und Tamina Urbaniak ist ein empfehlenswertes Studienbuch, das in einer zugänglichen Sprache kurzer Sätze und nötigster Fremdwörter geschrieben ist. Es bietet einen zügigen Durchgang durch die Geschichte der Koedukation in Deutschland vor dem Hintergrund der Frauenbildungsgeschichte. Dabei werden der neueste Forschungsstand (konstruktivistische Perspektive) sowie die nunmehr seit 30 Jahren existierende feministische Schul- und Bildungsforschung und die pädagogische (Frauen- und) Geschlechterforschung berücksichtigt.
Wie in jedem Studienbuch wird auch in diesem Bilanz gezogen. Kreienbaum und Urbaniak versuchen, Ergebnisse und Diskussionen zusammenzufassen, und vermitteln dabei in vier großen Schritten einen Überblick:
Im ersten Schritt wird die Geschichte der Mädchenbildung mit einer Geschichte der Schulformen und Bildungsreformen in Deutschland seit Ende des 19. Jahrhunderts verbunden, und es werden dabei auch die bedeutenden Forderungen und politischen Interventionen der historischen Frauen(bildungs-)bewegung einbezogen. Im zweiten Schritt kommen neben der Darstellung der Ziele und Erfahrungen von Mädchenförderung die „Jungen“ (S. 55 ff.) nicht zu kurz. Die Darstellung in beiden Teilen dieses Studienbuches verfolgt das Ziel, nicht nur die Kämpfe um rechtliche Gleichheit im Geschlechterverhältnis an der Schule abzubilden, sondern Koedukation darüber hinaus als pädagogische Aufgabe zu formulieren. Das Recht auf Bildung wird als Recht auf Chancengleichheit aller Kinder vertreten.
Sehr interessant finde ich die Entscheidung der Autorinnen, „Geschlechterforschung in der Schule“ anhand der bekanntesten und einflussreichsten Studien vorzustellen. Zum einen wird dabei die Entwicklung von der pädagogischen Frauenforschung zur Geschlechterforschung in einem Zeitraum von zwei Jahrzehnten nachvollziehbar gemacht, zum anderen wird beispielhaft vorgeführt, wie die konkrete Anlage von empirischen Forschungsprojekten aussehen kann. Das Studienbuch führt auf diese Weise unbefangen in den Forschungsstand (mit weiterführenden und lesenswerten Literaturtipps) ein, ist also ein guter Begleiter beim Beginn und im Verlauf eines Lehramts- und Bachelor-Studiengangs. Es vermittelt aber darüber hinaus einen praktischen Eindruck von Forschungstätigkeit und vermag so vielleicht bei der einen oder dem anderen Studierenden die intellektuelle Neugier auf wissenschaftliche Arbeit zu wecken.
Ebenso praxisorientiert – mit einer Art kleinen Handreichung für den Unterricht der zukünftigen Lehrkräfte unter den Studierenden – werden im abschließenden Teil konkrete Methoden für geschlechter- und differenzsensibilisierende Lernprozesse vorgeschlagen. Insgesamt ist dieses Studienbuch von eben dieser Haltung „aufgeklärter Heterogenität“ getragen, die es vertritt. Empfohlen wird reflexive Koedukation als Möglichkeit, mit Störungen im Schulunterricht, also mit der Form, in der heute die „diskreten Diskriminierungen“ (S. 131) z. B. im Geschlechterverhältnis auftreten, produktiv umzugehen.
Bleibt mir noch zum Schluss die Gelegenheit, zwei etwas allgemeiner gehaltene Beobachtungen zu notieren. Erstens: Wie bei allen Bilanzen der (Frauen- und) Geschlechterforschung in den verschiedensten Disziplinen, die seit Ende der 1990er Jahre erschienen sind, ist auch in diesem Studienbuch eine gewisse Vorsicht im Umgang mit der Forschungsperspektive der Frauenforschung der 1980er Jahre zu beobachten. Frauenforschung wird nicht selten pauschal nachgesagt, an der Beobachtung von Defiziten ausgerichtet gewesen zu sein. Die Autorinnen Kreienbaum und Urbaniak dagegen sind sehr darum bemüht, Frauenforschung und Mädchenförderung würdigend und differenziert darzustellen und sie nicht abzuwerten (was in anderen disziplinären Zusammenhängen, z. B. in der feministischen Politikwissenschaft, bisweilen anders zu beobachten ist). Zweitens: Studienbücher sind von ihrer Anlage her Zusammenfassungen. Das macht ihre Qualität aus und auch ihr Problem. Verstehbar werden sie, wie jede Zusammenfassung, erst durch einen Auseinandersetzungsprozess mit dem, was sie vorstellen. Die Zeit, die es braucht, diese „neue Denkrichtung“ (S. 48) und pädagogische Haltung einer aufgeklärten Heterogenität an sich selbst zu üben, scheint mir in den neuen Zeitplänen der Modularisierung viel zu knapp bemessen zu sein.
URN urn:nbn:de:0114-qn082217
Renate Niekant M.A.
Universität Gießen, Institut für Politikwissenschaft, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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