Ruth Michalek:
„Also, wir Jungs sind…“.
Geschlechtervorstellungen von Grundschülern.
Münster/New York/München/Berlin, Waxmann 2006.
281 Seiten, ISBN 978–3830917199, € 29,90.
Abstract: Ruth Michalek untersucht anhand von Gruppendiskussionen die Männlichkeitsvorstellungen bei Drittklässlern. Mit Hilfe zahlreicher Zitate zeichnet sie ein differenziertes und empathisches Bild der diskutierenden Jungen. Sie weist detailliert nach, dass in einer Schulklasse zwei entgegengesetzte Männlichkeitskulturen nebeneinander existieren können: Während sich die Gruppe „Rock’n’Roll AG“ an tradierten Männlichkeitsbildern orientiert, kann die Gruppe „Tigerkralle“ mit diesen männlichen Orientierungsmustern wenig anfangen. Michaleks Arbeit stellt einen anschaulichen Beitrag zur Ausdifferenzierung von Männlichkeitsvorstellungen dar.
Herzstück der Dissertation von Ruth Michalek sind Gruppendiskussionen mit Schülern. Aus dem umfangreicheren Material einer Forschungsgruppe der Pädagogischen Hochschule Freiburg wählt sie zwei Gruppendiskussionen aus. Ihre Frage ist ebenso einfach wie grundsätzlich: „Was bedeutet es für Jungen selbst, Jungen zu sein?“ (S. 15). Anders als die aktuelle negative Berichterstattung lässt sie die Jungen selber zu Wort kommen. Nach einer kurzen theoretischen Einleitung, in der die Arbeit im Kontext des ‚doing gender‘ verortet wird, stellt Michalek kurz wesentliche Ergebnisse der pädagogischen Jungenforschung dar und begründet, warum besonders der Jungengruppe aufgrund ihres körperorientierten und konfliktreichen Verhaltens eine herausragende Bedeutung bei der Konstruktion von Männlichkeit zukommt. Wesentlicher Bezugsrahmen sind dabei US-amerikanische Studien, aktuelle Forschungen aus Deutschland finden leider weniger Beachtung.
Anschließend diskutiert und reflektiert Michalek die Möglichkeiten und Grenzen von Gruppendiskussionsverfahren als Methode der Kindheitsforschung anhand unterschiedlicher Forschungsprojekte. Mithilfe des „Modells kollektiver Orientierungen“ von Karl Mannheim interessiert sich Michalek nicht nur für den gesprochenen Wortsinn, sondern ebenfalls für die Interaktionen während der Gespräche in den Freundesgruppen.
Ruth Michalek kontrastiert in ihrer Arbeit die Interviews der beiden Gruppen „Tigerkralle“ und „Rock’n’Roll AG“. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei einerseits die Interaktionen (Kap. 6) und andererseits die diskursiv hergestellten Geschlechtervorstellungen (Kap. 7).
Auf der Ebene der Interaktionen berichtet Michalek, dass die Jungen in den Interviews sehr wertschätzend miteinander umgehen. In den Neckereien zwischen ihnen werden immer auch soziale Beziehungen mitverhandelt. Im Vordergrund der Interaktionen stehen gemeinschaftlich-inkluierende Orientierungen. Die Demonstration von Zugehörigkeit funktioniert über Interaktionsrituale wie Übertrumpfen und Ironie, allerdings variieren die individuellen Spielräume. Während sich die Mitglieder der Gruppe „Rock’n’Roll AG“ „in ihren Meinungen auffällig aneinander anpassen“ (S. 123), sind die Interaktionen in der Gruppe „Tigerkralle“ flexibler.
Die Frage, wie Jungen ihr Geschlecht selbst entwerfen, beantwortet Michalek anhand der induktiv gewonnenen Kategorien „Junge-Sein“, „Jungen sprechen über Mädchen“ sowie „Jungen und Sport“. Dabei stellt sie ein bemerkenswertes Nebeneinander zweier extrem unterschiedlicher Männlichkeitskulturen innerhalb derselben Klasse fest.
Die Gruppe „Tigerkralle“ verortet „Junge-Sein“ zwischen den Polen „kleine Babys“ und „gemein, fies“. Damit – so Michalek – deutet sich am Anfang schon an, was im Verlauf des gesamten Gesprächs immer wiederkehrt. Die Jungen entziehen sich typisierender oder normativer Aussagen und vertreten ein flexibles Männerbild. Ähnliches gilt auch für den Umgang mit Gefühlen, die nach Meinung der Jungen je nach Situation geäußert werden dürfen oder eben nicht. Auch in den Zukunftsvorstellungen wird diese ‚moderne Männlichkeit‘ (vgl. Paul Zulehner, Rainer Volz: Männer im Aufbruch. Wie Deutschlands Männer sich selbst und wie ihre Frauen sie sehen. Ostfildern 1998) deutlich. Die Jungen reklamieren, später ihre Kinder „versorgen zu wollen“. Des Weiteren zeigen die Berufswünschen eine Reflexion der Frage nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie bei David deutlich wird: „und dann will ich Pilot werden und ich will halt, ich will nich […] einmal um die Welt fliegen, sonst komm ich zu spät nach Hause zum Abendessen [lachen]. Sondern lieber so immer so in Asien und Europa rumfliegen“ (S. 139). Auch in Bezug auf die Mädchen in ihrer Klasse äußern sich die Jungen differenziert, einige weisen mädchenfeindliche Statements zurück oder markieren sie als Einzelmeinung. Sport spielt in der Gruppe kaum eine Rolle.
Ganz anders dagegen die „Rock’n’Roll AG“. Die Jungen äußern sich eindeutig dazu, was einen Mann ausmacht. So vertritt Tobias eine Vorstellung von ‚traditioneller Männlichkeit‘ (vgl. Zulehner, Volz 1998), wenn er meint: „Man muss sportlich sein, hat Geld, ja eigentlich Ferien“ (S. 159). Diese männlichen Eigenschaften sind positiv besetzt und werden von einem negativen Kontrasthorizont der Eigenschaften von Mädchen abgegrenzt, welche diese Jungen in der Regel als kindlich schildern. Ein Grund liegt in der unterstellten geringeren Sportlichkeit von Mädchen. Dabei schildern die Jungen ihre eigene Sportlichkeit weniger im Sinne körperlichen Tuns, „im Vordergrund steht der passive Besitz von Sportarten, an deren Anzahl sich die Sportlichkeit bemisst“ (S. 224). Erst in ihren Schilderungen risikoreicher Tätigkeiten tauchen die Jungen der „Rock’n’Roll AG“ als Handelnde auf. Sport fungiert als wesentliches Moment der Konkurrenz und Übertrumpfung und dient so der gegenseitigen Inkludierung.
Zum Ende ihres Buches fasst Michalek die Ergebnisse ihrer Auswertungen noch einmal übersichtlich zusammen und ordnet sie als Beitrag zur Ausdifferenzierung von Männlichkeiten innerhalb der Männlichkeitsforschung ein. Die Beschränkung auf die Konstrastierung von zwei Gruppendiskussionen erweist sich nicht als Nachteil, da Michalek dadurch eng am Material wesentliche Deutungsmuster herausarbeitet. Die Gegenüberstellung der beiden Extremfälle verdeutlicht anschaulich, wie unterschiedliche Kulturen von Männlichkeit auch in vergleichsweise kleinen Lebenswelten wie einer Schulklasse nebeneinander existieren können. So wird die Forderung der kritischen Männlichkeitsforschung, Differenzen zwischen unterschiedlichen Männlichkeitsformen im Blick zu haben, vorbildlich eingelöst. Andererseits stellt sich – nicht nur für Michalek – die Frage, ob es dann noch ein verbindendes Merkmal der sozialen Kategorie Männlichkeit gibt und wie dieses zu fassen sei. Das Buch schließt mit Reflexionen über die Methode der Analyse von Gruppendiskussionen und mit Ausblicken für die Pädagogik. Hier schlägt die Autorin die Vermittlung von Genderkompetenz und insbesondere die Einübung von Reflexivität als Perspektiven vor.
URN urn:nbn:de:0114-qn082070
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