Bettina Suthues:
Umstrittene Zugehörigkeiten.
Positionierungen von Mädchen in einem Jugendverband.
Bielefeld: transcript 2006.
296 Seiten, ISBN 978–3–89942–489–8, € 27,80
Abstract: Bettina Suthues fragt in ihrer Studie nach den Positionierungen von Mädchen in der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg, insbesondere nach ihren Strategien, Verbands- und Geschlechtszugehörigkeit zu konstruieren und zu vermitteln. Dabei beruft sie sich auf die Theorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, dessen Begriffe Illusio, Habitus und Feld die Deutungsebene ihrer Untersuchung darstellen.
„Jugendarbeit ist Jungenarbeit“ (S. 11) lautet die Formel, in der feministisch orientierte Forscherinnen in den 80er Jahren ihre Kritik an der außerschulischen Jugend(verbands)arbeit artikulierten. Diese orientiere sich einseitig an den Bedürfnissen männlicher Jugendlicher und begünstige daher Jungen als hauptsächliche Nutzer der Angebote. Auch Bettina Suthues geht es um die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlecht und der Zugehörigkeit zu einem Jugendverband, der sie am Beispiel der Deutschen Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG) nachgeht. Allerdings formuliert sie Kritik an der vereinfachenden Gleichsetzung von Jungendarbeit und Jungenarbeit, in der der Opferstatus von Mädchen und Frauen festgeschrieben und so das binär strukturierte, einseitig hierarchische Geschlechterverhältnis reproduziert werde. Gleichzeitig weist sie aber auch auf einen „wahren Kern“ (S. 12) der oben zitierten Aussage hin, der sich darin zeige, dass „es zu den selbstverständlichen Annahmen der Verbandsmitglieder [gehört], dass Mädchen bei den Pfadfindern etwas ‚Besonderes‘ sind“ (ebd.), was sich aber auch in den Mitgliederzahlen manifestiere. So stellen Mädchen bis heute nur etwa ein Drittel der Mitglieder des Verbandes, und das, obwohl die DPSG auf eine mittlerweile über 30jährige koedukative Geschichte zurückblicken kann, in deren Verlauf auch die männliche Vergeschlechtlichung der Verbandsstrukturen zum Thema gemacht wurde.
Bettina Suthues stellt ihrer Studie einen Überblick über den wissenschaftlichen Diskurs zu Geschlecht in der Jugendverbandsarbeit voran, der sich zwischen der (feministischen) Annahme weiblicher Unterrepräsentanz und männlicher Dominanz im Jugendverband und der (aus verbandsnahen Kreisen artikulierten) These der Neutralisierung von Geschlecht im Verbandsgeschehen bewegt. An diesen bisherigen Forschungen zu Geschlecht in Jugendverbänden kritisiert Suthues das Festhalten an der Binarität der Geschlechter: „Grundlage und Zielperspektive für die Analyse ist die Existenz zweier Geschlechtergruppen“ (S.55). Dies verenge den Blick und führe zu Homogenisierungen innerhalb der Geschlechtergruppen, Binnendifferenzen könnten so nicht wahrgenommen werden.
Für die eigene Forschung wählt Suthues daher eine Perspektive, die auf die Herstellung der Zweigeschlechtlichkeit gerichtet ist, denn Geschlecht wird – im Sinne des Doing-gender- Ansatzes – in der sozialen Praxis hergestellt und erworben. Wichtig ist ihr außerdem ein Verständnis des Geschlechterverhältnisses, das Geschlecht nicht als omnirelevant betrachtet, sondern Entdramatisierungen und Neutralisierungen neben Dramatisierungen von Geschlecht in den Blick nimmt und auf diese Weise Ambivalenzen und Brüche in der verbandlichen Praxis, aber auch in den Verortungen der Mädchen im Verband sichtbar machen kann. Geschlecht bleibt so für Suthues zwar eine wirkmächtige Kategorie, deren Wirksamkeit jedoch nicht unhinterfragt vorausgesetzt, sondern differenziert und kontextgebunden analysiert werden soll.
Das begriffliche Instrumentarium für die Analyse ihrer empirischen Daten findet Bettina Suthues bei Pierre Bourdieu. Mit der Anwendung des Feldbegriffs auf den Jugendverband DPSG wird eine Deutungsfolie geschaffen, vor der die spezifischen Regeln, aber auch die den Angehörigen eines Feldes gemeinsamen Interessen identifiziert und in ihren Wirkungen analysiert werden können. Zentral steht hier der Bourdieu’sche Begriff der Illusio, der jene Glaubenssätze bezeichnet, die innerhalb eines Feldes geteilt werden, sowie auch die Denkfigur der Dialektik von Habitus und Feld.
Suthues‘ ausdrücklich formulierte Perspektive auf Brüche und Ambivalenzen in der Inszenierung der Geschlechter und in ihrem Verhältnis lässt sich allerdings mit Bourdieus geschlechtertheoretischen Begriffen, die eindeutig auf männliche Dominanz und weibliche Unterordnung gerichtet sind, nicht einfangen. Dies erkennt auch Suthues, argumentiert jedoch, dass Bourdieus geschlechtertheoretische Annahmen zwar nicht geeignet seien, den Perspektivwechsel auf die wechselvollen Ausprägungen von Geschlecht zu beziehen, wohl aber seine Konzepte von Habitus und Feld. Dank dieses begrifflichen Rahmens, der Glaubens- und Sinnkonstruktionen des Verbandes selbst und deren Einfluss auf habituelle Dispositionen seiner Mitglieder erkennbar werden lässt, gelingt es, die Konstruktion von Normativität und Normalität innerhalb des Feldes der DPSG in die Analyse einzubeziehen. Geschlecht wird innerhalb dieses theoretischen Rahmens als Teil der sozialen Ordnung eines Feldes und damit als Teil der im Feld ausgeübten Praxis aufgefasst. Ausprägungen und Inszenierungen dieser Praxis – und zwar auf Seiten des Verbandes wie auch seiner weiblichen Mitglieder – werden zum Gegenstand der Analyse.
Suthues nähert sich ihrem Forschungsgegenstand auf zwei methodischen Wegen: Einerseits analysiert sie die historischen Entwicklungen, die innerhalb der DPSG in Bezug auf den Umgang mit Geschlecht stattgefunden haben. Auf diesem Wege wird deutlich, wie seit Einführung der Koedukation auf verbandlicher Ebene mit Geschlecht umgegangen wird, welches Verständnis von Geschlecht die Illusio des Verbandes beherrscht. Mädchen, so das Ergebnis der Analyse, werde im Verband mit einer paradoxen Haltung begegnet. „Sie werden auf eine spezifische geschlechtsgebundene Position verwiesen, die durch Besonderheit oder Abweichung definiert ist“ (S. 267). Gleichzeitig existiere jedoch die verbandliche Vorstellung, „dass alle Pfadfinderinnen und Pfadfinder ungeachtet des Geschlechts ‚Gemeinsamkeit‘ erfahren sollen“ (ebd.).
Die Illusio des Verbandes erweist sich für die weiblichen Mitglieder also als widersprüchlich. Wie sie mit dieser Widersprüchlichkeit umgehen und sich innerhalb des Verbandes positionieren, findet Bettina Suthues anhand der Aussagen von weiblichen Verbandsmitgliedern heraus. Aus einem Sample von zehn Pfadfinderinnen im Alter von zwölf bis 14 Jahren, mit denen ausführliche, biographisch orientierte Interviews geführt wurden, stellt sie drei Fälle vor. Die nach kontrastiven Gesichtspunkten ausgewählten Interviews zeigen unterschiedliche Umgangsweisen der weiblichen Mitglieder mit Geschlecht und dem ‚Pfadfinder-sein‘, in denen Suthues Strategien der Dramatisierung, Entdramatisierung und Neutralisierung identifizieren kann. Den Rahmen für die Strategien bildet die Illusio der DPSG – des Feldes, zu dessen Spielregeln sich alle (mehr oder weniger) bekennen.
Suthues’ These, die Strategien der Entdramatisierungen und Neutralisierungen von Geschlecht als Beweis gegen die Omnirelevanz der Kategorie Geschlecht zu betrachten, ist sicherlich diskussionswürdig. Die damit verbundene Aufmerksamkeit gegenüber Brüchen und Ambivalenzen im Geschlechterverhältnis kann aber eine Erweiterung der Perspektive in der Geschlechterforschung befördern. Gerade die Verknüpfung der Theorie Bourdieus mit Ansätzen des ‚Doing gender‘ und die Anwendung von Bourdieus Konzepten auf geschlechtertheoretische Fragen stellen eine Erweiterung der bekannten Begrifflichkeiten dar und machen die Studie von Bettina Suthues auch über die Auseinandersetzung mit Geschlecht in Jugendverbänden hinaus interessant.
URN urn:nbn:de:0114-qn082191
Katrin Huxel
Universität Münster, Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaft
E-Mail: katrin.huxel@uni-muenster.de
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