Eva Gehltomholt, Sabine Hering:
Das verwahrloste Mädchen.
Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform (1945–1965).
Opladen: Barbara Budrich 2006.
244 Seiten, ISBN 978–3–86649–037–6, € 24,90
Abstract: ‚Weibliche Verwahrlosung‘ stellte, wie die Autorinnen eindrucksvoll belegen, eine Diagnose dar, die für benachteiligte Mädchen nachhaltige und aus heutiger Sicht erschreckende erzieherische Folgen hatte. Am Beispiel der Schicksale weiblicher Fürsorge’zöglinge‘ werden Jahrhunderterbschaften einer auf Drill und Gehorsam ausgerichteten Erziehung vorgestellt. Die auf breiter Quellenbasis beruhende und facettenreiche Untersuchung stellt eine wichtige und geschlechtergeschichtlich anregende Studie dar, die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der derzeit breit geführten Diskussion um Kindheiten im und nach dem Zweiten Weltkrieg Beachtung verdient.
Eine in höchstem Maße moralisch enge, unnachgiebig autoritäre, Angst besetzte Gehorsamserziehung ist für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnend. Erziehungsnormen und -stile, die auf Strenge und dem Glauben an die Wirkung von Disziplinierung im weitesten Sinne beruhten, haben Kinder und Jugendliche geprägt. Sie haben insbesondere bei sozial benachteiligten Jugendlichen zu leidvollen Erfahrungsgeschichten beigetragen. Skandalöse Verhältnisse, beispielsweise in der Heimerziehung, sind zwar immer wieder angeprangert worden, und es sollte mit der Einführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes und der Reform des Jugendstrafvollzugs in der Weimarer Republik hier auch Abhilfe geschaffen werden, gleichwohl bedeutete die gesellschaftliche Zäsur des Jahres 1945 keineswegs ein Ende dieser Geschichte eines teilweise ausgesprochen brutalen Umgangs mit jugendlichen Problem- und Randgruppen, zu denen nicht zuletzt ‚verwahrloste‘ Mädchen gehörten. Zu Recht weisen die Autorinnen in der Einleitung zu ihrem Buch Das verwahrloste Mädchen – Diagnostik und Fürsorge in der Jugendhilfe zwischen Kriegsende und Reform darauf hin, dass sich heute „ehemalige Heimzöglinge zu Wort melden, um die Öffentlichkeit auf das Leid aufmerksam zu machen, das ihnen zugefügt worden ist“ (S. 17). Sie benennen die dramatischen Erfahrungen pointiert und treffend mit Stichworten wie „Verlust der Menschenwürde“, „menschenverachtende Formen der Zwangserziehung“ u. a. mehr.
Die Autorinnen versuchen, mit ihrem Buch eine wichtige Forschungslücke zu füllen, indem sie den Blick auf eine Form von Heimerziehung lenken, in der Worte wie „Anstalt“ oder „Insassen“ gang und gebe waren. Im Mittelpunkt der Untersuchung, die auf der Auswertung umfangreicher Quellen fußt, steht die Frage, was „Verwahrlosung“ meinte und wie mit „verwahrlosten“ Mädchen in den ersten zwanzig Jahren bundesrepublikanischer Geschichte umgegangen wurde, besser müsste es vielleicht heißen: wie hilfebedürftige Minderjährige, jugendliche Problemgruppen im Umfeld von Verwahrlosung, Kriminalität und Heimatlosigkeit in der Fürsorge traktiert wurden, wenn die Familie ihren Erziehungsaufgaben nicht nachkam oder nachkommen konnte.
Es erscheint darüber hinaus ausgesprochen einleuchtend, dass das Buch in der Reihe Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft erschienen ist. Dass das um 1900 als „Jahrhundert des Kindes“[1], des „neuen Menschen“[2] und als „Jahrhundert der Jugend“[3], sogar als „Jahrhundert des Feminismus“[4] gegrüßte neue Säkulum kein Jahrhundert der Mädchen war, machen die Darlegungen und Dokumente in einer geradezu erschütternden Weise deutlich. Die Autorinnen werden dem Anspruch, „eine kritische Auseinandersetzung mit den Vorurteilen gegenüber Frauen und Mädchen“ zu führen und „mit dem Topos des ‚verwahrlosten Mädchens‘ eine der letzten Hypotheken zu beschreiben, welche die Frauen zu tilgen hatten, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ihre Befreiung erkämpft haben“ (S. 16f.), in mehrfacher Hinsicht gerecht. Sie zeigen zunächst die Traditionslinien auf, in denen Mädchenerziehung nach 1945 stand, und machen hier bereits auf die zentrale und moralisch bedeutsame Frage ‚sexueller Verwahrlosung‘ aufmerksam, die unter dem Label ‚moralischer Schwachsinn‘ in der Zeit des Nationalsozialismus zu vermehrten Heimeinweisungen führte. Sie weisen auf die spezifischen Probleme der Zusammenbruchsgesellschaft nach 1945 ebenso hin wie auf die positiven Reformansätze nach dem Zweiten Weltkrieg, die indes durch vielfältige Überforderungen und zählebige mentale und gesellschaftliche Vorstellungen die tief greifenden Umbrüche des 20. Jahrhunderts überdauerten.
Es werden – exemplarische – Lebensläufe vorgestellt, Aspekte der Erziehungspraxis aufgefächert, Beispiele zur Heimerziehung „aus der Binnensicht“ gebracht, kritische Wertungen der 1950er und 1960er Jahre einbezogen, und es wird den Leser/-innen durch einen Dokumentenanhang die Möglichkeit gegeben, die gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten nachzuvollziehen sowie einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Die Koppelung von ‚Verwahrlosungs’vorstellungen mit Weiblichkeitsbildern, in denen sexuelle Moralurteile eine fatale Bedeutung hatten, trug offenbar entscheidend mit dazu bei, dass die in dem Buch vorgestellte Gruppe von Mädchen kaum eine Chance auf „Erziehung“ hatte. ‚Sünde‘ und die Bestrafung weiblich-sündhaften-devianten Verhaltens dominierten nicht zuletzt die Maßnahmenkataloge in kirchlichen Einrichtungen. Die Autorinnen vermeiden - und dies soll ausdrücklich betont werden - jegliche pauschalisierende Einschätzung; sie nennen auch positive Beispiele und Erfahrungen, die es zweifellos ebenso gegeben hat wie die zahlreichen und überwiegenden negativen. Die Autorinnen machen deutlich, dass Wandlungen sich nur kleinschrittig vollzogen, dass Menschen andererseits nach 1945 aber angesichts der zurückliegenden Katastrophen versucht haben, die Voraussetzungen und Bedingungen für eine zivile Gesellschaft zu schaffen, in der Strafe und Härte nicht der Maßstab pädagogischen Handelns sein konnte.
Die Studie erweist sich nicht zuletzt deshalb als anregend, weil sie auf allgemeine, derzeit intensiv in der Forschung diskutierte Fragen im Zusammenhang mit Zweite-Weltkriegs-Kindheiten Bezug nimmt. Die Autorinnen sprechen ausdrücklich von „Kriegsjugend“ (S. 35, 41 u. a.), sie greifen die Problematik der „vaterlosen Kinder“ (S. 47 ff.) auf und richten hier den Blick auf einen bislang unzureichend thematisierten Aspekt, die „vaterlosen Töchter“, die gegenüber den „Söhnen ohne Väter“[5] weder von Historikern noch von Psychoanalytikern hinreichend untersucht wurden.[6] Die Frage, ob es neben den „traurigen Jungen“, die als unschuldige Opfer gleichsam Opferikonen der deutschen Nachkriegsgesellschaft waren, auch „traurige Mädchen“ gab, muss nach der Lektüre des Buches eindeutig mit „Ja“ beantwortet werden. Als Antworten können überdies nicht nur die Beschreibungen ‚verwahrloster‘ Mädchen gelten, sondern auch die Abbildungen, die mehr als nur Illustrationen sind.
Schließlich bietet das Buch zahlreiche Ansätze für weiterführende Fragen, beispielsweise der generationellen Staffelstabweitergabe von Normen und Wertorientierungen im 20. Jahrhundert, intergenerationeller Prägungen über primäre und sekundäre Sozialisationsinstanzen oder pädagogischen Jahrhunderterbschaften, die sich gleichsam im Sinne von Geheimspuren durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts ziehen.[7]
[1]: Ellen Key: Das Jahrhundert des Kindes (dt. 1902). Unveränderter Nachdruck, Weinheim 2000.
[2]:Vgl. Ulrich Herrmann (Hg.): „Neue Erziehung“. „Neue Menschen“. Erziehung und Bildung zwischen Kaiserreich und Diktatur. Weinheim, Basel 1987; Gottfried Küenzlen: Der neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. 2. Aufl. München 1994; Nicola Lepp, Martin Roth, Klaus Vogel (Hg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts Katalog zur Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, 22.4.-8.8.1999. Hygiene Museum Dresden, Dresden 1999.
[3]: Vgl. Barbara Stambolis: Mythos Jugend. Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung, Bd. 11, Schwalbach, Ts. 2003; Jürgen Reulecke: Utopische Erwartungen an die Jugendbewegung 1900-1933. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Utopie und politische Herrschaft der Zwischenkriegszeit. München 2003, S. 199-218.
[4]: Vgl. Ute Frevert: Die Zukunft der Geschlechterordnung. In: Dies. (Hg.): Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900. Göttingen 2000.
[5]: Hartmut Radebold, Hermann Schulz, Jürgen Reulecke: Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration. Berlin 2004.
[6]: Ulla Robert: Starke Frauen – ferne Väter. Töchter reflektieren ihre Kindheit im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Frankfurt am Main 1994.
[7]: Vgl. Jürgen Reulecke, Barbara Stambolis: Kindheiten und Jugendzeit im Zweiten Weltkrieg: Erfahrungen, Normen der Elterngeneration und ihre Weitergabe. Band der „Studiengruppe Kinder des Zweiten Weltkriegs“ am KWI Essen (im Druck); Barbara Stambolis, Volker Jakob (Hg.): Kriegskinder zwischen Hitlerjugend und Nachkriegsalltag. Bilder des westfälischen Fotografen Walter Nies. Münster 2006.
URN urn:nbn:de:0114-qn082289
Prof. Dr. Barbara Stambolis
Universität Paderborn, Fakultät für Kulturwissenschaften, Historisches Institut
E-Mail: barbarastambolis@aol.com
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