Anke Rohde, Andreas Marneros (Hg.):
Geschlechtsspezifische Psychiatrie und Psychotherapie.
Ein Handbuch.
Stuttgart: Kohlhammer 2007.
634 Seiten, ISBN 978–3–17–018451–0, € 79,00
Abstract: Anke Rohde und Andreas Marneros haben sich ein hohes Ziel gesetzt: ein übersichtliches Lehrbuch für Psychiatrie und Psychotherapie, das erstmals eine systematische Zusammenstellung des Wissens über geschlechtsspezifische Aspekte von Symptomatologie, Epidemiologie, Diagnostik, Pharmakotherapie und Psychotherapie psychischer Störungen enthält. Bemerkenswert ist dabei zweierlei: Erstens werden bei der Betrachtung geschlechtsspezifischer Unterschiede im Sinne der Genderforschung Frauen und Männer berücksichtigt, zweitens wird ein vollständiger Überblick sowohl über die häufigen und bekannten psychischen Störungen als auch die äußerst seltenen psychiatrischen Erkrankungen der gesamten Altersspanne gegeben. Wenngleich die Qualität der einzelnen Beiträge deutlich zwischen sehr differenzierter und leider auch für ein Handbuch eindeutig zu oberflächlicher Betrachtung variiert, liegt in dem Band ein weitgehend informatives Nachschlagewerk vor, das einen ersten Überblick über die geschlechtsspezifische Psychiatrie gibt.
Der 624 Seiten umfassende Sammelband ist in die fünf Sektionen: (A) Störungen, (B) Diagnostik, (C) Therapie und Versorgung, (D) Spezielle Aspekte sowie (E) Forensische Psychiatrie gegliedert, die wie im Folgenden beschrieben jeweils übersichtlich und sinnvoll strukturiert in weitere zahlreiche Unterkapitel aufgegliedert sind. Die Herausgeberin und der Herausgeber konnten zahlreiche sehr bekannte und für die jeweiligen Aspekte versierte Autoren/-innen gewinnen.
Über die sehr vielfältigen, nahezu alle Aspekte der Psychiatrie und therapeutischen Versorgung umfassenden Themen im vorliegenden Band kann in dieser Rezension nur ein grober Überblick gewährt werden. Eine etwas ausführlichere Übersicht soll jedoch über einzelne Kapitel in Sektion 1 gegeben werden, da sicherlich hier auch im klinisch-therapeutischen Alltag die größte Nachfrage bestehen wird.
In Sektion 1 werden zunächst alle psychischen Störungen beschrieben. Dies geschieht weitgehend analog zur Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10 Kapitel V), in der die klinischen Beschreibungen und diagnostischen Leitlinien der WHO formuliert sind. Dadurch ist für alle fachkundigen Leser/-innen, an die sich dieses Werk eindeutig richtet, eine vertraute Struktur gegeben.
Im Kapitel über organische psychische Störungen wird im Wesentlichen die Ätiologie deliranter und demenzieller Entwicklungen aufgegriffen, zu geschlechtsspezifischen Aspekten wird jedoch kaum konkret Stellung bezogen, lediglich bezüglich der Demenz vom Alzheimer-Typ.
Im Unterkapitel „Sucht“ werden sehr ausführlich epidemiologische und verlaufsbezogene Geschlechtsunterschiede aufgegriffen, bezüglich der Symptomatik fehlen jedoch Informationen.
Die Ausführungen zur Schizophrenie und auch zu akuten vorübergehenden psychotischen Störungen sollen besonders hervorgehoben werden. In ihnen ist die allgemeine Symptomatologie, Epidemiologie, Ätiologie sowie der Verlauf kurz und gut verständlich dargestellt, die Informationen über geschlechtsspezifische Unterschiede sind gründlich aufbereitet. Dabei wird auf eine Vielzahl insbesondere auch aktueller Literatur hingewiesen. Demgegenüber sind die Ausführungen zu wahnhaften bzw. schizoaffektiven Störungen deutlich zu oberflächlich. Dies mag allerdings auch darin begründet sein, dass es aufgrund der geringen Häufigkeit wahnhafter Störungen insgesamt wenig Literatur zu diesem Thema gibt, das gilt insbesondere auch für neuere und geschlechtsvergleichende Arbeiten.
Ein guter, wenn auch sehr knapper Überblick wird über die affektiven Störungen gegeben. Hauptsächlich wird jedoch die unterschiedliche Prävalenz affektiver Erkrankungen berichtet, zur Symptomatik sowie zur differentiellen Symptomatik und Ätiologie finden sich leider keine Informationen, wenngleich hier eine Fülle von Literatur vorliegt. Erwähnt werden soll in diesem Zusammenhang jedoch, dass es in Sektion D „Spezielle Aspekte“ mehrere Unterkapitel zu psychischen Störungen unter besonderer Berücksichtigung von affektiven Störungen in hormonellen Umbruchsituationen in der Lebensspanne der Frau gibt. Ein Querverweis wäre hier hilfreich.
Auch die Kapitel Angststörungen, dissoziative Störungen und somatoforme Störungen sind gut gelungen. Bezüglich der Persönlichkeitsstörungen wird ein sehr guter allgemeiner und aktueller Überblick auch hinsichtlich geschlechtsbezogener Aspekte der Borderline-Störung sowie der dissozialen, histrionischen und narzistischen Persönlichkeitsstörung gegeben. Leider finden alle weiteren Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel selbstunsicher-vermeidende, dependente, zwanghafte oder auch schizotypische und paranoide Persönlichkeitsstörung, keine Erwähnung. Hier wären die Herausgeberin und der Herausgeber gut beraten gewesen, mehrere Unterkapitel anzubieten und unterschiedliche Autor/-innen zu einzubeziehen, da es nur schwer möglich ist, zu allen Persönlichkeitsstörungen ein fundiertes aktuelles Wissen zu vermitteln.
In den knapp 70 Seiten von Sektion 2 „Diagnostik“ werden in den Unterkapiteln zu Neuropsychologie, Neuromorphologie und Neuropathologie, Bildgebung, Neuroendokrinologie, Immunologie und Genetik im Wesentlichen biologisch-medizinische Aspekte aufgegriffen. Während in den ersten dieser Kapitel hauptsächlich die Geschlechtsunterschiede bei gesunden Proband/-innen betrachtet und lediglich in sehr kurzer Form einige wenige geschlechtsbezogene Aspekte bei einzelnen Erkrankungen erwähnt werden, sind die Kapitel zu Neuroendokrinologie, Immunologie und Genetik wesentlich fundierter.
Bei dem zweiten im Buchtitel hervorgehobenen Schwerpunkt „Psychotherapie“ handelt es sich lediglich um ein Unterkapitel in der leider inhaltlich zu kurz geratenen Sektion „Therapie und Versorgung“. Sehr kurz, wenn auch im Vergleich zu anderen Kapiteln wesentlich konkreter, wird zunächst auf geschlechtsdifferentielle Aspekte der Psychopharmakologie im allgemeinen und im speziellen während Schwangerschaft und Stillzeit eingegangen, wobei jeweils in erster Linie die Behandlung affektiver Erkrankungen Berücksichtigung findet. Im Unterkapitel „Psychotherapie“ steht vor allem die Geschlechtszugehörigkeit der Patient/-innen einerseits und Therapeut/-innen anderseits als Prädiktor für den Therapieausgang im Mittelpunkt. Wenig Informationen erhalten die Leser/-innen zu spezifischen Therapiemaßnahmen für Männer und Frauen im Hinblick auf die jeweiligen Störungen. Positiv hervorzuheben ist, dass auch ein kurzer Überblick über die Bewältigung chronischer Krankheiten gegeben wird sowie einige Aspekte der psychiatrischen Versorgung aufgegriffen werden.
In der Sektion „Spezielle Aspekte“ werden in 11 Unterkapiteln sehr unterschiedliche Inhalte behandelt. Diese reichen von sexueller Orientierung und Entwicklung, über Suizidalität als eines der schwerwiegendsten störungsübergreifenden Symptome und Komorbidität zu einer Reihe von Unterkapiteln, die sich ausführlich mit reproduktionsbezogenen psychischen Störungen bei Frauen (Fertilität, Schwangerschaft und Stillzeit, zyklusbezogene Störungen, Menopause) beschäftigen, jedoch auch die Andropause des Mannes aufgreifen. Den Abschluss bildet hier ein sehr detailliertes Kapitel zur hormonellen Beeinflussung hirnorganischer Aktivität am Beispiel der Epilepsie.
In Sektion E greift der Mitherausgeber Andreas Marneros in sieben nahezu vollständig von ihm selbst verfassten, sehr kurzen Unterkapiteln geschlechtsbezogene Aspekte der Forensischen Psychiatrie auf. Die Leser/-innen erhalten hier einen guten und informativen ersten Überblick.
Die zuvor beschriebene Abfolge der Sektionen „Störungen“, „Diagnostik“, „Therapie“ und abschließend die Ausführungen zu „speziellen Aspekten“ erscheint auf den ersten Blick als sehr sinnvolle Gliederung. Die mangelnden Informationen zu Diagnostik und Therapie in einigen Kapiteln von Sektion A „Störungen“ irritieren so zunächst nicht weiter, da die Leser/-innen erwarten, diese Inhalte im Folgenden zu finden, was leider allzu oft nicht der Fall ist. Zwar muss konstatiert werden, dass bezüglich geschlechtsdifferentieller Diagnostik und Therapie noch erheblicher Forschungsbedarf existiert, doch vor dem Hintergrund, dass ein Handbuch kaum im Ganzen gelesen wird, ist es störend, dass die vorhandenen Informationen in verschiedenen Kapiteln gesucht werden müssen. Hilfreich ist dabei allerdings die sehr übersichtliche und ausführliche Gliederung. Insgesamt vermisst man vor allem in Sektion A leider zu häufig die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Aspekte, denen dieses Handbuch eigentlich gewidmet ist. Hinzu kommt, dass die Qualität der in Sektion A versammelten Beiträge sehr unterschiedlich ist.
Die Benutzung des Handbuchs wird dadurch erleichtert, dass nahezu bei allen Unterkapiteln zum Schluss eine Zusammenfassung der Kernaussagen gegeben wird. Diese Zusammenfassungen hätten durch einige Hinweise auf weiterführende Literatur bzw. neuere einschlägige Überblicksarbeiten ergänzt werden können.
Insgesamt bietet dieser Sammelband jedoch eine umfassende und weitgehend gut strukturierte Gesamtschau – nicht nur im Hinblick auf geschlechtsspezifische Aspekte – aller psychiatrischen Störungen und ist in weiten Teilen hilfreich bei der Erlangung eines ersten groben Überblicks. Da dies der wesentlichste Aspekt eines Handbuches ist, kann es durchaus als Basisnachschlagewerk empfohlen werden. Insgesamt wird mit diesem Werk sehr klar, dass bei allen hier aufgegriffenen Störungen und Aspekten psychiatrischer Störungen sowie bei deren Therapie die Frage nach differentiellen Geschlechtseffekten und den entsprechenden Anforderungen an die Behandlung höchst relevant ist, demgegenüber jedoch nach wie vor ein erheblicher Mangel an fundiertem empirischen Wissen vorliegt.
URN urn:nbn:de:0114-qn082185
Prof. Dr. Isabella Heuser, Dr. Nicole C. Schommer
Universitätsmedizin Berlin, Charité Campus Benjamin Franklin, Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie
E-Mail: nicole.schommer@charite.de
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