Stefanie Richter:
Essstörung.
Eine fallrekonstruktive Studie anhand erzählter Lebensgeschichten betroffener Frauen.
Bielefeld: transcript 2006.
496 Seiten, ISBN 978–3–89942–464–5, € 32,80
Abstract: Stefanie Richter untersucht die Lebensgeschichten von Frauen mit verschiedenen Essstörungen wie Magersucht, Ess-Brech-Sucht, Esssucht und deren Mischformen. Sie rückt damit die Perspektive der Betroffenen ins Zentrum ihrer Analyse. Anhand von vier ausgewählten „Eckfällen“ arbeitet sie die Vorgeschichte, den Störungsverlauf und die Bewältigungsversuche als Prozessstrukturen heraus. Ihr Resümee: Essstörungen erscheinen als ungeeignete Bewältigungsversuche individueller Problemlagen. Statt Probleme zu lösen, werden diese, bedingt durch ein problematisches Verhältnis zum eigenen Körper, über ein gestörtes Essverhalten ausgetragen. Wenn es den Betroffenen gelingt, ihre vorhandenen Ressourcen zu aktivieren und die Aufmerksamkeit vom problematischen Essverhalten abzuziehen, haben sie eine realistische Chance, die Essstörung zu überwinden.
Die Autorin begründet ihre Motivation, „das Phänomen ‚Essstörung‘ aus der Erfahrungs- und Erlebnisperspektive betroffener Menschen zu analysieren und zu rekonstruieren“, mit der Kritik an der Defizitorientierung des klinischen Blicks (S. 6). Problematisch ist ihrer Meinung nach, dass Essstörungen mehr als Krankheit betrachtet werden statt als Ausdruck individueller Problemlagen. Die Sicht der betroffenen Frauen werde in der Forschung zwar in einigen Falldarstellungen und Erfahrungsberichten berücksichtigt, dann allerdings häufig unsystematisch und ohne analytische Distanz (vgl. S. 60). Stefanie Richter setzt sich daher kritisch mit den gängigen Klassifikationssystemen und wissenschaftlichen Erklärungsmodellen auseinander. Sie kommt zu dem Schluss, „dass eine nicht störungszentrierte Forschungs- und Praxisperspektive noch wenig entwickelt ist“ (S. 61). Über den biographieanalytischen Zugang kommt sie im Verlauf ihrer Studie zu dem Ergebnis, „dass in der Mehrzahl der Fälle der Blick auf die Störungssymptomatik sekundär wird, wenn die zugrunde liegenden Probleme zur Sprache kommen“ (S. 33).
Mit den Methoden der qualitativen Sozialforschung werden Fälle dokumentiert und analysiert. Die Autorin bewegt sich dabei in der Tradition der amerikanischen Medizinsoziologie (Corbin und Strauss). Dieses renommierte methodische Vorgehen ist hierzulande offenbar immer noch legitimationsbedürftig, denn die Autorin verwendet nahezu 40 Seiten auf die wissenschaftstheoretische Begründung. Dieser schwer lesbare Teil enthält allerdings auch die Angaben zur systematischen Erhebung von insgesamt 30 narrativen Interviews.
In den Fallstudien werden vier betroffene Frauen vorgestellt und deren Lebensabläufe, orientiert an den jeweiligen Ereignissen und dem persönlichen Erleben, analytisch beschrieben. Die Autorin macht anhand von Interviewzitaten und zusammenfassenden Texten anschaulich, aus welchem Kontext heraus sich die Essstörungen entwickeln, wie der anfängliche Störungsgewinn langsam in einen Leidensprozess umschlägt, wie die gesundheitlichen und sozialen Folgekosten anwachsen, welche Bewältigungsstrategien selbständig oder auf Druck von außen in Angriff genommen werden, welchen Erfolg oder Misserfolg sie haben und wie die aktuelle Situation erlebt wird.
Im Fall von Magdalena, die nach einer Phase des Fastens in einen Wechsel von unkontrolliertem Essen und Erbrechen gerät, wird das gestörte Essverhalten durch mehrere Lebensphasen hindurch praktiziert, ohne dass sie je professionelle Hilfe in Anspruch nimmt. Es hat den Anschein, als ob die Störungsdynamik langsam zurücktritt, je mehr sie neue, Erfolg versprechende Lebensperspektiven entwickelt.
Cornelia hingegen erzählt bis heute von langen Phasen des Leidens, wobei sich die Qualität der Störung zwischenzeitlich verändert und immer wieder von gesteigertem Alkoholkonsum und körperlichen Zusammenbrüchen begleitet ist. Die Lebensgeschichte zeugt von herben Enttäuschungen in sozialen Beziehungen und verdeutlicht am eindrucksvollsten die ‚Multidimensionalität‘ der Essstörungen. Cornelia berichtet auch über negative Erlebnisse mit medizinisch-therapeutischen Interventionen.
Im Fall von Kerstin gelingt es der Betroffenen, über eine lange Strecke an der Bewältigung und Verarbeitung ihrer Essstörung erfolgreich zu arbeiten. Eine langfristig als verletzend erlebte Partnerbeziehung geht der Magersucht voraus, wirkt aber auch über deren Bewältigung hinaus nach. Kerstin nutzt sowohl eine medizinisch-therapeutische Behandlung als auch eine Selbsthilfegruppe zur Bearbeitung ihrer Probleme.
Diana befindet sich, wie einige andere der Interviewten, gerade in einer Phase des akuten Erleidens, in der sie erste Schritte unternimmt, sich professionelle Hilfe zu holen. Ihre Störungssymptomatik ist von großen Gewichtsschwankungen und einem Wechsel von stark kontrolliertem bis zu völlig ungezügeltem Essverhalten geprägt.
Die vier Fallbeispiele sind anschaulich und nachvollziehbar dargestellt.
Am Ende des Buches werden die Ergebnisse in zwei umfangreichen Kapiteln ausgewertet. Im ersten Kapitel werden Entwicklungsphasen und -verläufe diskutiert, im zweiten werden zentrale Beobachtungen zusammengefasst, und es wird ein Plädoyer für eine ressourcenorientierte Perspektive im Umgang mit Menschen mit Essstörungen formuliert.
In dem von Stefanie Richter erarbeiteten Phasenmodell stellt sich die Entwicklung von Essstörungen folgendermaßen dar: Am Anfang der Esserkrankung steht eine „Problemgemengelage“, dann bricht die Störung als verändertes Essverhalten auf, entwickelt in der Folge eine eigene „Störungsdynamik“, an die sich verschiedene Formen der Bearbeitung und Bewältigung anschließen. Die Autorin trägt komplexe Befunde aus den Falldarstellungen zusammen, wie auch die in der Literatur häufig vernachlässigte, aber zentrale Rolle des Vaters (vgl. S. 317). Das Familienklima wird überwiegend als kühl beschrieben, dem Essen komme aber „eine besondere Bedeutung als Ersatz für Emotionalität, als Belohnung, zum Spannungsabbau usw.“ zu (S. 322). Bricht die Essstörung aus, setzen bei den Betroffenen „Entfremdungsprozesse“ ein, bezogen auf den eigenen Körper, die sich verändernden sozialen Beziehungen und vieles mehr (S. 361 ff.). Mit sogenanten „Eigentheorien“ versuchen die Betroffenen, argumentativ ihre Lage zu erklären.
Die Autorin greift im Kern die These von Hilde Bruch auf, wonach Essstörungen ein Bewältigungsversuch für zugrunde liegende Probleme sind. „Das veränderte Essverhalten entwickelt sich für die Biographieträgerinnen ambivalent, einerseits als Leidensprozess mit Zugzwängen, denen sie sich nicht entziehen können, andererseits hat es für sie eine individuelle Bedeutung als Versuch der Problembearbeitung.“ (S. 426). Dabei wird noch einmal hervorgehoben, wie z. B. das Familiensystem die „Entwicklung zur Eigenständigkeit“ behindere, und ein „tief verankertes Unzulänglichkeitsgefühl“ (S. 428) zurückbleibe. Dass die Probleme schließlich in Form einer Essstörung zutage treten, könne damit erklärt werden, dass der Körper „als Projektionsfläche für Unzulänglichkeiten und Probleme in den Vordergrund“ (S. 429) rückt. Schönheitsideale werden in diesem Zusammenhang bestenfalls als sozialisatorischer Hintergrund gesehen (S. 430 f.).
Zum Schluss wird auf die Ressourcen aufmerksam gemacht, die in den Bearbeitungsversuchen und Alltagsbewältigungen der Betroffenen zu finden sind. Es werden auch die Möglichkeiten für einen ressourcenorientierten Umgang mit diesen Frauen freigelegt. Im biographischen Erzählen sieht die Autorin eine Chance, wie sich die Betroffenen reflexiv mit der eigenen Problematik auseinandersetzen und Stärken erkennen könnten.
Das Anliegen der Autorin besteht darin, die ‚Multidimensionalität‘ des Phänomens Essstörungen zu dokumentieren, indem sie sich auf die subjektiven Erlebniswelten der Betroffenen bezieht. Diese Perspektive bricht mit den Konventionen des klinischen Ansatzes und seinen diagnostischen Kriterien. Stattdessen werden über Einzelfallillustrationen hinaus Kriterien und Dimensionen herausgearbeitet, anhand derer die Fälle verstehbar werden.
URN urn:nbn:de:0114-qn082304
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