Vor-Bildhaftes Leben?

Rezension von Angelika Ebrecht

Ursula Welsch, Dorothee Pfeiffer:

Lou Andreas-Salomé.

Eine Bildbiographie.

Leipzig: Reclam 2006.

200 Seiten, ISBN 978–3–379–00877–8, € 19,90

Abstract: Anhand von Bildern, die sie durch Briefe, Tagebucheinträge oder Auszüge aus Veröffentlichungen kommentieren und mit eigenen interpretatorischen Textpassagen konfrontieren, zeichnen Ursula Welsch und Dorothee Pfeiffer den verschlungenen Lebensweg von Lou Andreas-Salomé (1861–1937) nach. Als Leitgedanke liegt implizit die Frage zugrunde, wie Männerbeziehungen die Lebensgestaltung und das Schaffen der Schriftstellerin, Theoretikerin und Psychoanalytikerin beeinflussten.

Die Literaturwissenschaftlerin und Lektorin Ursula Welsch legt hier zum dritten Mal einen biographischen Band über Lou Andreas-Salomé vor, diesmal gemeinsam mit Dorothee Pfeiffer, der Nachlassverwalterin und Tochter Ernst Pfeiffers, des letzten Freundes von Lou Andreas-Salomé. Zuvor publizierte sie mit Michaela Wiesner(-Bangard) 1988 im Verlag Internationale Psychoanalyse Lou Andreas-Salomé: Vom „Lebensurgrund“ zur Psychoanalyse, sowie 2002 bei Reclam (Leipzig) Lou Andreas-Salomé: „… wie ich dich liebe, Rätselleben“.

Der Band präsentiert umfangreiches, bislang unveröffentlichtes Bildmaterial, das interessant, gut ausgewählt und sorgfältig reproduziert ist. Aufgrund der Konzentration auf Fotos von Menschen, Orten und Textdokumenten erweckt er den Eindruck, nach Art eines privaten Fotoalbums oder eines Scrap-books den Lebensweg der berühmten Frau wieder so in Erinnerung rufen zu können, als wäre er der eigene gewesen. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass jedes der abgebildeten Dokumente durch kurze Auszüge aus Briefen, Tagebucheinträgen oder Veröffentlichungen kommentiert wird, die den intimen Charakter des Dargestellten unterstreichen. Diese Auszüge erwecken den Eindruck, sie seien in den Sinnzusammenhang eines Tagebuchs oder Briefwechsels eingeordnet. Doch durchbrechen die parallel dazu laufenden und zwischen die Bilderfolgen eingestreuten Textpassagen diese Illusion. Sie versuchen, die in den Bildern und Kommentaren momenthaft still gestellten Lebensabschnitte zu erläutern, zu verflüssigen und sie lose in die Entwicklungslogik biographischer Interpretationen einzufädeln.

Problematisch erscheint, dass diese Interpretationen, wiewohl sie versuchen, einen psychoanalytischen Deutungshorizont zu eröffnen und die psychische Genese der Lebensprobleme von Andreas-Salomé anzudeuten, dabei doch von einer durchgängigen Tendenz zur Idealisierung geprägt sind. Selbst wenn man den Autorinnen nicht den Vorwurf machen möchte, es handele sich hierbei um eine ‚wilde Analyse‘, also eine Analyse ohne analytischen Rahmen, und selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Interpretationen sich auf das im Buch entfaltete symbolisch bildhafte Material beziehen, hinterlässt das Ganze einen faden Beigeschmack. Denn das Buch lässt sich durchblättern wie eine illustrierte Frauenzeitschrift, die versucht, das Interesse ihrer Leserinnen zu bannen. Dies geschieht, indem hier wie dort die Attraktivität von Frauen im Blick auf (berühmte) Männer entworfen und gemessen wird.

In ihrer Gliederung unterscheiden die Autorinnen folgende Etappen des Lebensweges von Lou Andreas-Salomé: „Wachsen und Werden (1861 bis 1880)“, „Aufbruch in die Welt (1880 bis 1886)“, „Frauenwege (1886 bis 1897)“, „Die Wurzeln der Seele (1897 bis 1902)“, „Erotik und Aufklärung (1902 bis 1911)“, „Am Ende des Wegs (1911 bis 1921)“, „Gelebtes Alter (1921 bis 1937)“. Diese etwas biedere Gliederung, die sich an den Wendepunkten im Leben Lou Andreas-Salomés orientiert, evoziert das Bild eines Menschen, dem es stets um neue Erfahrungen und innere Entwicklung ging. Dabei dient als Leitgedanke implizit die Frage, wie Männerbeziehungen die Lebensgestaltung und das Schaffen der Schriftstellerin, Theoretikerin und Psychoanalytikerin beeinflussten. Ausgehend davon, dass „sich die Kleine Louise von Salomé bereits früh einen sehr persönlichen ‚lieben Gott‘“ (S. 8) phantasierte, spannen die Autorinnen einen Bogen platonisch-geistiger Beziehungen zu Männern, die zunächst vergeblich versuchten, den spirituellen in sexuellen Kontakt zu überführen. Beginnend mit der Bewunderung für den holländischen Prediger Hendrik Guillot über die Freundschaft zu Paul Rée und Friedrich Nietzsche bis hin zu ihrer Ehe mit dem späteren Professor der Iranistik Friedrich Carl Andreas waren diese Beziehungen den Autorinnen zufolge rein geistiger Natur. Welche Quellen oder Äußerungen sie zu dieser Vermutung veranlasst haben und welche dann die Interpretation erlauben, Lou Andreas-Salomé habe sexuelle Beziehungen etwa zu Rainer Maria Rilke und Friedrich Pineles unterhalten, wird jedoch nicht deutlich.

Auch die psychoanalytisch inspirierten Deutungsversuche der konflikthaften Männerbeziehungen Lou Andreas-Salomés erscheinen oft ungenau und oberflächlich, was etwa an folgender Passage deutlich wird: „In diesen unbeschwerten Tagen wurde die 36jährige Lou Rilkes Geliebte. Ob Rilke ihr erster Liebhaber war, ist nicht zweifelsfrei festzustellen – er selbst glaubte jedoch fest daran. Weshalb Lou nun doch zu einer körperlichen Beziehung bereit war, steht nur zu vermuten. Hatte sie sich bislang nur älteren Männern verbunden gefühlt, bei denen unter Umständen das Inzest-Tabu wirksam war, oder Männern, die sie körperlich nicht reizten, so fand sie mit Rilke erstmals einen wesentlich jüngeren Mann anziehend – ein Muster, das sich später wiederholte.“ (S. 91) Nicht nur erscheint diese Passage recht indiskret; sie enthält auch Ungereimtheiten, die unkommentiert bleiben. Denn: Woraus ist zu entnehmen, dass Lou Andreas-Salomé sich zuvor nur älteren Männern verbunden gefühlt hat? Was sollte der Grund dafür gewesen sein, das Inzest-Tabu zu achten und nicht vielmehr im Sinne eines nicht bewältigten ödipalen Konfliktes auch zu überschreiten? Und wie ist dann die plötzliche Hinwendung zu wesentlich jüngeren Männern zu erklären? Solche und ähnliche Fragen lässt das Buch ungestellt und unbeantwortet, so dass die Lektüre zwar eine gute Portion Neugierde weckt, aber auch den schalen Beigeschmack nicht wirklich durchgearbeiteter Gedanken hinterlässt.

Das betrifft dann vor allem auch die späte Hinwendung Lou Andreas-Salomés zur Psychoanalyse. Was etwa motiviert die Behauptung (S. 95), die „Beschäftigung mit dem medizinischen und psychologischen Wissen ihrer Zeit“ sei ausgegangen „von dem erschreckenden Erleben“ der „psychischen Störungen“ Rilkes, und dies habe sie schließlich zur Psychoanalyse geführt? Ebenso kurzschlüssig vereinfachend erscheint die Behauptung (S. 141), die Schriftstellerin und Autorin theoretischer Texte habe in der psychoanalytischen Theorie nur verzögert „eine gewisse Aufmerksamkeit erfahren“, weil sie sich „nie exakt an die psychoanalytische Terminologie“ gehalten habe, was „die Lektüre ihrer Texte erheblich“ erschwere. Denn diese Behauptung verlagert das Unvermögen lediglich auf eine Seite (die der psychoanalytischen Theorie), ohne in Betracht zu ziehen, dass die Texte von Andreas-Salomé in theoretisch-systematischer Hinsicht für die Psychoanalyse nicht sehr viel Neues zu bieten haben, was freilich nicht bedeutet, dass sie nicht anregend wären und wichtige theoriegeschichtliche Bezüge (etwa zur Lebensphilosophie) deutlich machten.

Nicht zuletzt müssen psychoanalytisch interessierte Leser/-innen auch die Wertung (S. 169) in Frage stellen, Lou Andreas-Salomé sei eine Frau gewesen, „die sich ihren Lebensweg entgegen aller Konvention gesucht hat – nur sich selbst und ihren inneren Zielen verpflichtet“. War dies denn wirklich ein so vor-bildliches Leben? Handelt es sich bei dieser Wertung nicht um eine einseitige Idealisierung, die das Leiden, das ein solcher Lebensweg für einen selbst und andere bedeutet, aus dem Blick verliert? Nachgerade naiv erscheint angesichts der durch die Psychoanalyse gewonnenen Einsichten in die unbewusste Dynamik psychischer Prozesse und familiärer Beziehungen die Feststellung: „Von außen betrachtet gibt es keinerlei Anzeichen, die in Lous Kindheit auch nur die geringste seelische oder körperliche Grausamkeit vermuten lassen.“ (S. 7)

Ob dieses Buch außer auf ein milde voyeuristisches auch noch ein tiefer gehendes Erkenntnisinteresse zielt, sei dahingestellt. Aber immerhin inspirieren die Bilder dazu, sich dem Strom eigener Assoziationen zu überlassen und das Leben der berühmten Frau quasi wie einen Traum vor dem inneren Auge noch einmal erstehen zu lassen. Das entbehrt nicht eines gewissen Reizes. Vorzuziehen ist freilich das ältere, sehr viel reflektiertere Buch von 1988.

URN urn:nbn:de:0114-qn082119

PD Dr. Angelika Ebrecht-Laermann

E-Mail: ebrechtang@aol.com

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