Gudrun Wolfgruber, Heidi Niederkofler, Margit Niederhuber, Maria Mesner (Hg.):
Kinder kriegen – Kinder haben.
Analysen im Spannungsfeld zwischen staatlichen Politiken und privaten Lebensentwürfen.
Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag 2007.
284 Seiten, ISBN 978–3–7065–4073–5, € 29,90
Abstract: Das Buch basiert auf Beiträgen zur internationalen Tagung „The Gender of Politics: The Example of Reproduction Policies in Austria, Finland, Portugal, Romania, Russia and the US“, die vom 13. März bis 15. März 2003 in Wien stattgefunden hat. Der Sammelband enthält vierzehn Aufsätze von Wissenschaftlerinnen aus sechs Ländern zu den Themen „Abtreibung“, „Reproduktionsmedizin“ und „Kinderbetreuung“. Vor dem Hintergrund der aktuellen bundesdeutschen Debatte um die „Kinderkrippen“ und das „Elterngeld“ ist das Werk uneingeschränkt zu empfehlen.
„Kinder kriegen die Leute immer…“ Diese lakonische Äußerung des deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, getätigt Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts, dürfte bei der heutigen Politiker/-innengeneration nur noch ein ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen. Spätestens Anfang des neuen Jahrtausends musste man nämlich feststellen, dass die Babyboomgeneration ganz andere Pläne hatte, und daher wird spätestens im Jahre 2030 ein Phänomen eintreten, das als der „demographische Faktor“ beschrieben wird. Angesichts dessen ist ‚Kinder kriegen‘ heutzutage längst keine Privatsache mehr – wenn sie es denn je war.
Insofern verspricht der Sammelband Kinder kriegen – Kinder haben. Analysen imSpannungsfeld zwischen staatlichen Politiken und privaten Lebensentwürfen eine durchaus vielversprechende Lektüre zu sein. Das Buch basiert auf Vorträgen, die im Rahmen der internationalen Tagung „The Gender of Politics: The Example of Reproduction Policies in Austria, Finland, Portugal, Romania, Russia and the US“ im Frühjahr 2003 in Wien gehalten wurden.
Ziel der Veranstaltung war es, ein möglichst vielfältiges Spektrum von Reproduktionspolitiken zu betrachten (vgl. S. 7). Dabei standen zwei Themenbereiche im Zentrum des Interesses: Zum einen wurde analysiert, wer berechtigt ist zu entscheiden, welche Personengruppe unter welchen Umständen und Bedingungen Kinder bekommen soll (vgl. S. 7). Zum anderen wurde untersucht, welcher Entscheidungsträger das Urteil fällt, ob und welche Ressourcen – etwa für Betreuungsarbeit – die verschiedenen Personengruppe nach der Geburt eines Kindes erhalten (vgl. S. 7). Diese Frage ist momentan in Deutschland hochaktuell. Ein Grund mehr, die Beiträge der vierzehn Referentinnen aus sechs Ländern aufmerksam zu studieren.
Hierbei ist zunächst auffällig, dass trotz des internationalen Charakters der Veranstaltung alle Artikel auf Deutsch erschienen sind. Das ist keineswegs selbstverständlich, jedoch begrüßenswert, da somit auch eine Leser/-innenschaft außerhalb der Universitäten gewonnen werden kann. Ferner ist äußerst positiv hervorzuheben, dass alle Aufsätze über einen sehr ausführlichen „Anmerkungsapparat“ und weiterführende Literaturhinweise verfügen.
Die einzelnen Aufsätze sind paarweise nach Ländern angeordnet. Dabei werden die genannten Problemstellungen von je zwei Forscherinnen pro Land erörtert. Diese zwölf Artikel bilden die Quintessenz der Untersuchung. Sie werden flankiert von einem Vorwort sowie zwei Zusammenfassungen. Die Einteilung der Aufsätze ist gewöhnungsbedürftig. So werden die Leser/-innen zuerst mit der Ressourcen- und dann mit der Reproduktionspolitik konfrontiert. Das ist weder logisch noch lesefreundlich, da nicht selten der erste Artikel Wissen voraussetzt, das erst der zweite Aufsatz vermittelt. Daher empfiehlt es sich, die Lesereihenfolge dergestalt zu ändern, dass man den drei großen thematischen Schwerpunkten – „Abtreibung“, „Reproduktionsmedizin“ sowie „Kinderbetreuung“ – folgt und ‚quer liest‘.
Die Abtreibungsfrage ist eines der größten – wenn nicht das größte – Thema der (globalen) Frauenbewegung des letzten Jahrhunderts. Daher findet man in allen sechs Beiträgen zum Thema einen landesspezifischen Rückblick. Das ist zwar interessant, verstellt jedoch gelegentlich den Blick auf die Gegenwart.
So votierte die portugiesische Bevölkerung erst im Februar 2007 mehrheitlich für eine Entkriminalisierung der Abtreibung und die Einführung der Fristenlösung. Virgínia Ferreiras‘ Artikel über „Reproduktionspolitik in Portugal nach 1974“ entspricht daher in weiten Teilen nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten (vgl. S. 63–76). Darüber hinaus kann nur angeraten werden, die kurze Zusammenfassung zu lesen (S.74), da Ferreira sich in einem undurchdringlichen Konglomerat an Fragestellungen, Thesen und Schlussfolgerung verirrt, indem sie neben den Themen Mutterschutz, Gleichberechtigung und Abtreibung am Schluss einen Bildband von Lennart Nilsson analysiert.
Einen wesentlich stringenteren Ansatz wählen hingegen die anderen Autorinnen. Allen voran überzeugt Linda Gordon mit ihrem Beitrag „Entscheidungsfreiheit versus ‚pro-Life‘. Der politische Kampf um die Reproduktionsrechte in der USA“ (S. 77–107). Die Ergebnisse ihrer Analyse sind beängstigend – glaubte man doch, die „Pro-Life-Bewegung“ mit ihren Aufrufen zu Gewalttaten und Anschlägen gegen Kliniken und Ärzte überwunden zu haben. Das ist mitnichten der Fall, denn in den USA werden die Reproduktions- und damit auch die Abtreibungsdebatten nach wie vor vehement tendenziell religiös-weltanschaulich geführt (vgl. S. 86). Die Auseinandersetzungen werden beherrscht von Begrifflichkeiten wie „gottgegebener Geschlechterordnung“ (S. 101), „sündhafter Sexualität“ (S. 101), „Unmoral“ (S. 101) und nicht zuletzt vom Ziel der „Förderung der Enthaltsamkeit“ (S. 97). Wer trotzdem schwanger wird, kann nicht auf staatliche Hilfe hoffen, da die Sozialhilfeleistungen drastisch gekürzt worden sind (vgl. S. 99). Dabei, so betont Gordon, sind die Akteure der Sozialhilfekürzungen nicht notwendigerweise gegenüber Frauen negativ eingestellt oder respektlos (vgl. S. 101). Vielmehr verfolgen sie das Ziel, das (vermeintliche) Ideal der Ehe und Familie kompromisslos zu verteidigen.
Im Gegensatz zu der religiös motivierten Einstellung diverser US-Regierungen stand in der Vergangenheit sowohl in Rumänien und Russland wie auch in Finnland das Überleben der Nation im Focus des staatlichen Interesses. Bezüglich des liberalen Finnlands ist das eine überraschende Erkenntnis, die aber von Ritva Nätkin in ihrem Beitrag „Geschlechtergerechtigkeit und Mutterschutz als Widerspruch: Reproduktionspolitik in Finnland“ überzeugend belegt wird (vgl. S. 29–46, bes. S. 36). Die Konsequenzen von Ceaucescus Diktum vom „Fötus als sozialistischer Besitz der rumänischen Nation“ werden in ihrer ganzen (erschreckenden) Bandbreite von Adriana Baban in ihrem Artikel „Weibliche Gesundheit und Reproduktionspolitik in Rumänien“ anschaulich dargestellt (vgl. S. 153–171). Es empfiehlt sich, sodann mit Michele Rivkin-Fishs Beitrag „Reproduktion und Nationalismus: Politische Strategien in Russland“ fortzufahren (S. 187–214). Hier drängen sich ländergeschichtliche Parallelen auf, die bis heute fortbestehen.
Nicht nur für Russland und Rumänien gilt, dass anstelle der staatlichen und national-ideologischen Begehrlichkeiten nach „jungen Staatsbürgern“ nunmehr diejenigen des „Weltmarktes nach Eizellen“ getreten sind. Aurelia Weikerts verdeutlicht in ihrem Artikel „In-Vitro-Fertilisation, Eizellenverkauf und Leihmutterschaft. Die neuen Reproduktionstechnologien in Österreich“ die damit verbundenen Probleme, wenn sie die rigide österreichische Gesetzgebung etwa bezüglich der Eizellenspende thematisiert (vgl. S. 235–241). Freilich hätte man sich an diesem Punkt eine Verknüpfung zu den beiden vorab genannten Aufsätzen von Baban und Rivkin-Fish sehr gewünscht. Noch bedauerlicher ist es jedoch, dass in dem abschließenden Beitrag von Maria Andrea Wolf „Medikalisierung der Reproduktion“ weder die wirtschaftlichen Querverbindungen der inzwischen länderübergreifenden Klinken für Reproduktionsmedizin noch die Interaktionen der unterschiedlichen Akteure auch nur ansatzweise aufgezeigt werden (vgl. S. 255–279), um so mehr, weil die betroffenen Frauen (und Männer) aufgrund der restriktiven österreichischen Gesetzgebung eben in jene östlichen Nachbarländer wie Rumänien und Russland ausweichen. „Kinder kriegen – Kinder haben“ avanciert damit zu einem transeuropäischen, wenn nicht globalen Problem.
Das Thema „Kinderbetreuung“ ist unweigerlich mit der Erwerbsquote verknüpft. Wer sich entschließt – bzw. entschließen muss – nach der Geburt eines Kindes in den Beruf zurückzukehren, sollte sich tunlichst eine vertrauensvolle Betreuungsperson bzw. Betreuungseinrichtung suchen. „Kinder kriegen“ wird damit nicht selten zum finanziellen und organisatorischen Drahtseilakt. Vor diesem Hintergrund verweist der Titel von Teija Hautanens Beitrag: „Das Recht eines jeden Kindes auf öffentliche Tagesbetreuung in Finnland“ (S. 15–27) auf eine überaus beachtenswerte Situation: In Finnland gibt es für jedes Kind einen staatlich verbrieften und folglich einklagbaren Rechtsanspruch auf einen Platz in einer öffentlichen Kindertagesbetreuungsstätte! In ihrem innovativen Artikel verschweigt Teija Hautanen nicht, dass die Erkämpfung dieses Ziels lang und schwer war. Gerade die Darstellung dieser Entwicklung erweist sich jedoch als ausgesprochen fruchtbar für die momentan in Deutschland geführte Diskussion bezüglich der „Krippenplätze“ und der „Elternzeit“.
Eine völlig gegensätzliche Situation beschreibt Sílvia Portugal in ihrem Bericht „Frauen, Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsgesellschaft in Portugal“ (S. 47–62). Portugal hat eine der höchsten weiblichen Erwerbsquoten innerhalb der Europäischen Union aufzuweisen. Hingegen erweist sich die staatliche Kinderbetreuung als Desaster (vgl. S. 57). Die erwerbstätigen Frauen sind gezwungen, ein „Netzwerk“ zu knüpfen, in dem Großmütter, Schwägerinnen, Tanten und Cousinen zur Kinderbetreuung herangezogen werden. Dieses fragile System ist jedoch störanfällig und droht – sobald etwas Unvorhergesehenes geschieht – zu kollabieren (vgl. S. 57). Frauen jeglichen Alters werden somit in einem großen Maß zur „Reservearmee“ degradiert, die neben der eigentlichen „Reproduktion“ billige und qualitativ hochwertige Dienstleistungen unter flexiblen Bedingungen liefern und somit den staatlichen Sektor weder politisch noch finanziell belasten (S. 57 f.).
Der vorliegende Sammelband belegt eindrucksvoll die politische, gesellschaftliche und rechtliche Situation, in die sich (ost-)europäische und amerikanische Frauen begeben, wenn sie Kinder ‚kriegen wollen‘, ‚kriegen sollen‘ oder eventuell sogar ‚kriegen müssen‘. Keine Beachtung fanden hingegen die Lebensumstände von Frauen in der so genannten ‚Dritten Welt‘ oder den ‚Schwellenländern‘. Hier existiert eine (heikle) Forschungslücke – oder ist es nicht bereits vielmehr aus hiesiger Sicht ein ‚blinder Fleck‘? Wer beispielsweise in Rom in den Vormittags- und Nachmittagsstunden die Parkanlagen besucht und die große Anzahl ostasiatischer Kindermädchen mit ihren adrett gekleideten Schützlingen beobachtet, sieht bereits die zukünftige Entwicklungsform des „Kinder kriegen – Kinder haben“ vor sich, in der Mütter aus materieller Not ihre eigenen Kinder verlassen, um sich den Kindern anderer Frauen zu widmen.
URN urn:nbn:de:0114-qn082058
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