Peter A. Berger, Heike Kahlert (Hg.):
Der demographische Wandel.
Chancen für eine Neuordnung der Geschlechterverhältnisse.
Frankfurt am Main/New York: Campus 2006.
312 Seiten, ISBN 978–3–593–38194–7, € 29,90
Abstract: Der von Peter A. Berger und Heike Kahlert herausgegebene Sammelband umfasst Analysen, die sich aus Geschlechterperspektive mit dem demographischen Wandel im nationalen und internationalen Kontext beschäftigen. Durch seine ideologie- und herrschaftskritischen sowie empirisch fundierten Beiträge zum demographischen Wandel trägt das Buch zur Versachlichung der medial wie wissenschaftlich aufgeheizten Debatte bei. Die Autor/-innen widersprechen allesamt der Tendenz, soziale Probleme zu demographisieren, und fordern stattdessen eine stärkere Historisierung, Kontextualisierung und eine geschlechtssensible Analyse und Interpretation demographischer Entwicklungen.
Der demographische Wandel steht seit einigen Jahren ganz oben auf der politischen Agenda. Doch obwohl Themen wie der Geburtenrückgang oder der Alterungsprozess hochgradig geschlechtlich strukturiert sind, gibt es bislang kaum gendersensible Analysen. Diese Lücke schließen Peter A. Berger und Heike Kahlert mit einem Sammelband, der auf eine Vortragsreihe an der Universität Rostock zurückgeht.
Den ersten von drei inhaltlichen Blöcken – „Demographisierung und reproduktives Handeln“ – beginnt Diana Hummel mit einem Beitrag zum internationalen bevölkerungspolitischen Diskurs, der hierzulande häufig ausgeblendet wird und für den sie die „Demographisierung gesellschaftlicher Probleme“ feststellt. Gesellschaftliche Probleme wie Hunger oder Armut werden allzu oft auf demographische Prozesse zurückgeführt und dann politisch als „Sachzwänge“ verhandelt. Feministinnen haben die daraus resultierenden technokratischen Steuerungsversuche des generativen Verhaltens von Frauen kritisiert und Forderungen nach gesellschaftlicher Kontextualisierung demographischer Entwicklungen und generativer Selbstbestimmung gestellt. Damit rücken sozio-ökonomische und politische Bedingungen der Bevölkerungsdynamik und die Geschlechterverhältnisse inklusive der Macht- und Herrschaftsstrukturen in den Mittelpunkt.
Christoph Butterwegge konzentriert sich in seinem Beitrag zur „Demographie als Ideologie“ auf den Diskurs um die Generationengerechtigkeit. Diesen Begriff entlarvt er als politischen Kampfbegriff, mit dessen Hilfe von sozialer Ungleichheit sowie bestehenden Macht-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen abgelenkt und ein neoliberaler Um- und Abbau des Sozialsystems legitimiert werde. Butterwegge rekonstruiert akribisch die derzeitige politische und mediale Debatte um „Prognosen“ zur Bevölkerungsentwicklung sowie demographische Begründungen sozialpolitischer Reformen und konstatiert eine quantitative und qualitative Bevölkerungspolitik, die unter dem Etikett der „nachhaltigen Familienpolitik“ betrieben wird. Auf die für dieses Themenfeld wichtige Geschlechterproblematik geht er allerdings nur an einigen Stellen des Artikels ein.
Regina-Maria Dackweiler beschäftigt sich mit den Bedingungen reproduktiven Handelns im Kontext wohlfahrtsstaatlicher Geschlechterregime. Sie zeigt, dass im konservativen Wohlfahrtsstaat Spannungen und Widersprüche zwischen Geschlechterleitbildern und institutionellen Bedingungen bestehen, die der Realisierung von Kinderwünschen entgegenstehen. Eine Lösung sieht Dackweiler in der Änderung der wohlfahrtsstaatlichen Strukturen durch eine Einbeziehung von Care-Arbeit in den Staatsbürger/-innenstatus.
Der zweite Teil des Sammelbandes ist dem Thema „Kinderlosigkeit, Kinderwunsch und politische Steuerung“ gewidmet. Günter Burkart zeichnet nach, wie die 68er-Bewegung samt Bildungsexpansion und Frauenbewegung zu einer Kultur der Selbstthematisierung und des Zweifels geführt hat, die wiederum zum Geburtenrückgang und zu Kinderlosigkeit beigetragen hat. Auch der neue Kapitalismus fördere die Selbstverwirklichungswerte „der 68er“: Autonomie, Authentizität und Kreativität, doch die flexible und mobile Lebensweise – egal ob als Ich-AG oder in den Managementetagen – hemme durch prekäre und instabile Arbeits-, Beziehungs- und Lebensperspektiven Familiengründungsprozesse. Diesen Befund bestätigt auch Waltraud Cornelißen, die sich mit Kinderlosigkeit und den Bedingungen von Kinderwünschen beschäftigt. In ihrer empirisch fundierten Analyse konstatiert sie einen gestiegenen Wunsch nach Kindern bei den heute unter 30-Jährigen, der aber aufgrund instabiler Partnerschaften, unzureichender institutioneller Rahmenbedingungen und geringer (ökonomischer) Planungssicherheit sowie eines familienfeindlichen Erwerbslebens oftmals nicht (oder erst spät) realisiert wird.
In dem Beitrag von Ilona Ostner wird die Familienpolitik in Westdeutschland und der DDR seit den 50er Jahren anhand der frauen- bzw. geschlechterpolitischen Ausrichtung rekonstruiert. Während die westdeutsche Familienpolitik bis dato stark familialisierend gewesen sei, habe sich dies mit der rot-grünen Bundesregierung geändert. Familienpolitik wirke seitdem stärker entfamilialisierend, stelle die Erwerbstätigkeit von Müttern und die außerhäusliche Betreuung in den Vordergrund. Handlungsleitend seien dabei vor allem demographische und arbeitsmarktpolitische Motive, weniger die Wünsche von Müttern (und Vätern).
Im dritten Teil des Buches stehen Arbeitsteilung und Zeitpolitik im Vordergrund. Im Gegensatz zu Butterwegge wirbt Hans Bertram für eine bevölkerungsorientierte, nachhaltige Familienpolitik, vor allem für ein einkommensabhängiges Elterngeld und eine neue Zeitpolitik. So schlägt er nach einem europäischen Vergleich zu Konzepten einer nachhaltigen Familienpolitik vor, die Rushhour in der Mitte des Lebens zu entzerren. Kritisch anzumerken ist, dass das Konzept der nachhaltigen Familienpolitik zwar im geschlechtsneutralen Gewand daherkommt, aber faktisch auf Frauen zugeschnitten ist. Zudem funktioniert ein solches sozial abgesichertes Lebenszeitmodell nur, wenn es gelingt, Erwerbstätige mit Fürsorgeverpflichtungen als neues gesellschaftspolitisches Leitbild zu etablieren, wie Ute Klammer in ihrem Artikel zu einer lebenslauforientierten Sozialpolitik richtig feststellt. In einer Längsschnittperspektive zeigt Klammer länder- sowie geschlechtsspezifische Unterschiede von Erwerbsverläufen und Zeitverwendungsmustern und plädiert für eine geschlechtergerechte Lebenslaufpolitik.
Alexandra Scheele konstatiert in ihrem Artikel, dass der demographische Wandel zwar potenziell Chancen für eine geschlechtergerechte Umgestaltung von Arbeits- und Lebensbedingungen bietet, doch infolge seiner „faktischen Inszenierung als Krisendiskurs“ (S. 267) einfache Lösungen postuliert, die den geschlechterpolitischen Herausforderungen nicht gerecht werden. In ihrer empirischen wie ideologiekritischen Analyse stellt sie fest, dass zwar eine „Feminisierung von Arbeit“ im Sinne eines Trends zu weniger formalisierten Arbeitsverhältnissen für Männer und Frauen stattgefunden habe, doch die Vereinbarkeitsfrage werde weiterhin als „Frauenproblem“ verhandelt. Die „Maskulinisierung“ der Nicht-Erwerbsarbeit und die Anpassung von Erwerbsarbeit an Bedarfe der Nicht-Erwerbssphäre stünden dagegen noch aus.
Abschließend widmet sich Heike Kahlert den Perspektiven der Frauen- und Geschlechterforschung in der Auseinandersetzung mit dem demographischen Wandel. Sie kritisiert zu Recht, dass das Eintreten für Geschlechtergleichheit angesichts der ökonomischen und bevölkerungspolitischen Fokussierung auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Hintergrund gerückt und unter Umständen sogar von antiemanzipatorischen Positionen verdrängt werde.
Das Buch trägt durch seine ideologie- und herrschaftskritischen sowie empirisch fundierten Analysen des demographischen Wandels im nationalen wie internationalen Kontext zur Versachlichung der medial wie wissenschaftlich aufgeheizten Debatte bei. Die Autor/-innen widersprechen allesamt der Tendenz, soziale Probleme zu demographisieren, und fordern stattdessen eine stärkere Historisierung, Kontextualisierung und eine geschlechtssensible Analyse und Interpretation demographischer Entwicklungen. Die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse geht nicht nur mit der gestiegenen Erwerbstätigkeit von Frauen und der Zunahme der Kinderlosigkeit einher, sie ist gleichzeitig Ursache einer neuen biographischen Wertschätzung familienorientierter Lebensentwürfe, deren Realisierung allerdings angesichts der ausbleibenden Restrukturierung von Arbeit und Leben auf sich warten lässt. Hinsichtlich der gleichstellungspolitischen Potenziale des demographischen Wandels bleiben die Autor/-innen insgesamt relativ skeptisch in ihren Einschätzungen. Ansatzpunkte und Chancen für egalitäre Geschlechter-Arrangements sehen sie in der staatbürgerschaftlichen Anerkennung von Care-Arbeit (Dackweiler, Cornelißen), im Modell eines Lebensarbeitszeitkontos zum Ansparen von Zeit und Geld für Ausbildungs-, Erwerbs-, Familien- und Weiterbildungsphasen, wie es 2006 in den Niederlanden eingeführt worden ist (Bertram, Klammer), sowie im Konzept der in der feministischen Arbeitsforschung entwickelten „Soziabilität“ (Scheele), dem zufolge der Zusammenhang von Erwerbsarbeit mit anderen Lebensbereichen in den Blick genommen werden muss.
URN urn:nbn:de:0114-qn082034
Dr. Diana Auth
E-Mail: diana.auth@sowi.uni-giessen.de
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