Notwendige Übersetzungsprozesse zwischen Naturwissenschaften und Geschlechterforschung

Rezension von Corinna Bath

Smilla Ebeling, Sigrid Schmitz (Hg.):

Genderforschung und Naturwissenschaften.

Einführung in ein komplexes Wechselspiel.

Wiesbaden: VS 2006.

385 Seiten, ISBN 978–3–531–14912–7, € 39,90

Abstract: Mit zunehmender Institutionalisierung der Geschlechterforschung in den Naturwissenschaften ist die Veröffentlichung eines einführenden Lehrbuches, das für Studierende naturwissenschaftlicher Disziplinen und der Gender Studies geeignet ist, notwendig geworden. Der vorgelegte Sammelband stellt sich der doppelten Herausforderung, interdisziplinäre Übersetzungsarbeit in beiderlei Richtung zu leisten, und meistert diese - mit kleineren Abstrichen.

Herausforderungen

Als die beiden Herausgeberinnen Sigrid Schmitz und Smilla Ebeling in 1990er Jahren anfingen, Seminare zur Geschlechterforschung in den Naturwissenschaften anzubieten, war dieses Gebiet in der deutschen Hochschullandschaft noch ein weißer Fleck. Dass sie heute ein erstes deutschsprachiges Lehrbuch in diesem Feld vorlegen können, lässt sich als ein Indiz werten, dass hier ein viel versprechendes neues Fachgebiet entstanden ist. Dieser Erfolg auf der institutionellen Ebene darf jedoch nicht über die Herausforderungen hinwegtäuschen, die sich im Rahmen universitärer Lehre zeigen. Die Studierenden der Naturwissenschaften wären – wie Schmitz und Ebeling betonen – aufgrund ihrer fachspezifischen Sozialisation „überfordert, wenn sie theoretische Arbeiten textanalytisch bearbeiten, verstehen und dann auf das eigene Fachgebiet anwenden sollten. Eine kritische und reflexive Betrachtung auf das eigene Fachgebiet wird in den Naturwissenschaften in der Regel nicht gelehrt, geschweige denn innerhalb der eigenen Fachkultur betrieben“ (S. 8). Die Studierenden der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften hätten demgegenüber zwar einen leichteren Zugang zu komplexen feministischen Theorien. Allerdings überfordere es sie, „den ‚Wahrheitsgehalt‘ naturwissenschaftlicher Aussagen über Geschlechterdifferenzen in den Genen, in den Hormonen, um Gehirn oder im Körper kritisch zu beurteilen.“ (S. 9). Während die einen epistemologische Hindernisse überwinden müssten, hätten die anderen ein tiefer gehendes Verständnis der Naturwissenschaften zu entwickeln, um Brüche in den scheinbar logischen, naturwissenschaftlichen Beweisen für angeblich natürliche Geschlechterunterschiede entlarven zu können.

Der vorgelegte Sammelband stellt sich der unbequemen Aufgabe der Vermittlungsarbeit. Er führt in die Biologie, Physik, Chemie und Mathematik insoweit ein, dass Vergeschlechtlichungsprozesse in Organisationsstruktur und Fachinhalten ebenso sichtbar werden können wie umgekehrt die Produktion einer natürlichen, bipolaren Geschlechterdifferenz durch das naturwissenschaftliche Fachwissen selbst. Der Band ist in zwei Teile gegliedert. Der erste umfasst Fallstudien, die immanente Kritiken bestimmter Fachgebiete enthalten. Im zweiten Teil werden diese Fallstudien ergänzt durch verständlich dargestelltes Grundlagenwissen aus der Geschlechterforschung, den Science Studies sowie der Wissenschaftstheorie und durch weiteres sozial- und kulturwissenschaftliches und methodisches Handwerkzeug.

„Verschweigungen“ von Vielfalt, Wandel und Widersprüchen in der Biologie

Im ersten Teil dominieren Studien zur Naturalisierung von Geschlecht in den Lebenswissenschaften. Anhand von Theorien über die Entwicklung des menschlichen Geschlechtskörpers, über Gene, Hormone und Gehirne führen die Herausgeberinnen beispielhaft vor, wie biologisch-medizinisches Wissen dazu genutzt wird, Geschlechterdifferenz, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als „Fakten“ zu produzieren – zum Teil, obwohl daraus eklatante Widersprüche in den Feldern selbst resultieren. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf diejenigen zirkulären Argumentationslogiken gelegt, die bestimmte menschliche Verhaltensweisen (z. B. Heterosexualität, ‚Seitensprünge‘ von Männern, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) anhand biologischer Beschreibungen von Tierarten oder mit Hilfe soziobiologischer Geschichten der Menschwerdung zu legitimieren versuchen. Ein großer Wert des vorgelegten Buches besteht darin, solcherart Verkürzungen bzw. „Verschweigungen“ (S. 357) in der biologischen Theoriebildung und Sprache konkret sichtbar und damit nachvollziehbar zu machen. Dieses aufschlussreiche Material wird ergänzt durch Metaphernanalysen, welche die Vergeschlechtlichung von Theorie und Terminologie der Biologie anschaulich herausarbeiten.

Materialität und Zeichen: Andere Ebenen der Geschlechteranalyse

In weiteren Beiträgen werden die Disziplinen Mathematik, Chemie und Physik inspiziert, die zumeist andere Ebenen der Vergeschlechtlichung aufweisen als diejenigen, die für die Biologie zentral sind. Christina Hackmann berichtet von geradlinigen Karrierewegen, männlichen Vorbildern und früher Förderung in den Biographien der von ihr untersuchten Mathematikprofessorinnen. Für die Welt der Elementarteilchenphysik zeigt Helene Götschel, dass männliche Genealogien und religiöse Motivationen vorherrschen und Geschlecht in den hierarchischen Aufbau sowie die Sprache eingeschrieben ist. Auch für die Chemie liegen primär Erkenntnisse über „Frauen in der Wissenschaft“ und die männlich geprägte Fachkultur vor, wie Ines Weller feststellt. Jedoch versteht sie die Ausblendungen des gesellschaftlichen Umgangs der unter Laborbedingungen erzeugten und getesteten Stoffe und deren Verhaltens in der materiellen Umwelt als Ausdruck der Geschlechterordnung, welche die Nutzung und Reproduktion als weiblich abwertet. Ähnliches berichtet auch Kathrin Buchholz in ihrer Studie zur Chemikalienpolitik. So seien etwa Gesundheitsbelastungen durch chemische Stoffe im privaten Bereich, an so genannten Frauenarbeitsplätzen oder für Schwangere unterbelichtet, was traditionelle Geschlechterzuschreibungen spiegele.

Die Unterrepräsentanz von Analysen derjenigen Naturwissenschaften, in denen Geschlecht keinen Gegenstand der Disziplin darstellt, ist sicherlich nicht nur der fachlichen Herkunft der Herausgeberinnen aus der Biologie geschuldet, sondern kennzeichnet vielmehr den gegenwärtigen Forschungsstand. Dennoch hätten hier Hinweise auf kulturhistorische und epistemologische Ansätze (z. B. Harlizius-Klück für die Mathematik, Karen Barad für die Physik) das breitere Spektrum neuerer, internationaler Forschungen zu Materialität, Zeichen und Geschlecht in den Naturwissenschaften sichtbar machen können.

Problematische Vermittlung von Grundlagen

Im zweiten Teil des Bandes wird das Feld der Geschlechterforschung der Naturwissenschaften auf einer Metaebene behandelt. Robin Bauer skizziert Grundlagen der Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie und der Science Studies und kontrastiert diese auf einleuchtende Weise mit entsprechenden feministischen Ansätzen. In einem zweiten umfangreichen Kapitel führen Smilla Ebeling, Jennifer Jäckel, Ruth Meßmer, Katrin Nikoleyczik und Sigrid Schmitz in die Vielfalt der Methoden ein, die bei der geschlechterperspektivischen Naturwissenschaftsanalyse zum Einsatz kommen. Weiter werden unter der Federführung der Herausgeberinnen grundlegende Ansätze und Begriffe der Geschlechterforschung erläutert. Dabei liegt der Schwerpunkt letztendlich auf Queer Theory und der Dekonstruktion von Dichotomien, speziell des Dualismus von Mensch und Tier. Abschließend diskutieren Sigrid Schmitz und Christian Schmieder die mit den Popularisierungen naturwissenschaftlichen Wissens in den Medien verbundenen Reduktionen. Sie führen diese am Beispiel einer metaphorischen Beschreibung des Befruchtungsvorgangs eindringlich vor. In diesem Teil wird die Problematik des vermittelnden Anspruchs des Buchs besonders deutlich.

Eine gute Einführung in die Grundlagen und insbesondere Methoden eines interdisziplinären Fachgebiets zu schreiben, ist sicherlich kein leichtes Unterfangen. Wenn es jedoch darum geht, eine kritische Auseinandersetzung von naturwissenschaftlich Sozialisierten mit Theorien und Methoden der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften zu befördern, wäre eine klarere Übersicht und Einordnung des oft nur Dargestellten hilfreich gewesen (z. B.: Welche Methode lässt sich mit welcher wissenschafts- und geschlechtertheoretischen Position vereinbaren?). Statt der mühsam zu lesenden und konkret schwer nachvollziehbaren Querverweise zwischen den Kapiteln hätte ein Stichwortverzeichnis nach dem Vorbild anglo-amerikanischer Veröffentlichungen vermutlich bessere Dienste geleistet. Ebenso vermeidbar sind Schieflagen und Inkonsistenzen im strukturellen Aufbau (wie beispielsweise, dass im Methodenkapitel die wissenschaftstheoretische Position des feministischen Empirismus mit methodischen Zugängen wie Diskursanalyse oder Biographieforschung auf eine Stufe gestellt wird). Insgesamt zeigt sich hier der problematische Aspekt interdisziplinärer Übersetzungsarbeit. Die eigentliche Stärke des Bandes läuft an den Stellen Gefahr, in eine Schwäche umzuschlagen, wo die für den Transfer notwendige Vereinfachung auf Kosten klarer Argumentationsstruktur und präziser Theorie- bzw. Begriffsbildung geht. Dies ist zwar eine grundsätzliche Problematik jedweden interdisziplinären Ansatzes, also prinzipiell unauflösbar, hier aber dennoch verbesserungsfähig.

Fazit

Der Sammelband zeigt anhand bekannter, aber auch erfrischend neuer Fallstudien auf, dass und wie Geschlecht in den Naturwissenschaften immanent eine Rolle spielt. Er verdeutlicht damit die Notwendigkeit eines weiter gehenden Dialogs zwischen der Geschlechterforschung und den Naturwissenschaften. Die Umsetzung des interdisziplinären Vorhabens lässt zwar Schwächen erkennen und fokussiert stark auf die Biologie. Doch verfolgen die Herausgeberinnen insgesamt ein äußerst wichtiges Anliegen: die Entmystifizierung naturwissenschaftlichen Wissens aus Geschlechterperspektiven. Zukünftige Naturwissenschaftler/-innen können anhand der beschriebenen Studien nicht nur lernen, welchen Anteil ihr Fach an der Herstellung von Geschlechterungleichheit, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität hat, sondern auch dass Theorien und ‚Fakten‘ stets in sozio-materiellen Verhältnissen verortet sind, d. h. prinzipiell anders konstitutiert sein könnten. Angehenden Geschlechterforscher/-innen gibt der Band nicht nur die Chance in die Naturwissenschaften hineinschnuppern, um Vergeschlechtlichungs- und Naturalisierungsprozesse zu verstehen, sondern lässt sie zugleich erkennen, dass die Naturwissenschaften häufig selbst Alternativen zur ansonsten immer gleich erscheinenden Festschreibung von Geschlecht und Sexualität bereitstellen: „The universe is not only queerer than we suppose, it is queerer than we can suppose“ (Haldane 1928, nach Ebeling/Schmitz, S. 60).

URN urn:nbn:de:0114-qn082048

Corinna Bath

Graz, Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society (IAS-STS)

E-Mail: bath@sts.tugraz.at

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