Ethik als transdisziplinärer Ansatz für Geschlechterforschung

Rezension von Regina Harzer

Ursula Konnertz, Hille Haker, Dietmar Mieth (Hg.):

Ethik, Geschlecht, Wissenschaft.

Der ‚ethical turn‘ als Herausforderung für die interdisziplinären Geschlechterstudien.

Paderborn: mentis 2006.

296 Seiten, ISBN 978–3–89785–434–5, € 29,80

Abstract: „Ethik“ hat Hochkonjunktur, theoretisch und praktisch. Tierethik, Medizin- und Bioethik, Rechtsethik und Neuroethik, um nur einige aktuelle Auseinandersetzungen mit rekonstruierten und modernisierten Moralphilosophien zu nennen. „Ethikräte“ schießen wie Pilze aus dem Boden: Im Bereich des Sports ebenso wie im Rahmen kulturell-religiöser Gegenwartsdiskurse. Von daher verwundert es nicht, dass auch die Kategorie „Geschlecht“ ethischen Überprüfungen unterzogen wird. Im vorliegenden Sammelband werden Grundanliegen der feministischen Ethik aber nicht nur anhand feministischer Einzelbeschreibungen untersucht, sondern in den Kontext von unterschiedlichen Disziplinanforderungen gestellt. Deshalb präsentiert sich das Buch auch als Gang durch die Wissenschaften selbst.

Moralphilosophie und die Kategorie „Geschlecht“

Der Sammelband geht zurück auf ein internationales Symposion an der Universität Tübingen. Er möchte einerseits zur Modifizierung der Konzeption „Ethik in den Wissenschaften“ beitragen und andererseits erreichen, feministisch-ethische Ansätze einer Revision zu unterziehen. Mit der Neuorientierung am „ethical turn“ soll die Kategorie „Geschlecht“ auf eine inter- und transnationale Ebene übertragen werden. Diese Übertragung erfolgt in drei Abschnitten, an denen zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen beteiligt sind.

Der erste Teil, der mit „Geschlechterforschung und Ethik“ überschrieben ist, beginnt mit einem Beitrag von Ursula Konnertz über die existentialistische Situationslehre von Simone de Beauvoir. Im Rahmen einer Analyse von Früh- und Spätwerk der französischen Philosophin widmet sich Konnertz vor allem dem 1982 entstandenen Text „Chatila oder der Fährmanntest“. Im Mittelpunkt steht die Überprüfung des Situationsbegriffs, dessen Bedeutsamkeit für die gegenwärtige Moralphilosophie und Geschlechterforschung noch nicht vollständig erfasst sei. Wesentlich sei, Situationsethik als kritisch-theoretischen Ansatz zu begreifen und etwa Einschränkungen der Freiheit anderer als moralisches Übel entsprechend zu kennzeichnen. Christine Hauskeller beschäftigt sich mit „Ethik und Gewalt“ und greift dafür den von Judith Butler proklamierten „ethical turn“ auf (S. 43 ff.). Im Gegensatz zu früheren Schriften von Butler werde die konstitutive Begründung des Subjekts in ihren Adorno-Vorlesungen mit Blick auf Körperlichkeit und Begehren in einen neuen Kontext gestellt. Eigene Konstitution basiere nach Butler auf dem moralischen Verhältnis zur anderen Person, Subjektwerdung sei deshalb notwendig verbunden mit „Überwältigung“, und es bedürfe einer Kritik ethischer Gewalt.

Replizierend auf den Beitrag von Hauskeller kritisiert Monique David-Ménard (S. 63 ff.) aus psychoanalytischer Sicht die viel zu unvermittelt dargelegte Verknüpfung von körperlichem und ethischem Subjekt; Gewalt spiele im Selbstwerdungsprozess jedenfalls keine primäre Rolle. Mit „Postgendervisionen“ setzt sich Brigitte Rauschenbach auseinander (S. 67 ff.). Zum einen fordert sie zur feministisch-ethischen Kritik bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse auf, warnt aber zum anderen vor übereilten Erwartungen an gegenderte Strukturen. Darüber hinaus fragt Rauschenbach nach dem hypothetischen Zustand einer „Postgender-Gesellschaft“, in dem möglicherweise auch Verlust und Verdrängung des „Father’s Spirit“ und damit notwendige Trauerarbeit einbezogen werden müsse, insofern könne der feministisch-ethische Blick erweitert werden. Im letzten Beitrag des ersten Teils antwortet Bozena Choluj in ihrer Replik auf Rauschenbach. Sie kritisiert den Postgender-Ansatz als wenig geeignet für die Bewältigung aktueller Schwierigkeiten in Geschlechterverhältnissen und schlägt demgegenüber die feministisch-ethische Beteiligung im Rahmen aktueller Geschlechterpolitiken vor.

Feministische Ethik: Emanzipation von traditioneller Moralphilosophie?

Im zweiten Abschnitt „Wissenschaft, Geschichte und Geschlecht“ werden Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftskritik thematisiert, um die für die Geschlechterforschung und für die Disziplinen bedeutsame Wissenschaftsethik sukzessive herauszuarbeiten. Der Beitrag von Geneviève Fraisse trägt den Titel „Epistemologie, Politik und die Gleichheit der Geschlechter“ (S. 89 ff.). Sie kritisiert „Geschlechterdifferenz“ aufgrund seiner unzureichenden Definitionsfähigkeit als wissenschaftlich unbrauchbaren Begriff, stellt demgegenüber die historische Entwicklung von Gleichheit und Autonomie vor und markiert verändertes Wissen über Körper, Geschlecht und Fortpflanzung als wesentliche Konsequenzen für die Gesellschaft. In ihrer Replik stimmt Astrid Deuber-Mankowsky (S. 101 ff.) den Ausführungen von Fraisse grundsätzlich zu und vertieft dies am Beispiel der Lebenswissenschaften.

Um „Dekonstruktionen von Dichotomien“ (exemplarisch: Sex/Gender sowie Natur/Kultur) geht es in dem Beitrag von Sigrid Schmitz und Andrea-Leone Wolfrum (S. 107 ff.). Die Autorinnen kritisieren festgefahrene Denkstrukturen einzelner Disziplinen und betonen die Notwendigkeit, interdisziplinäre Bemühungen innerhalb der Geschlechterforschung fortzusetzen. In dem vorgestellten Konzept „embodiment“ (Verkörperung von Erfahrung) geht es beiden Autorinnen vor allem um die Veränderbarkeit unseres Denkens, Handelns und Verhaltens und damit um die Überwindung einseitig natur- bzw. geisteswissenschaftlicher Aussagen über Wertneutralität einerseits und Normativität andererseits.

„Wissenschaftsgeschichte und die ‚Kategorie‘ Geschlecht“ lautet der Titel des Beitrages von Bettina Wahrig (S. 123 ff.). Sie zeichnet die historische Entwicklung des zwar erforderlichen, gleichwohl aber ambivalenten Ordnungsbegriffs der Kategorie nach. Für die feministische Wissenschaftskritik sei der Begriff nicht spannungsfrei, und seine kritische Analyse müsse als Gegenstand von Geschlechterforschung fruchtbar gemacht werden.

„Geschlechter-Ethik“ in Anwendungsbeispielen

Der dritte Teil „Ethik, Wissenschaft und Geschlecht“ konzentriert sich auf exemplarisch ausgesuchte Disziplinen, die Geschlechterforschung und Ethik transdiziplinär verbinden und entsprechend feministisch orientierte Handlungskonzepte vorlegen. Zunächst geht es im Beitrag von Eveline Kilian um „Literaturwissenschaft und Geschlechterforschung“ (S. 147 ff.). Kilian kommt es vor allem auf Praxisbezug an: Genderorientierung bei Textanalysen als Möglichkeit kritischer Textpraxis und die Verortung der Literaturwissenschaft im Kontext interdisziplinärer Geschlechterforschung. Regina Ammicht Quinn beschäftigt sich mit „Theologie, Ethik und die Kategorie Geschlecht“ (S. 165 ff.). Sie fragt in ihrem Beitrag nach der Bedeutung von Ethik für eine feministisch ausgerichtete Theologie und nach der Bedeutung der Kategorie Geschlecht für eine theologische Ethik. Die Autorin erläutert diese Zusammenhänge anhand der Weiblichkeitsentwürfe von „Eva und Maria“.

In seinem Beitrag „Gott, Mensch und Gender“ untersucht Dietmar Mieth die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in mittelalterlichen theologischen Texten, etwa in den „Frauenpredigten“ von Meister Eckart, und in frühen Frauenbewegungen, etwa im Ursprung des Beginentums. Mieth diskutiert dabei die Verbindung von Gleichheit, Differenz, Geschlechterhierarchie und Subjektwerdung. Die Geschlechterkategorie sei in der theologisch-historischen Analyse ebenso zu finden wie ethische Auseinandersetzungen um Gerechtigkeit.

Im weiteren Fokus des Sammelbandes stehen Beiträge zur Bioethik. Mit dem Aufsatz einer der führenden Bioethikerinnen der Vereinigten Staaten, Rosemarie Tong, beginnt dieser Abschnitt (S. 203 ff.). Die Autorin analysiert am Beispiel der somatischen Gen- und Kernbahntherapie die traditionelle Bioethik und konfrontiert sie mit geschlechtersensitiven Aspekten. Bioethik bedürfe einer umfassenderen Betrachtung durch hinreichende Berücksichtigung von Fraueninteressen; demgegenüber neige die traditionelle Bioethik aber zur Marginalisierung der „Frauenfrage“. Die kanadische Philosophin und Bioethikerin Kathryn Pauly Morgan thematisiert in dem Beitrag „Gender Police“ (S. 221) die „Biomacht“ in der Dialektik von Unterdrückungs- und Risikogesellschaft. Von der Norm abweichende Körper würden unterdrückt, wobei sowohl Institutionen als auch Wissenschaftler(-innen) dabei als „Geschlechter-Polizei“ fungierten. Eine feministische Bioethik müsse sich diesen Unterdrückungsmechanismen demgegenüber widerständig zeigen.

Abschließend möchte Hille Haker in ihrem Beitrag „Geschlechter-Ethik der Reproduktionsmedizin“ (S. 255) einen transdisziplinären Ethik-Diskurs in den Wissenschaften anstoßen. Insbesondere an Beispielen aus der Reproduktionsmedizin wird verdeutlicht, dass zum einen staatliche Eingriffsmöglichkeiten auf autonome Lebensführungen inakzeptabel seien und zum anderen individuelle Freiheitsbeschränkungen selbst den Gegenstand von kritischer Wissenschaftsethik bildeten. Dieser Einsichten sei sich eine feministisch-ethische Geschlechterforschung durchaus bewusst, zumal die feministische Ethik neben Rawls Gerechtigkeitstheorie und den praktischen Herausforderungen der Bioethik den „ethical turn“ wesentlich mit hervorgebracht habe.

Fazit:

Das Buch räumt endlich auf mit den kaum noch verständlichen, kaum noch erträglichen Annahmen, feministische Ethik habe mit Wissenschaft nichts, wenig oder nur bedingt etwas zu tun und könne deshalb innerhalb der vornehmlich soziologisch dominierten Frauen- und Geschlechterforschung unreflektiert vernachlässigt werden. Ähnlich ergeht es der „großen Schwester“, der feministischen Fachphilosophie. Dass der feministisch-ethische Wissenschaftsdiskurs demgegenüber theoretisch und praktisch bedeutsame Konzeptionen hervorgebracht hat, ist zwar nicht erst eine Tatsache seit dem Erscheinen des vorliegenden Sammelbandes, mit ihm wird jedoch die Anerkennung dieser Disziplin als eines wesentlichen und unverzichtbaren Teilbereichs der Frauen- und Geschlechterforschung deutlich erleichtert.

URN urn:nbn:de:0114-qn082163

Prof. Dr. Regina Harzer

Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft/Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie; Vorstandsmitglied Interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF)

E-Mail: regina.harzer@uni-bielefeld.de

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.