Lifestyle und Engagement – Jugendkultur in den „langen“ 1960er Jahren

Rezension von Pascal Eitler

Detlef Siegfried:

Time Is on My Side.

Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre.

Göttingen: Wallstein 2006.

840 Seiten, ISBN 978–3–8353–0073–6, € 49,00

Abstract: Detlef Siegfried präsentiert mit dem vorliegenden Band eine ebenso umfangreiche wie fundierte Analyse der westdeutschen Jugendkultur in den „langen“ 1960er Jahren. Er nimmt insbesondere das Verhältnis von Konsum und Politik in den Blick und kann zeigen, dass es gerade die ambivalente Verbindung von Lifestyle und Engagement war, welche die viel zitierte Dynamik dieses Zeitraums charakterisierte. Als Ausgangspunkt dient ihm dabei der sich wandelnde Umgang mit Musik: Musik als Ausdruck, aber auch als Motor einer sich verändernden Jugendkultur.

Die „langen“ 1960er Jahre

Die vorliegende Untersuchung folgt einer inzwischen hegemonialen Strömung innerhalb der Zeitgeschichtsschreibung, welche die sagenumwobene Bedeutung von „1968“ insofern historisch relativiert, als zahlreiche signifikante Veränderungen auf dem Gebiet der Politik im Besonderen und der Kultur im Allgemeinen bereits Ende der 1950er Jahre eingeleitet wurden und teilweise erst Mitte der 1970er Jahre ihren vorläufigen Höhepunkt erreichten. Auf diese Weise wird ein Zeitraum betrachtet, der von 1957 bzw. 1959 bis 1973 bzw. 1975 reicht – die „langen“ 1960er Jahre. Siegfried untergliedert diesen Zeitraum in vier Phasen und sein Buch dementsprechend in vier Kapitel: An die Phase der Konstitution einer „jugendlichen Massenkultur“ zwischen 1959 und 1963 schloss sich eine Zeit der Entfaltung zwischen 1963 und 1967 an, gefolgt von einer Hochphase der „Fusion von Konsum und Politik“ zwischen 1967 und 1969 und einer Zeit der Ausweitung und Durchsetzung der „Alternativkultur“ zwischen 1969 und 1973.

Siegfried widmet sich – für jede dieser Phasen – sowohl den zentralen Akteur/-innen, ihren Handlungsstrategien und Netzwerken, den Orten, an denen sich Jugendliche trafen, den Szeneblättern und Politmagazinen, die zum ‚Sprachrohr‘ jener ambivalenten Verbindung von Lifestyle und Engagement wurden, als auch den öffentlichen Debatten, in welche die westdeutsche Jugendkultur in den „langen“ 1960er Jahren eingebettet war – öffentlichen Debatten über Bedrohungsszenarien im Kalten Krieg, über die „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus und schließlich vor allem über den Sinn oder Unsinn der Studentenbewegung. Da es ein aussichtsloses Unterfangen wäre, diese achthundert Seiten umfassende Studie in ihrem Facettenreichtum zusammenzufassen, konzentriere ich mich im Folgenden lediglich auf einige ihrer Stärken und benenne außerdem eine Leerstelle.

Die sozialen Effekte der materiellen Kultur

Eine der Stärken der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass sie sich zwar der gesellschaftlichen und insbesondere der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vergewissert, es aber nicht bei altbekannten und abstrakten Konjunkturverläufen belässt: Die Reduktion der Arbeitszeit in den „langen“ 1960er Jahren und der damit verbundene „Freizeitschub“ (S. 35) bildeten zwar das Fundament einer sich verändernden Jugendkultur. Siegfried betrachtet diese Kultur jedoch stets ausführlich in ihrer konkreten Materialität. Von zentraler Bedeutung für den sich wandelnden Umgang mit Musik war dabei die Ende der 1950er Jahre einsetzende Elektrifizierung der Musik, nicht nur auf der Ebene des Musik-Machens, sondern auch und in Hinblick auf deren Konsum, insbesondere auf der Ebene des Musik-Hörens. So werden das Kofferradio, der Plattenspieler, das Tonbandgerät und schließlich der Kassettenrekorder zu interessanten Untersuchungsgegenständen. Dabei geht es Siegfried stets um die sozialen Effekte der materiellen Kultur, allen voran um die wachsende Mobilität, die sich damit verband und die als Zugewinn an Freiheit und Ausdruck der Demokratisierung begriffen und behandelt wurde.

Einzeltanz und Emanzipation

Derartige Demokratisierungseffekte rekonstruiert Siegfried auch in Bezug auf neuartige Tanztechniken. Mit dem Siegeszug des Twists Anfang der 1960er Jahre ging der Niedergang des Paartanzes innerhalb der westdeutschen Jugendkultur einher. Vor allem Frauen, so die Argumentation, eröffnete dieser Einzeltanzein weitgehend unbekanntes Handlungsfeld der Selbstbestimmung – der Emanzipation (vgl. S. 121–126). An diesem und zahlreichen anderen Beispielen kann die vorliegende Studie zeigen, wie ‚privates‘ Freizeitverhalten in den Kontext ‚politischer‘ Entwicklungen gestellt und als Ausdruck der Demokratisierung bzw. Liberalisierung oder als Sinnbild der Emanzipation bzw. Revolution begrüßt oder beklagt wurde. Nicht nur im Bereich der Sexualität, auch im Bereich der Musik, so wird deutlich, lässt sich jener vielzitierte Prozess der „Politisierung des Privaten“ beobachten.

Beat, Rock, Black Panther

Seinen Höhepunkt erreichte dieser Prozess innerhalb der westdeutschen Jugendkultur allerdings erst um 1970 im Zeichen der Beat- und Rock-Musik. Allerdings stand nicht die Figur des Revolutionärs im traditionellen Sinne, sondern die Figur des Rebellen, des Outlaws, im Zentrum der generationsspezifischen wie gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung. Neben den Rolling Stones geriet in diesem Zusammenhang insbesondere Jimi Hendrix zum Symbol einer „rebellierenden Jugend“. Siegfried macht in diesem Kontext zu Recht auf die – intendiert oder unintendiert – ethnisierenden bzw. orientalisierenden Aspekte dieses Symbols aufmerksam: Jimi Hendrix, der „wilde Schwarze“ und seine „unzähmbare Natur“. Mit dieser Form des Otherings konvergierten zwischen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre die in Szeneblättern und Politmagazinen gängigen Verweise auf die Black Panther und den „bewaffneten Widerstand“ nicht nur in der „Dritten Welt“, sondern eben auch in den Metropolen des „Westens“. Schwarze Musiker galten vor diesem Hintergrund schlicht und ergreifend als „authentischer“ als weiße Musiker (vgl.S. 380–388 u. 692–696).

Das ‚authentische‘ Subjekt als historisches Problem?

Zwar rekonstruiert Siegfried diese für die Beat- und Rock-Musik konstitutive Resignifikation kolonialer Alteritätsdiskurse – er betrachtet hingegen nicht das ‚authentische‘ Subjekt an sich als historisches Problem. Aus diesem Grund geraten zum Beispiel die Ausdrucksmöglichkeiten, die der Einzeltanz eröffnete, lediglich in Bezug auf Demokratisierungseffekte in den Blick. Die sich wandelnden Tanztechniken ließen sich indes ebenfalls – unter Rückgriff auf Überlegungen Michel Foucaults oder Andrea Bührmanns – als neuartige Selbsttechniken rekonstruieren und in diesem Sinne dekonstruieren.

Fazit

Die offene Flanke, die der vorliegende Band an dieser Stelle einer poststrukturalistischen Kritik bietet, kann den Gesamteindruck indes nicht trüben: Detlef Siegfried hat mit dieser Arbeit eine perspektivisch ambitionierte, beeindruckend quellengesättigte und – alles in allem – sehr überzeugende Analyse der westdeutschen Jugendkultur vorgelegt, die mit ihrer gelungenen Verbindung von Konsumgeschichte und Politikgeschichte auf dem Feld der Zeitgeschichtsforschung Maßstäbe setzt.

URN urn:nbn:de:0114-qn082122

Pascal Eitler, M.A.

Universität Bielefeld. Fakultät für Geschichtswissenschaft

E-Mail: pascal.eitler@uni-bielefeld.de

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