Gudrun Heuschen:
Des Vaters Zeitung an die Söhne.
Männlichkeiten um 1800 in einer Familienkorrespondenz.
Königstein im Taunus: Ulrike Helmer 2006.
301 Seiten, ISBN 978–3–89741–202–6, € 32,00
Abstract: Die Verfasserin untersucht die von Christian Friedrich Oldekop für seine Söhne verfasste Zeitung namens Lüneburgischer RelationsCourier, um „Männlichkeiten um 1800 im Kontext einer Stadt zu ermitteln, die von historischen Akteuren unterschiedlicher sozialer Herkunft geprägt war, und diese im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel der Sattelzeit zu interpretieren“ (S. 9). Zu diesem Zweck situiert sie ihre Studie methodisch im Bereich der neueren Frauen- und Geschlechtergeschichte (vgl. S. 10), definiert Geschlecht entsprechend als relationale Kategorie und will „Prozesse des performativen Herstellens von Männlichkeiten in Abgrenzungen zu und in der Herstellung von Gemeinsamkeiten mit anderen Männern“ nachvollziehen (S. 11). Die Dissertation erschließt mit großem Fleiß aufgearbeitetes Material, das jedoch eine fundiertere und tiefergehende Analyse verdient hätte.
Das Textkorpus der vorliegenden Untersuchung umfasst die Zeitung, die der Lüneburger Bürgermeister Christian Friedrich Oldekop für seine in Göttingen studierenden Söhne anfertigte (Oktober 1791 bis Ende 1793; Januar bis März 1795). Die Verfasserin sieht im Lüneburgischen RelationsCourier Männlichkeiten auf drei Ebenen manifestiert: Oldekop inszeniere sich im Schreiben als verantwortungsbewusster Vater, führe positive männliche Eigenschaften vor und könne sich selbst in der sozialen Hierarchie positionieren. Daraus folge, dass sich ein Mitglied der neuen Funktionselite des akademisch gebildeten Bürgertums „in dieser Zugehörigkeit durch das Praktizieren einer spezifischen Auffassung von Männlichkeit behaupten musste“ (S. 12). Im Gegensatz zum Adel und Patriziat, deren Stellung auf Geburt beruhte, und zum Handelsbürgertum und dessen Finanzmacht verdankte die Ämterelite ihren Aufstieg im 18. Jahrhundert eigenverantwortlichem Streben und entwickelte bürgerliche Leitwerte wie Arbeit, Vernunft, Nützlichkeit, Sittlichkeit, Sparsamkeit, Häuslichkeit, Fleiß etc., um sich als soziale Gruppe von anderen abzugrenzen (vgl. S. 13 f.). Die Verfasserin stellt den Lüneburgischen RelationsCourier in den skizzierten Kontext, indem sie ihm die Aufgabe zuweist, diese Gruppenleitwerte zum Zwecke der Verinnerlichung zu vermitteln (vgl. S. 14).
In den der Einleitung folgenden Kapiteln (1–3) stellt die Verfasserin zunächst Lüneburg und die Familie Oldekop, dann ihr eigenes Vorgehen und das Textcorpus vor. Nach einer kurzen Einordnung Lüneburgs in die historische Landkarte um 1800 beschreibt sie das Beziehungsgeflecht der Oldekops, um zu konstatieren, dass „die Nutzung familialer und freundschaftlicher Beziehungen“ ein „eminent wichtiges Charakterisierungsmerkmal dieser Elite“ und die Tatsache, Mitglied einer Elite zu sein, „für das Verständnis von Männlichkeiten im RelationsCourier von […] grundlegender Bedeutung“ ist (S. 28 f.).
Sich auf die neuesten Überlegungen zur Selbstzeugnisforschung berufend, will die Verfasserin ermitteln, „in welcher Subjektstellung das Ich der Texte bei der Vermittlung der verschiedenen Inhalte in Erscheinung tritt“, und fährt etwas zusammenhangslos fort: „Bezogen auf Männlichkeiten ist dies die Identifikation mit beziehungsweise Abgrenzung von bestimmten Verhaltensweisen“ (S. 34). Hier deutet sich ein die gesamte Arbeit begleitendes Dilemma an – die Bestimmung des Begriffs ‚Männlichkeiten‘ als unspezifische Verhaltensweisen unterschiedlicher Männer („Oldekops Schilderungen und seine Kritik am Verhalten anderer Männer verdeutlichen, dass andere Männer sich anders verhielten als er selbst, dass es also um 1800 verschiedene Formen von Männlichkeiten gab.“ S. 254). In derartiger Rückbindung an den einen biologischen Fakt ist jede Äußerung, jede Handlung männlicher Personen für die Verfasserin eine Aussage über differierende Männlichkeiten. Wenn Oldekop beispielsweise seinen Söhnen über den Alkoholmissbrauch eines Bürgers berichtet, grenze er seine Männlichkeit von dieser anderen Form der Männlichkeit ab (vgl. S. 121). Aber ist der Begriff der Männlichkeit nicht untrennbar und gänzlich abhängig von seinem Komplementärbegriff der Weiblichkeit (und umgekehrt)? Oder um Rebekka Habermas, die mit ihrer Habilitationsschrift eine brillante Analyse der Geschlechterpraktiken innerhalb einer bürgerlichen Familie um 1800 vorlegte, zu zitieren: „die Praktiken und Normen des einen Geschlechts erlangen erst im Gegenüber des anderen Geschlechts die Fülle ihrer Bedeutung“ (Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte. Göttingen 2000, S. 29).
Ausführlich und genau charakterisiert die Verfasserin die Formalien der Zeitung (Größe, Papier, Zustand, Jahrgänge etc.) und benennt die verschiedenen Subjektpositionen, die Oldekop beim Schreiben einnimmt: Bürgermeister, Hausvater, Vater, Chronist, Vereinsmitglied (vgl. S. 45). Leider viel weniger ausführlich versucht sie, die Zeitung quellenkritisch mit weiteren Ego-Dokumenten des Oldenkopschen Familiennachlasses (Tagebücher, Briefe) und anderen Zeitungen in Beziehung zu setzen. Das ist schade, gewönne doch die Themenauswahl, der Stil, die Funktion des Lüneburgischen RelationsCourier erst vor diesem Hintergrund Kontur; schon allein die Passage über die mütterlichen Briefe an die studierenden Söhne lässt ahnen, welch ein Analysepotential die Verfasserin verschenkt hat.
Den letzte Abschnitt dieser einleitenden Kapitel widmet sie dann der quantitativen Auswertung der in der Zeitung namentlich auftretenden Personen. Ihr Ergebnis, „dass häufig erwähnte Personen wichtig sind“ (S. 76), ist jedoch eine Aussage, die für die weitere Untersuchung vollkommen irrelevant bleibt. Eine quantitative Auswertung der behandelten Themen wäre wesentlich nützlicher gewesen.
In den folgenden Kapiteln (4–8) untersucht die Verfasserin – nach Themen geordnet – die von Oldekop verfassten Nachrichten im Lüneburgischen RelationsCourier. Hierbei offenbart sich die schon angesprochene fehlende Kontextualisierung nun deutlich als Schwäche der Arbeit; vor allem die Einbeziehung normativer Texte zur Charakterisierung der Diskrepanz zwischen gesetzten Werten und den Praktiken Oldekops vermisst der/die Leser/-in. Die auf das Textkorpus beschränkte Perspektive vermag es leider nicht, die Einzelbeobachtungen vom Besonderen zum Typischen zu führen, wie es die Verfasserin noch in der Zielformulierung angekündigt hatte (vgl. S. 36).
Die Analyse der Äußerungen Oldekops über Heirat und Kindererziehung ergibt, dass Oldekop bei der Wahl der Ehepartnerin finanzielle und standesbedingte Aspekte für wichtiger hält als Zuneigung und dass er sich als Vater, als Erzieher seiner Söhne von Vätern anderen Standes abgrenzt.
Überhaupt wird die Verbindung von Männlichkeit bzw. Verhaltensweisen männlicher Personen und Standeszugehörigkeit zur Hauptaussage der Untersuchung. In dem Abschnitt über die Laster (außereheliche Sexualität, Alkoholmissbrauch, Glücksspiel) arbeitet die Verfasserin den Unterschied zwischen bürgerlicher und adliger Auffassung von Geld heraus und zeigt, dass Oldekop Selbstkontrolle und Zurückhaltung als bürgerliche und männliche Tugenden definiert (vgl. S. 134). Auch im folgenden, die Arbeitswelt thematisierenden Abschnitt geht es der Verfasserin darum, die Erzählungen Oldekops über seine Arbeit als Bürgermeister als Beispiele eines bürgerlichen Führungsstils darzustellen (vgl. S. 156). Die Aussagen über die Herausbildung einer neuen bürgerlichen Schicht mit Aussagen über unterschiedliche Männlichkeiten zu verknüpfen, gelingt jedoch in Konsequenz der erwähnten problematischen Begriffsbestimmung nicht wirklich: „Unter Beachtung der Tatsache, dass die Korrespondenz für die beiden in das Berufsleben eintretenden Söhne geschrieben wurde, Oldekop also für die Vermittlung von Amtsethos die Subjektposition des erziehenden Vaters einnahm, muss dem Umstand, dass er sehr viele Episoden über Männer und ihre Art der Tätigkeitsausübung in die Berichterstattung einbrachte, als eminent wichtig eingeschätzt werden.“ (S. 157)
Das nächste Kapitel (7) widmet die Verfasserin den Berichten des Lüneburgischen RelationsCouriers über ehrverletzende Situationen und Ehrstreitigkeiten, wobei sie Ehre und öffentliche Anerkennung synonym benutzt. Dass Oldekop sich gegenüber sozial niedriger gestellten Männer durch Überheblichkeit und Geringschätzung abgrenzt (vgl. S. 161), überrascht nicht; interessant ist allerdings die Beobachtung, dass er angesichts der ihn ausschließenden Gruppen des Adels und der geldmächtigen Bürger mangelnden Geschäftsinn und vernünftige Vorsicht (statt tollkühnen Mut) zu Tugenden erklärt (vgl. S. 171). Mit diesen Abgrenzungsstrategien erschreibe sich Oldekop seine Position und vermittle seinen Söhnen gleichzeitig das Bewusstsein, einer Elite anzugehören (vgl. S. 186).
Im letzten Kapitel (8) beschäftigt sich die Verfasserin mit dem im 18. Jahrhundert überaus wichtigen Thema der Geselligkeit, und zwar in Form von privaten Festen und vereinsgebundenen Zusammenkünften. Erwartungsgemäß gelangt sie zu der Erkenntnis, dass Oldekop Feste seiner eigenen sozialen Gruppe für gelungen hält, während er Feiern höherer, d. h. adliger, oder niedrigerer Gruppen kritisiert (vgl. S. 216). Noch einmal ist die allzu eingeengte Sichtweise der Arbeit zu bedauern, wenn die Verfasserin kurz mögliche Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Geselligkeitspflichten andeutet: „Der Befund, dass die Ehefrau und die Tochter Oldekops länger bei Geselligkeiten blieben, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie die Einschätzung des Ehemanns und Vaters, solch große Feiern seien zu ‚weitläufig‘ und dauerten zu lange, nicht teilten. Möglich ist aber auch, dass hier eine nach Geschlechtern geschiedene Arbeitsteilung vorliegt, nach der die weiblichen Mitglieder der Familie Oldekop geselligen Verpflichtungen nachkamen, die dem männlichen Haushaltsvorstand Oldekop lästig waren.“ (S. 213)
In einem zweiten Abschnitt werden die Berichte Oldekops über den Lüneburger Club und die Lüneburger Lesegesellschaft, deren Vorsitzende er war, ausgewertet: Während sich Oldekop im Club der adligen Dominanz unterordnen muss, verdeutlicht er seinen Lesern, dass die „Führung einer Lesegesellschaft […] von einem bürgerlichen Mann [verlangt], Bürgerliche und Adelige gleich zu behandeln und an diesem Prinzip auch gegen Widrigkeiten festzuhalten“ (S. 246).
In den Schlussbemerkungen versucht die Verfasserin, einen Bogen zur Einleitung zu schlagen. Ihre Feststellung, dass sich die Machtkämpfe der sozialen Gruppen in den Umbrüchen der Sattelzeit auch in den unterschiedlichen Männlichkeitsauffassungen ausdrückten (S. 255), wirkt angesichts der eigentlichen Analyseergebnisse allerdings ein wenig aufgesetzt, wäre jedoch am Textkorpus unter Einbeziehung weiterer, vor allem normativer Texte leicht zu beweisen gewesen.
Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der im Lüneburgischen RelationsCourier erwähnten Personen sowie ein Stammbaum der Familie Oldekop beschließen den Band.
URN urn:nbn:de:0114-qn083117
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