‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘: Perpetuum Mobile wissenschaftlicher Produktion.

Rezension von Tino Plümecke

Christine Hanke:

Zwischen Auflösung und Fixierung.

Zur Konstitution von ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ in der physischen Anthropologie um 1900.

Bielefeld: transcript 2007.

298 Seiten, ISBN 978–3–89942–626–7, € 29,80

Abstract: Christine Hanke untersucht die Differenzproduktion in der physischen Anthropologie um 1900. Ergebnis ihrer diskurs- und medientheoretischen Analyse ist vor allem die Sichtbarmachung des performativen Charakters naturwissenschaftlicher Forschungen. Die Arbeit bietet eine differenzierte Behandlung und Kritik der Herstellung von ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘. Darüber hinaus ermöglicht sie eine Fülle von Einblicken, die in anthropologischen Publikationen durch Reinigungsprozesse in den Hintergrund treten und im Mainstream der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung üblicherweise nicht wieder zum Vorschein gebracht werden.

Differenzierungseuphorie

Als der Kraniologe Aurel von Török 1890 zur Vermessung menschlicher Schädel 6000 Einzelmaße vorschlug, befand sich die physische Anthropologie in einer wahren Erhebungswut von Objekten und Messdaten. ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ wurden im Eifer der objektiven Erfassbarkeit des Menschen mittels metrisch-statistischer Verfahren zu den Produktionsorten der Differenzforschung. Doch diese als so different konstituierten Entitäten erwiesen nicht immer die erwünschten Beweise eindeutiger Differenz. Vielmehr scheinen den Anthropolog/-innen die Daten, Interpretationen und Feststellungen „unverkennbarer Unterschiede“ ständig entglitten zu sein. Ließe sich demnach die Differenzforschung an ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ als ein ständiges Scheitern lesen, analysiert dagegen Christine Hanke die Forschungen der physischen Anthropologie gerade in ihrer diskursiven Wirksamkeit als Oszillationen zwischen Auflösung und Fixierung. Denn statt einer Verunsicherung durch die verschwimmenden Messwerte bewirkte die Anwendung naturwissenschaftlicher Verfahren eine enorme Wirkmächtigkeit der Forschungsergebnisse und die vorgängigen Setzungen, die Perspektivität der Datenerhebung sowie die Arbitraritäten der Unterscheidungen konnten zum Verschwinden gebracht werden.

Theoretischer und methodischer Zugang

Hanke unternimmt in ihrer Dissertation eine Diskursanalyse der anthropologischen Konstruktion von ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ in 24 Jahrgängen der Zeitschrift Archiv für Anthropologie – der Fachzeitschrift der „Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ – im Zeitraum zwischen 1890 und 1915. Mit Hilfe der Performanzmodelle Lacans und Derridas sowie der Figur des „flexiblen Normalismus“ von Link wird danach gefragt, wie ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ im Zuge der vorgenommenen metrischen, textuellen und visuellen Rasterungen hervorgebracht werden.

Unter Verwendung der Trope des boundary object von Star/Griesemer nimmt die Autorin die spezifische Produktivität der beiden Differenzobjekte in den Blick. Als Grenzgängerin zeichnet sie sich durch sehr unterschiedliche Blickrichtungen und theoretische Zugangsweisen aus. Ihre Analyse greift auf differente Methodiken der Sozialforschung, Wissenschaftsgeschichte, Science Studies, Medien- und Kunstwissenschaften sowie der feministischen Wissenschaftsforschung zurück.

Rasse

Vor allem in einer weiten Bedeutung des boundary object als Grenzobjekt sowie verbindendes Element werden die Ambivalenzen der Bedeutungsvielfalt, der spezifischen Unschärfe und der immerwährenden Fixierungsversuche rassifizierender Forschung erklärbar. Gerade wenn in den graphischen Darstellungen die Messpunkte Überlappungen und Inkongruenzen hervorriefen, wurden diese „ausfransenden Ränder“ im Sinne eines flexiblen Normalismus (Link) zu Ausnahmen gemacht, die arbiträr oder nach statistischen Gepflogenheiten integriert oder als „untypisch“ entfernt werden konnten. Bei zu deutlichem Verschwimmen (allerdings ohne dass bestimmbar wäre, wie viele Ausnahmen ein Modell vertragen kann) ließen sich immer noch „Rassenmischungen“ konstatieren. Diese Rationalisierungen interpretiert Hanke als diskursive Strategien, um mit der Schwierigkeit umzugehen, dass bei den Forschungen zur Vereindeutigung von ‚Rasse‘ gegenteilige Effekte der Vervielfältigung produziert wurden. Doch beide Fälle, die Potenzierung der „Rassen“ wie deren normalistische Festigung, führten jeweils zum beredten Generieren weiterer Forschungen.

Geschlecht

Um 1900 geriet nach Hanke die „biologisch-moralische Totaldifferenz der Geschlechter“ ins Wanken, da analog zu den Vervielfältigungen der ‚Rassen‘ auch das biologische ‚Geschlecht‘ im Zuge der Metrisierung Auflösungserscheinungen aufwies. Entsprechend finden sich eine ganze Reihe von unklaren Geschlechtsbestimmungen an Schädeln und anderen menschlichen Knochenresten. Die gängige Strategie von zeitgenössischen Wissenschaftlern wie Ulrichs, Weininger oder Möbius war die Pathologisierung der Überschreitung der Geschlechtergrenze, die Hanke als Selbstverständigungs- und Stabilisierungsprozesse liest: Mit der Metrisierung der Geschlechterdifferenz entstand statt der scharfen Abgrenzung nunmehr graduelle Differenz. Somit erschien der ‚Frauenkörper‘ nicht als grundsätzlich anders, sondern nur als graduell unterschieden. Trotz dieser Gradualisierung sei der Glaube an die Evidenz der Geschlechterdifferenz jedoch offenbar unerschütterlich geblieben und konnte mit der Anwendung des Konzepts der „normalen Typen“ wieder ‚in den Griff‘ bekommen werden. Die daraus sich ergebenden Effekte waren allerdings fließende Grenzen, unendliche Reihen von Misch- und Zwischenformen sowie widersprüchliche Daten.

Rasse und Geschlecht

In der Untersuchung wird deutlich, dass ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ in den Arbeiten der physischen Anthropologie konstitutiv aufeinander bezogen und miteinander verflochten waren. ‚Rasse‘ wurde vergeschlechtlicht und ‚Geschlecht‘ rassifiziert, wobei die ‚rassischen‘ und ‚geschlechtlichen‘ Bestimmungen dabei in einem zirkulären Prozess statt fanden. Vor der Identifizierung des ‚Geschlechts‘ von z. B. prähistorischen Schädeln musste in der Herangehensweise der Anthropologie ihr ‚Rassetypus‘ bekannt sein und vice versa. Über die maßgebende Funktion der Objekte ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ für die Differenzforschung hinaus bildeten beide vielfältige Konglomerate, bspw. in Aussagen über die „Höhe der Kultur“: Die Verwischung von Geschlechtergrenzen galt als Rückfall auf eine niedere kulturelle Stufe und die „niederen Rassen“ erschienen tendenziell verweiblicht. Das Weibliche, gleichsam die Frau galten dabei wiederum als „niederer Typus“ mit dem morphologischen Status eines Kindes oder einer „niederen Rasse“. Die Geschlechterdifferenz spiegelte somit jene Differenz der Entwicklungsgeschichte, bei der, ausgehend vom Affen über die Frau (und das Kind) zum europäischen Mann (Erwachsenen), eine Höherentwicklung zum europäischen Mann konstatiert wurde. Dementsprechend sind „Rassetypisierungen“ vor allem an männlichen Individuen vorgenommen worden. War das Geschlecht keiner Erwähnung wert, wurden in der Regel nur Daten männlicher Objekte angegeben, die – zu Normwerten gemacht – als Maßstab für die Identifizierung der „Anderen“ dienten.

Fazit: ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ als Motor der Theorie- und Forschungsproduktion

Hankes mikrologischer Blick bringt Dynamiken zum Vorschein, die sie aufgrund der sichtbar gemachten Probleme – Auflösungen der Kategorien, Vervielfältigungen, Arbitraritäten, Zirkelschlüsse und emphatische Evidenzpropagierung – ihrerseits problematisiert und zu den benutzten Modellen der Anthropologie in Beziehung setzt. Die immer wieder brüchigen, unscharfen, ausfransenden und widersprüchlichen Messwerte der Differenz werden im Spannungsfeld von Auflösung und Fixierung zu einem sich selbst antreibenden Motor der Theorien- und Forschungsproduktion.

Die Beschränkungen des Forschungsfeldes auf 24 Jahrgänge einer Zeitschrift haben Auswirkungen auf die Aussageweite der Befunde. Insbesondere sind in dieser Untersuchung Gegendiskurse wie die Ablehnung einer Signaturenlehre, die von Knochen auf die Persönlichkeit schließen lassen soll (vgl. Hegel 1807: Phänomenologie des Geistes), als auch der gesellschaftliche Rahmen (wie die Kulturkrisendebatte) kaum integrierbar. Durch die elaborierte Bearbeitung und theoretische Einbettung findet jedoch eine Kompensation statt, die aus der Arbeit nicht nur eine Beschreibung der Forschungsverfahren und –dynamiken macht, sondern weitgehende Erklärungen für die Entwicklung der Differenzforschungen bereitstellt. Somit stellt die Untersuchung eine gelungene Verbindung einer differenzierten wissenschaftsgeschichtlichen und medientheoretischen Analyse und grundlegender Aussagen zur Funktion und spezifischen Produktivität von Differenzforschung dar. Und sie macht deutlich, wie im Feld der physischen Anthropologie ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ als Orte der sozial problematisch gewordenen Differenz hergestellt und wie an und mit ihnen die Auseinandersetzung zwischen metrisch-statistischen und ästhetisierten Zugriffen auf den Menschen geführt wurden. Die Perspektiven der Arbeit sind vor allem deshalb beachtenswert, weil sie vielfältige Ansätze für gegenwärtige kritische Gender und ‚Race‘-Forschung sowie Einsichten in Verhältnisse zwischen Natur- und Geistes-/Sozialwissenschaften bieten.

URN urn:nbn:de:0114-qn083240

Tino Plümecke

Berlin

E-Mail: tino-pluemecke@gmx.de

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