Sara Mills:
Der Diskurs.
Begriff, Theorie, Praxis.
Tübingen u.a.: A. Francke 2007.
192 Seiten, ISBN 978–3–8252–2333–5, € 16,90
Abstract: Sara Mills legt eine Einführung in die Diskursanalyse vor, die durch ihre Ausrichtung am Forschungsprozess und ihr Interesse an der Vielzahl von Diskursen überzeugt. Aus dem Wald von Einführungen ragt sie heraus durch ihre Konzentration auf gesellschaftskritische Fragen, wie sie unter anderem vom Feminismus aufgeworfen wurden, und vertritt ein engagiertes Wissenschaftsverständnis.
Als Michel Foucault seinen Diskursbegriff auszuarbeiten begann, stieß er immer wieder auf Skepsis oder sogar Ablehnung und man möchte meinen, dass den Kritiken ein Gespür für das subversive Wirken eignete, das von seinem Werk ausgehen sollte. Schlicht gesprochen, war sein Ansatz für viele ein dicker Hund, und zwar einer, der Karriere machen und zum bunten Hund avancieren sollte, den alle kennen, von dem die wenigsten aber sagen könnten, wie er eigentlich einzuordnen wäre. Damit befindet er sich fast schon in Opposition zum Ideologiebegriff, der zwar auch verschiedene und zum Teil sich ausschließende Interpretationen kennt; allerdings konnten Ideologie und vor allem Ideologiekritik – gerade auch in der alltagssprachlichen Verwendung – als sehr viel bedeutungsfestere Ausdrücke etabliert werden. Dass viel zu oft Debatte gemeint ist, wenn Diskurs gesagt wird, bedarf selbst kaum der Erwähnung, genauso wenig wie das geringe Interesse Foucaults, den von ihm (und einigen anderen) in die Welt gesetzten Sprachgebrauch zu systematisieren: „Ich wünsche mir, dass meine Bücher eine Art tool-box wären, in der die anderen nach einem Werkzeug kramen können, mit dem sie auf ihrem eigenen Gebiet etwas anfangen können.“ (Michel Foucault, Dits et Ecrits II, Frankfurt am Main 2002, S. 651)
Wenn nun Sara Mills in ihrer Rekonstruktion dieser changierenden Entität einen forschungspraktischen Zugriff wählt, der ganz und gar nicht nur an innerwissenschaftlichen Fragestellungen ausgerichtet ist, trifft sie damit genau den Nerv der Diskursanalyse im foucaultschen Sinne: „Der Rückgriff auf die Vorstellung vom Diskurs hat die Aufgabe, politische Handlungsoptionen zu konstruieren und Handlungen zu begründen, sehr viel schwieriger gemacht, aber er hat es Feministen ermöglicht, Szenarien für soziale Veränderungen und Subjektpositionen für aktive Frauen als Vermittler zu konstruieren.“ (S. 111 f.) Der Klappentext verspricht zwar, „den Standardbegriff kulturwissenschaftlicher Studien schlechthin aus seiner bisherigen Unbestimmtheit“ zu befreien, was gar nicht der Anspruch des kleinen, als Einführung konzipierten Buches ist. Wer aber nach einer kritischen Methode der Textinterpretation sucht, wird helle Freude an diesen Überlegungen zum Diskursbegriff haben.
In sechs Kapiteln wirft Mills Schlaglichter auf den Begriff „Diskurs“, dessen Analyse und historisch damit verknüpfte Stränge der Theoriebildung. Dabei zielt das Vorgehen der Autorin darauf, keine allzu starken Polarisierungen zwischen Theorien zu erzeugen, sondern nach möglichen Anschlüssen und Gemeinsamkeiten zu suchen, um Scheinwidersprüche zu vermeiden. Dabei werden Mainstreamlinguistik, (feministische) Psychoanalyse, postkoloniale Literaturwissenschaft und einige andere ‚Theorietiere‘ versammelt. Die einzige Ausnahme in dieser schlüssigen Darstellung bildet die immer wieder allzu schematisch eingeführte Ideologietheorie, was der akademischen Diskussion im englischsprachigen Raum geschuldet ist, wo marxistische Theoretiker wie Louis Althusser weitaus einflussreicher werden konnten als im deutschsprachigen Raum. Nicht recht passen will das vor dem Hintergrund, dass Mills der Ideologiekritik ein ganzes Kapitel widmet, um deren Potential in die Diskursanalyse zu integrieren. Ihr argumentativer Kniff besteht darin, dass für die Frage, warum Individuen Weltsichten übernehmen, die offenkundig ihren Interessen widersprechen, ein Festhalten an ideologietheoretischen Annahmen sinnvoll sein kann. Soll aber das Entstehen von Interessen verstanden werden, könnte sich eine Untersuchung der „diskursiven Rahmenbedingungen“ (S. 35), die so etwas wie ‚Interessenpolitik‘ überhaupt erst hervorbringen, als weitaus hilfreicher herausstellen. Durchaus nahe liegend wäre für Mills also ein auch zweigleisig angelegtes Theoriemodell gewesen, mit dem sich Ideologien kritisieren und Diskurse analysieren ließen.
Mit diesem Komplex ist die grundsätzliche Frage verbunden, inwiefern Diskursanalyse von sich aus überhaupt kritisch ist. Foucault betonte regelmäßig den aufklärerischen Mehrwert, der sich aus der historischen Erfassung von Denkweisen und Praktiken ergibt. Sexualität als ein Produkt von kulturspezifischen Reflexionsweisen, wie die Psychoanalyse eine ist, zu untersuchen, um dadurch eine Außensicht auf diesen Diskurs zu ermöglichen, war an sich schon originell und brachte frischen Wind in den akademischen Betrieb. Mills ihrerseits legt ein ‚benutzerfreundliches‘ Werkzeug in die tool-box, indem sie die Vielheit der Diskurse, ihre Polyphonie hervorhebt. Sie entkräftet damit den auf der Hand liegenden Einwand, die Diskursanalyse wiederhole den Effekt der Marginalisierung von einzelnen Stimmen. Ihrem Vorschlag zufolge wäre es, neben der Darstellung von dominierenden Praktiken, gerade der damit einhergehende Prozess der Marginalisierung, den es zu untersuchen gelte. Für den Bereich der Psychoanalyse hat Andreas Mayer sehr detailliert gezeigt, dass Sigmund Freuds Theorem, Widerstand gegen die Deutung des Therapeuten indiziere deren Richtigkeit, auf Anfeindungen zurückging, denen die Pariser Schule um den Psychologen Jean-Martin Charcot ausgesetzt war. Während Charcot das Problem hatte, dass das Verhalten seiner Patienten und besonders seiner Patientinnen als ein unberechenbarer Faktor, als Gefährdung wissenschaftlicher Objektivität interpretiert wurde, verstand es Freud, diese Unberechenbarkeit zum integralen Bestandteil seiner Theorie umzuformen (Andreas Mayer, Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der Psychoanalyse im Hypnose-Labor, Göttingen 2002).
Damit kommen wir zu der Frage, was man nach Mills eigentlich mit der Diskursanalyse analysiert. Zunächst ist da die Definition, „dass es sich bei Diskursen um eine hochgradig regulierte Gruppierung von Aussagen und Meinungen mit internen Regeln handelt“ (S. 51). Und diese Definition ist streng formal zu handhaben, ansonsten bleibt die universale Anwendbarkeit des Diskursbegriffes unerkannt. Deutlich wird das anhand der von Mills angeführten lipstick lesbians, deren Aussehen sowohl eine homosexuelle Praxis darstellt als auch verunsichernd auf Heterosexuelle wirken kann. Aus beiden Perspektiven handelt es sich um eine Aussage mit jeweiligen Regeln für ihren Gebrauch, die über Zugehörigkeit und möglicherweise auch Ausschluss entscheiden, weil Uneinigkeit darüber vorliegt, ob Eindeutigkeit wünschenswert beziehungsweise Mehrdeutigkeit zulässig ist. Und in beiden Diskursen sind Emotionen im Spiel, geknüpft an Erwartungen und Hoffnungen, die erfüllt werden oder nicht, und an Gewohnheiten, die verfehlt sein können.
Aus einer gesellschaftskritischen Perspektive – und eine solche nimmt Mills als Feministin ein – ist es plausibel, das zwischen den Diskursen herrschende antagonistische Verhältnis und die von Herrschaft geprägte, da asymmetrisch verfasste, Gesellschaftsordnung zu fokussieren. Wer Diskurs sagt, sagt Macht und spricht etwas Streitbares an. Zu überprüfen wäre jedoch, ob das erörterte Beispiel der lipstick lesbians per se ein Fall von struktureller Herrschaft ist, oder sich nicht ganz Ähnliches auch unter herrschaftsfreien Bedingungen ereignen könnte. Klammerten wir für einen Moment die strukturelle Diskriminierung, der Homosexuelle immer noch ausgesetzt sind, aus, wäre eine gezielte Unterminierung von Seh- und Sichtweisen weiterhin denkbar – und vielleicht auch lustvoll.
Als Foucault die sogenannte Repressionshypothese zurückwies oder davon sprach, dass es immer Macht geben werde, schien er einen Machtbegriff anzupeilen, der dem formalen Charakter seines Diskursbegriffes entspricht. Kommen wir dafür noch einmal auf die Therapiesituation zurück und betrachten, wie Mills sie zu begreifen geneigt ist: „Findet die Therapie in einem konventionellen institutionellen Rahmen statt, kann es passieren, dass die Frau als mental instabil konstruiert wird und ihr aufgrund ihrer emotionalen Schwierigkeiten Vorwürfe gemacht werden. Innerhalb des Kontextes einer feministischen Therapie jedoch mag das Material andere Interpretationen befördern.“ (S. 89) Obgleich diese Beschreibung sicherlich für viele Fälle zutreffend ist, deckt sie bei weitem nicht das gesamte Feld der möglichen Therapiebeziehungen ab. Unter anderem nicht diejenigen zwischen männlichen Therapeuten und Patienten, die ebenfalls von asymmetrischen Machtbeziehungen geprägt sind, sofern der Therapeut die Aufgabe hat, seinen Patienten zu heilen, was diesem ohne fremde Hilfe nicht möglich wäre. Diese Art von Setting scheint sich aber den Begriffen von Entmündigung oder gar Repression zu entziehen – und wäre bei der Lektüre von Mills‘ Buch hinzu zu denken (oder besser noch: nachzuvollziehen bei Wolfgang Detel, Foucault und die klassische Antike. Macht, Moral, Wissen, Frankfurt am Main 2006, 1. Kap.).
Seit einigen Jahren erscheinen inzwischen kaum mehr zählbare Publikationen mit dem Ziel, das Bedeutungsfeld Diskurs und Diskursanalyse zu vermessen, so dass bereits die Hinführung zum Gegenstand Gegenstand von Hinführungen werden könnte. Auch wenn Mills manchmal ein wenig zu viel an Beweislast für ihre Argumente auf Foucault abwälzt, gleichzeitig aber einen eigenständigen Vorschlag der Diskursanalyse unterbreiten möchte und sich die Übersetzung bisweilen etwas holprig liest - nun liegt eine griffige Einführung vor, die durch ihren engagierten und fächerübergreifenden Zugang besticht. Sie führt nicht nur zum Diskurs hin, sondern fordert auch dazu auf, sich eine Außensicht auf die wissenschaftlichen Diskurse zu erarbeiten, in die man selber involviert ist.
URN urn:nbn:de:0114-qn083132
Ruben Marc Hackler
Freie Universität Berlin/SFB 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“
E-Mail: Largesse@gmx.net
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