Heterosexuelle (Macht-)Verhältnisse erforschen.

Rezension von Mike Laufenberg

Jutta Hartmann, Christian Klesse, Peter Wagenknecht, Bettina Fritzsche, Kristina Hackmann (Hg.):

Heteronormativität.

Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht.

Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007.

312 Seiten, ISBN 978–3–531–14611–9, € 29,90

Abstract: Der Sammelband gibt Einblick in zentrale Arbeitsbereiche der aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Heteronormativitätsforschung. Wie im Untertitel angekündigt, soll dabei in erster Linie die Brauchbarkeit des Heteronormativitätskonzepts für die empirische Analyse von Machtverhältnissen um Sexualität und Geschlecht demonstriert und diskutiert werden. Die Stärken des Bandes liegen in seiner thematischen Vielfalt, in seinem methodologischen Reflexionsniveau und vor allem in seiner Systematik, die er den durchweg gelungenen Einführungstexten verdankt. Die Anthologie dokumentiert zugleich aber auch die Schwierigkeit, neue Impulse in das noch junge Forschungsfeld einzubringen; am Ende lösen viele Beiträge die in den Einleitungstexten erzeugten Erwartungen nicht ein.

In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Heterosexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Macht hat sich innerhalb der US-amerikanischen Queer Theory in den 1990er Jahren der Begriff der Heteronormativität etabliert. Liefen Konzepte wie Homophobie oder Heterosexismus häufig Gefahr, individualisierende und psychologisierende Erklärungen für die Stigmatisierung nicht-heterosexueller Lebensweisen zu offerieren, so beschreibt das Konzept der Heteronormativität Heterosexualität selbst als „zentrales Machtverhältnis, das alle wesentlichen gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche, ja die Subjekte selbst durchzieht“ (S. 9). Heteronormativität zielt dabei im Kern auf eine Normalisierung und Hierarchisierung sexueller Lebensweisen durch die Naturalisierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit.

Die im vorliegenden Band versammelten Arbeiten widmen sich mit einer Vielfalt an qualitativen methodischen Verfahrensweisen (Diskursanalyse, Hermeneutik, Ethnomethodologie etc.) der empirischen Analyse dieser Prozesse. Die Aufsätze sind in vier thematische Blöcke geteilt, die wiederum stets durch ausführliche Einleitungstexte eingeführt werden: I. „Der heteronormative Blick in wissenschaftlichen Diskursen“, II. „Selbst-Bewegungen. Subjektive Aushandlungsprozesse von Geschlecht und Begehren“, III. „Kulturelle Praxis und sexueller Diskurs: Inszenierungen von Geschlecht und Begehren“ und IV. „Verschränkung und Gleichzeitigkeit mehrfacher Machtverhältnisse“.

Theoriegeschichtliche und methodische Vorüberlegungen

Zwei den empirischen Arbeiten vorangestellte Texte ermöglichen den Leser/-innen zunächst, ohne große Vorkenntnisse ins Feld der Heteronormativitäts-Forschung hineinzufinden. Peter Wagenknecht bietet einen überaus lesenswerten Einstieg in Geschichte und wesentliche Theoriekontexte des Heteronormativitätsbegriffs (Psychoanalyse, Poststrukturalismus, Marxismus). Dabei wird deutlich, dass die Verwendung und Konzipierung des Begriffs je nach theoretischer Perspektive stark variieren kann. Zudem zeigt Wagenknecht, dass Heteronormativität heute als „Grundbegriff der Queer Theory“ (S. 18) vor allem diskurstheoretisch gedacht wird; sein analytisches Potential für die Untersuchung von Heterosexualität als Strukturkategorie und gesellschaftlichem Machtverhältnis bleibt daher – etwa durch die Marginalisierung marxistisch inspirierter Ansätze – unausgeschöpft.

In seinen allgemein gehaltenen methodischen Überlegungen zur Heteronormativitäts-Forschung erinnert Christian Klesse an die genealogische Verankerung des Heteronormativitätskonzepts im Kontext politisierter Bewegungs- und Wissenschaftsdiskurse sowie an methodologische und forschungsethische Implikationen, die sich daraus für die Analyse heterosexueller Machtverhältnisse ergeben. So fordert Klesse eine Bereitschaft, die Beziehungen zwischen Forscher/-in und Forschungsteilnehmer/-in sowie die eigenen wissenschaftlichen Repräsentations- und Interpretationsweisen daraufhin zu durchleuchten, ob sie gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse möglicherweise reproduzieren und verstärken, oder aber herrschaftskritisch in den akademischen und gesellschaftlichen Diskurs intervenieren.

Qualitativ-empirische Analysen von Heteronormativität

Die Weisen, in denen Sexualität in modernen Gesellschaften zu einem bestimmten Zeitpunkt denkbar, sprechbar, erfahrbar und praktizierbar wird, konstituieren sich in bedeutendem Maße auch durch wissenschaftliche Diskurse. Die Rekonstruktion heteronormativer Deutungsmuster in den Wissenschaften zählt daher zu den zentralen Aufgabenbereichen einer kritischen Geschlechter- und Sexualitätsforschung und wird im ersten Themenblock des Bandes aus sozial-, erziehungs- und naturwissenschaftlicher Perspektive vorgenommen. Die Problematik einer re-vitalisierten biowissenschaftlichen Determinierung von Geschlecht und Sexualität wird im Band anhand der überzeugenden Analyse einer endokrinologischen Studie zum „Lesbenhormon“ (B. Bock v. Wülfingen) sowie der Betrachtung zoologischer Tierbeschreibungen (S. Ebeling) veranschaulicht. Bedenklich erscheint mir hier allerdings Ebelings Versuch, durch nicht-heteronormative Lesarten „eine breite Palette sexueller Verhaltensweisen“ (S. 79) im Tierreich sichtbar zu machen, um diese „für die Akzeptanz und Legitimation von Homo-, Hetero-[sic] und Transsexualität strategisch zu nutzen“ (S. 90). Ebeling, die selbst auf anthropomorphe Deutungspraxen („gleichgeschlechtliches Sexualverhalten bei Tieren“) zurückgreift, bekräftigt damit die historisch immer wiederkehrende, fragwürdige Strategie, homo- und transsexuelle Gleichberechtigung mit dem Rekurs auf biologisches Wissen zu begründen.

Die Fallstudien des zweiten Themenblocks sollen sich der Frage nach dem „doing heterosexuality“ widmen, d.h. den Auseinandersetzungsformen und Darstellungspraktiken von Subjekten im Kontext heteronormativer Anforderungen an ihr Begehren und ihre Geschlechtsidentität. Letztlich nimmt die Frage nach Heterosexualität und -normativität aber nur in Sabine Jöstings Betrachtung der Etablierung heterosexueller Beziehungen bei adoleszenten Jungen eine zentrale Bedeutung ein. Jösting schildert die Habitualisierung von Heterosexualität als „hoch komplexen und äußerst störanfälligen sozialen Einarbeitungsprozess, der den befragten Jugendlichen viel kommunikative Arbeit und praktische Übung abverlangt“ (S. 156).

Die beiden kultur- bzw. medienwissenschaftlichen Aufsätze des dritten Themenblocks gehen schließlich einer klassischen Frage der Heteronormativitätsforschung nach: den kulturellen „Repräsentationen des Nichtheterosexuellen“ (S. 198), hier am Beispiel von CSD-Paraden (L. Tietz) und TV-Fahndungssendungen (J. Pinseler).

Die im vierten Themenfeld vorgenommenen Überlegungen zur „Verschränkung und Gleichzeitigkeit mehrfacher Machtverhältnisse“ (S. 239) gehören zu den innovativsten des Bandes. Sie verdeutlichen die Notwendigkeit einer Debatte über die Verwendung von Konzepten wie Intersektionalität oder Heteronormativität, die im akademischen Diskurs heute oft als Modewörter firmieren und dabei Gefahr laufen, selbst Ausschlüsse zu produzieren. So ist die Analyse von Sexualität häufig nicht Teil von Intersektionalitätskonzepten und der Begriff der Heteronormativität wird der komplexen Gleichzeitigkeit von Ethnisierungs-, Vergeschlechtlichungs- und Sexualisierungsprozessen oft nicht gerecht (U. Erel, J. Haritaworn, E. Gutiérrez Rodriguez, Ch. Klesse). Vielleicht hätte man die Perspektive der Simultanität von Machtverhältnissen in einem Band über Heteronormativität sinnvoller zu Beginn diskutieren und gleichzeitig stärker zum Maßstab für die folgenden Beiträge erheben können. Stattdessen wiederholt der Sammelband leider die üblich gewordene Form, Arbeiten zur Verschränkung von Machtverhältnissen als „Anhängsel“ im Schlussteil zu platzieren.

Fazit

Der lesenswerte Sammelband demonstriert die zunehmende Präsenz einer kritischen Auseinandersetzung mit Heterosexualität auch im deutschsprachigen akademischen Diskurs. Er zeigt an vielen Stellen blinde – heteronormative – Flecken auf, die die sozial- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung nicht nur mit Sexualität und Geschlecht, sondern mit Gesellschaft im Allgemeinen bis heute kennzeichnet. Der Band dokumentiert aber auch die Marginalisierung verschiedener Ansätze und Positionen innerhalb der Heteronormativitätsforschung selbst. Viele spannende Fragen und Impulse, die in den diversen einführenden Texten formuliert werden, bleiben in den einzelnen Beiträgen letztlich unterbelichtet. Letztere verharren allzu häufig in rekonstruktiven Darstellungen und versäumen so, die gemachten Beobachtungen in einen gesellschaftstheoretischen Deutungszusammenhang zu integrieren. So gilt Wagenknechts Feststellung, dass „die kulturelle Produktion von Normen und Normalität, die Hervorbringung des ‚Anderen‘ und die damit verbundenen Ein- und Ausschließungen“ in der Queer Theory „bisher nur selten zum strukturbildenden Einfluss von Kapitalverwertung, Ausbeutung und ökonomischem Zwang auf die Lebensführung ins Verhältnis gesetzt worden“ ist (S. 30), am Ende auch für die Anthologie selbst. Es ist zu wünschen, dass diesen Zusammenhängen in Zukunft stärker nachgegangen wird, um Heteronormativität tatsächlich als umfassendes wie flexibles, für die soziale Welt konstitutives Machtverhältnis denken und kritisieren zu können.

URN urn:nbn:de:0114-qn083189

Mike Laufenberg

Berlin

E-Mail: mikelaufenberg@yahoo.de

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