Prügelnde Mädchen – psychoanalytisch verstehen.

Rezension von Monika Gsell

Frauke Koher:

Gewalt, Aggression und Weiblichkeit.

Eine psychoanalytische Auseinandersetzung unter Einbeziehung biographischer Interviews mit gewalttätigen Mädchen.

Hamburg: Kovac 2007.

276 Seiten, ISBN 978–3–8300–2703–4, € 58,00

Abstract: Ziel der vorliegenden Dissertation ist es, physische Gewalttätigkeit bei adoleszenten Mädchen als Ausdruck von inneren Konflikten zu verstehen. Die Arbeit scheitert an fehlenden theoretischen und methodischen Voraussetzungen.

Gewalt als Ausdruck von inneren Konflikten

Offene, physische Gewalt wird in unserer Gesellschaft nach wie vor zu 95% von Männern ausgeübt. Gleichzeitig weiß man, dass Frauen nicht einfach das „friedfertige Geschlecht“ sind, dass sie vielmehr andere Formen der Aggression pflegen und darüber hinaus signifikant viel häufiger autoaggressiv handeln. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die sprunghaft ansteigenden, wenn auch immer noch marginalen Zahlen von schlagenden und prügelnden Teenie-Mädchen die mediale und wissenschaftliche Neugierde auf sich ziehen. Die Frage nach dem Warum und Weshalb dieser Zunahme von gewalttätigen Mädchen wird meist soziologisch bzw. sozialpsychologisch beantwortet, sprich: mit dem Hinweis auf ungünstige Sozialisationseinflüsse.

Die Autorin der vorliegenden Dissertation möchte einen anderen Weg einschlagen und den Blick stärker auf die „innere Psychodynamik von adoleszenten, gewalttätigen Mädchen“ lenken (S. 15). Sie orientiert sich dabei explizit am klassischen, triebtheoretisch fundierten Ansatz der Psychoanalyse, der Aggression als eine der beiden elementaren Triebkräfte des psychischen Geschehens anerkennt. Sie versteht gewalttätiges Verhalten sowohl „als Ausdruck von Konflikten, als auch als deren möglicher Lösungsversuch“ (S. 9). Im Zentrum der empirischen Untersuchung, in der die Autorin „biographische Interviews“ mit vier gewalttätigen Mädchen im Alter von 17 bis 18 Jahren geführt und ausgewertet hat, steht daher der Versuch, solche inneren Konflikte in den Biographien der Mädchen herauszuarbeiten. Ausgehend von der Hypothese, dass das als „männlich“ konnotierte Gewalthandeln die Mädchen in Konflikt mit ihrer weiblichen Geschlechtsidentität bringt, liegt ein spezielles Augenmerk der Autorin auf der Frage, welche Bedeutung die Mädchen selbst ihrem offen aggressiven Verhalten zumessen und ob bzw. wie es ihnen gelingt, dieses in ihre weibliche Identität zu integrieren.

Mutiger Ansatz

Der Mut der Autorin zu diesem innerhalb der Geschlechterforschung umstrittenen Ansatz mit der Fokussierung auf die innerpsychischen Quellen von Gewalt und Aggression ist sehr zu begrüßen: Er verspricht eine bedeutsame Ergänzung zu der vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Erfassung der „Außenwelt“. Leider gelingt es der Autorin nicht, aus diesem gut gewählten Ansatz etwas zu machen. Der Erkenntnisgewinn der Arbeit ist äußerst gering, und dies vor allem aus zwei Gründen: Die Autorin hat erstens kein verlässliches theoretisches Rüstzeug, auf das sie sich stützen kann und zweitens eignet sich die gewählte Kombination von Material und Methode äußerst schlecht, um Antworten auf die gestellten Fragen zu erhalten.

Das grundlegende theoretische Werkzeug fehlt

Das notwendige theoretische Rüstzeug wäre: eine (psychoanalytische) Konflikttheorie und eine (psychoanalytische) Gender-Theorie. Beides fehlt in dieser Arbeit. Die Autorin hat weder eine klare Vorstellung davon, was – im beanspruchten psychoanalytischen Sinn – ein Konflikt ist, noch, wie ein solcher Konflikt zustande kommt. Dasselbe gilt für den Gender-Aspekt: Wer aus psychoanalytischer Perspektive nach der Bedeutung von Aggression in der Entwicklung von Mädchen fragt und darüber hinaus untersuchen will, wie gewalttätige Mädchen ihr Verhalten in ihre Geschlechtsidentität integrieren, braucht unabdingbar eine konsistente psychoanalytischeGender-Theorie, d. h. eine Theorie, die plausibel zu erklären vermag, was das eigentlich heißt, eine – weibliche oder männliche – „Geschlechtsidentität“ zu haben, wie und weshalb eine solche Geschlechtsidentität psychisch entsteht, welches psychische Konfliktpotential damit verbunden ist, inwiefern sie sich von einer sozialen Konstruktion von Gender unterscheidet und schließlich wie sich diese psychische Konstruktion von Geschlechtsidentität zur anatomischen Geschlechtsdifferenz verhält. Es scheint der Autorin schlicht entgangen zu sein, dass ihr ohne diese theoretischen Konzepte das wichtigste Werkzeug für die Auswertung der Interviews fehlt.

Reproduktion von Klischees

Entsprechend unbefriedigend fällt die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von gewalttätigem Verhalten und weiblicher Identität aus. Das klingt dann z. B. so: Ein Mädchen, das a) gewalttätig ist (= männliches Element!), und b) sich für die Zukunft wünscht, zu heiraten und Kinder zu haben (= weibliche Identität!), ist fähig, männliche Elemente in die eigene weibliche Geschlechtsidentität zu integrieren. Nur schon ein flüchtiger Blick in Reimut Reiches Geschlechterspannung hätte die Autorin vor der Reproduktion solcher Geschlechterrollenklischees bewahrt. Sie hätte hier auch erfahren, dass und wie und weshalb „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ in ein und demselben Individuum zu Spannungen führt, und hätte damit zugleich eine brauchbare Konflikttheorie zur Verfügung gehabt.

Diskussion von theoretischen Arbeiten und Studien zu Aggression, Weiblichkeit und Adoleszenz

Nun ist es nicht so, dass sich die Autorin komplett um theoretische Ansätze foutierte: Der ganze erste Teil ihrer Arbeit ist der theoretischen Auseinandersetzung gewidmet. Sie diskutiert zum einen eine kleine Auswahl an psychoanalytischen Theoretiker/-innen, die sich mit dem Thema Weiblichkeit und Aggression beschäftigt haben; zum anderen widmet sie sich entwicklungspsychologischen Arbeiten zu Adoleszenz und Gewalt. Aber auch hier gelingt es ihr nicht, Werkzeuge für ihr eigenes Vorhaben zu gewinnen: Sie verwirft sämtliche diskutierten Beiträge als unbrauchbar – und dies, wie man der Autorin zu Gute halten muss, zumeist berechtigterweise. (Im Falle Melanie Kleins und Annette Streek-Fischers allerdings hat sie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.)

Material und Methode passen nicht zusammen

Angesichts dieser schwierigen Ausgangssituation, bei der man keinen Millimeter festen theoretischen Boden unter den Füssen hat, bräuchte es schon sehr viel an psychoanalytischer Erfahrung, um aus dem vom Umfang her beschränkten Fallmaterial (4 Einzelgespräche) einen substantiellen Erkenntnisgewinn zu erzielen. Aus der psychoanalytischen Praxis weiß man, dass es oft Stunden dauert, bis eine brauchbare Arbeitshypothese bezüglich der tatsächlich vorhandenen Konflikte formuliert werden kann. Das Material, das Koher präsentiert, reicht denn auch bei weitem nicht aus, um auch nur einigermaßen gesicherte Aussagen über vorhandene innere Konflikte oder unbewusste Vorstellungen machen zu können. Darüber hinaus wäre man dankbar für Hinweise der Interviewerin zur mentalen und psychischen Verfassung der interviewten Mädchen – ganz abgesehen von der emotionalen Wirkung, welche diese auf die Interviewerin gemacht haben. Dieses für jede psychoanalytische Annäherung unverzichtbare Material fehlt in der Auswertung fast vollständig, obwohl die Verfasserin einleitend explizit festhält, dass sie mit dem Konzept der Übertragung arbeiten werde. Man fragt sich auch immer wieder, auf welchem psychischen Strukturniveau diese Mädchen funktionieren. Bei mindestens drei der vier Fallbeispiele muss man stärkere psychische Störungen in Betracht ziehen. Auch diese Problematik wird nicht reflektiert, die Autorin scheint kein Bewusstsein für den Zusammenhang von psychischem Strukturniveau und Gewaltbereitschaft zu haben.

Schlechte Noten auch für den Wissenschaftsbetrieb

Das wenige, was an Erkenntnissen aus den Interviews präsentiert wird, ist daher fragwürdig und zu wenig gut belegt. Hinzu kommen höchst ärgerliche formale Mängel: Man kämpft sich von Seite zu Seite durch Druckfehler, Deklinationsfehler und Sätze, die offensichtlich entstellt sind, bis hin zu gravierenden inhaltlichen Verwechslungen (einmal greift die Mutter die Tochter mit dem Messer an, 25 Seiten später wird derselbe Sachverhalt umgekehrt dargestellt). Wer hat diese Arbeit gegengelesen, wer war für das wissenschaftliche Referat verantwortlich und an welcher Universität, in welchem Fachbereich wurde die Arbeit als Dissertation angenommen, und schließlich: wieso fehlen diese Informationen? Erschienen ist das Buch beim „Verlag Dr. Kovac“ in der Reihe „Gender Studies“. Der Verlag wirbt auf der Homepage mit „umfangreicher verlegerischer Leistung, hervorragender Qualität und persönlicher Betreuung“. Ein Kommentar dazu erübrigt sich.

URN urn:nbn:de:0114-qn083123

Dr. Monika Gsell

Psychoanalytikerin in eigener Praxis und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kompetenzzentrum Gender Studies der Universität Zürich

E-Mail: monika.gsell@access.uzh.ch

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.