Selbstkritik als wissenschaftliches Projekt?

Rezension von Barbara Scholand

Claudia Wallner:

Feministische Mädchenarbeit.

Vom Mythos der Selbstschöpfung und seinen Folgen.

Münster: Klemm & Oelschläger 2006.

320 Seiten, ISBN 978–3–932577–70–3, € 24,80

Abstract: Wallner kritisiert die aktuelle feministische Darstellung der rund 30jährigen Geschichte der Mädchenarbeit als „Legendenbildung“ (S. 9): Sie verkürze und verschweige im Interesse einer Selbst-Heroisierung und sei daher ideologisch. Als eine derjenigen, die seit zwanzig Jahren feministische Mädchenarbeit und -politik betreibt, arbeitet die Autorin damit auch ihre eigenen (Nicht-)Bezugnahmen kritisch auf. Ihr grundlegendes Interesse ist es, eine aus ihrer Sicht erforderliche Neupositionierung der Mädchenarbeit in der Jugendhilfe im Zeitalter von Gender Mainstreaming zu befördern.

Rettung der Mädchenarbeit durch Entlarvung ihrer Mythen?

Gleich in der Einleitung kommen angesichts der weit gefassten Fragestellung Zweifel an der Umsetzbarkeit von Wallners Projekt auf: „Was, so die zentrale Frage, war die tatsächliche Bühne, auf der feministische Mädchenarbeit konzipiert und realisiert wurde?“ (S. 10) Die Autorin möchte zur Klärung dieser Frage „die gesamte[] literarische[] Dokumentation der Mädchenarbeit“ (ebd.) heranziehen und darüber hinaus „untersuchen, welche relevanten Veränderungen und Ereignisse sich im Entstehungszeitraum insgesamt zugetragen haben und ob sie sich gänzlich in den Begründungszusammenhängen wiederfinden“ (ebd.). Im zweiten Kapitel werden knappe fünfeinhalb Seiten darauf verwandt, die Quellen sowie die Analyse- und Interpretationsmethode vorzustellen. Die Autorin bezieht sich für ihr Vorgehen auf den kritisch-marxistischen Philosophen Leo Kofler und dessen Frühwerk zur dialektischen Methode der Geschichtsschreibung von 1948, ohne jedoch genauer zu erläutern, warum und in welcher Weise gerade diese Methode für ihr Projekt brauchbar sein soll.

In einem ersten Schritt (Kap. 3) wird die Entstehung feministischer Mädchenarbeit auf zwei Ebenen beleuchtet: Zum einen wird Literatur aus dem Zeitraum 1980 bis 2005 daraufhin befragt, welche Begründungen für feministische Mädchenarbeit zu Beginn genannt wurden und wie sich diese im Laufe der Zeit veränderten; die Autorin beschränkt sich hier auf 21 Quellen, die hauptsächlich die Entwicklung der Mädchenarbeit in Berlin beschreiben. Zum anderen werden Konzepte aus der Anfangszeit der Mädchenarbeit daraufhin befragt, welche fachlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurse in ihnen zum Tragen kommen. Wallner arbeitet heraus, dass bestimmte Aspekte, wie z. B. das Eigeninteresse der Pädagoginnen an einer Veränderung ihrer unbefriedigenden beruflichen Situation als ‚Gefühlsarbeiterinnen‘ in der Jugendarbeit (S. 36), allmählich aus der Geschichtsschreibung verschwanden. Übrig geblieben sei lediglich der Slogan „Jugendarbeit ist Jungenarbeit“ (S. 72). Durch diese Verkürzung, so die Kritik der Autorin, erscheine die Entstehung der Mädchenarbeit als „Jungfrauengeburt“ (S. 44) und werde zur „Heldinnengeschichte“ (S. 45) umgewidmet. Der Topos einer exklusiv von Frauen „aus sich selbst heraus“ (S. 89), also autonom entwickelten, Mädchenarbeit sei jedoch nicht haltbar; Mädchenarbeit habe sich damit, ebenso wie mit der Fixierung auf Jungen und Männer als „Feindbild“ (S. 59), „auf Seiten des Radikalfeminismus“ (S. 69) positioniert und dadurch isoliert. Vielfältige Einflüsse und Auseinandersetzungen, wie z. B. mit dem Arbeitermädchenansatz, seien in der Geschichtsschreibung ausgeblendet worden (vgl. S. 88). Widersprüchlich (und den Autonomieanspruch der Mädchenarbeit stützend) erscheint demgegenüber jedoch die folgende Feststellung Wallners: „Die Entwicklung feministischer Mädchenarbeit war Pionierinnenarbeit und musste deshalb im Wesentlichen aus sich selbst heraus funktionieren.“ (S. 80)

Die Erkenntnisse aus der Literatursichtung zur Geschichte und zu frühen Konzepten der Mädchenarbeit bündelt Wallner in einem Zwischenschritt (Kap. 4) in der These vom „Ideologieverdacht“ (S. 90 f.). Da sie auch hier wieder nicht ihr Begriffsverständnis erläutert, kann nur vermutet werden, dass sie, da sie sich auf einen marxistischen Geschichtsphilosophen bezieht, einen ebenfalls marxistischen Ideologiebegriff zugrunde legt, der sich auf die Verschleierung von (Macht-)Interessen bezieht. Diesen Verdacht will Wallner in vier großen Themenfeldern überprüfen, die für die feministische Mädchenarbeit von Bedeutung sind: 1. Gesellschaftliche Situation von Mädchen und Frauen, 2. Die zweite deutsche Frauenbewegung, 3. Feministische Sozialisationsforschung und 4. Jugendhilfe. Auf insgesamt 200 Seiten wird hier eine Fülle lesenswerter Informationen zusammengetragen, die eine Fundgrube für Unterrichts- und Bildungsprojekte zur jüngeren Geschichte darstellen und insbesondere jüngere Frauen und Männer darüber aufklären können, wie ‚jung‘ in geschichtlicher Hinsicht bestimmte, ihnen heute selbstverständliche Rechte und Freiheiten sind. Die von Wallner vertretene These, dass Mädchenarbeit sich als exklusiv und autonom erschaffen wollte und damit sowohl eine Selbstüberhöhung als auch einen Selbstausschluss betrieb, führt dazu, dass alle Befunde durch diese Brille hindurch gesehen werden: Wurden mädchenrelevante Themen in den o. g. vier Bereichen nach Meinung der Autorin von feministischer Mädchenarbeit nicht aufgegriffen, wird dies pauschalisierend auf der Folie des angenommenen Selbstausschlusses von Mädchenarbeit interpretiert. Ob das gleichzeitige Anliegen Wallners, heutige Pädagoginnen in der Mädchenarbeit von überhöhten Ansprüchen zu entlasten (vgl. S. 45) und Mädchenarbeit besser positionieren zu wollen (vgl. S. 299 f.) durch ihr (selbst-)kritisches Bestreben nach Erhärtung des „Ideologieverdachts“ nicht eher konterkariert wird, sei dahin gestellt – ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass feministische Mädchenarbeit von konservativer Seite her schon immer dem Ideologieverdacht ausgesetzt war.

Schlussendlich leidet Wallners Arbeit zum einen unter dem zu hohen und zu weit gefassten Anspruch ihrer Fragestellung und zum anderen unter der Ambivalenz, zugleich wissenschaftlich forschen und politisch wirksam sein zu wollen. Aus wissenschaftlicher Perspektive wäre es sinnvoll gewesen, sich auf die Beforschung eines Mädchenprojekts zu beschränken und daran die durchaus nicht unspannenden Thesen von der „Heldinnengeschichte“ und vom „Mythos der Selbstschöpfung“ bspw. durch Interviews mit Akteurinnen genauer zu untersuchen. Aus politischer Sicht, d. h. in Hinblick auf eine stärkende Neupositionierung der Mädchenarbeit, wäre ein anderer Blickwinkel hilfreich gewesen: Dieser hätte, den gegenseitigen Abgrenzungsverlautbarungen zum Trotz, z. B. nach den wechselseitigen Beeinflussungen von Mädchenarbeit und Jugendhilfe fragen und damit auch darlegen können, inwieweit die von feministischer Seite entwickelten Ansätze inzwischen – häufig ohne Nennung der Quellen –Eingang in vielfältige Arbeitsgebiete gefunden haben.

URN urn:nbn:de:0114-qn083283

Barbara Scholand

Universität Hamburg, Erziehungwissenschaft

E-Mail: scholand@erwiss.uni-hamburg.de

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