Der westliche Blick auf den Orient.

Rezension von Antje Schrupp

Christina von Braun, Bettina Mathes:

Verschleierte Wirklichkeit.

Die Frau, der Islam und der Westen.

Berlin: Aufbau 2007.

476 Seiten, ISBN 978–3–351–02643–1, € 24,95

Abstract: Angesichts der aktuellen Debatten über den Islam zeigen Christina von Braun und Bettina Mathes die viele Jahrhunderte alte Interpretationsgeschichte des Orients aus westlicher Perspektive auf. In ihrem materialreichen Band schildern sie die historische und geografische Vielfalt des Phänomens „Islam“ und zeigen, wie westliches Selbstverständnis und Projektionen das Bild des Okzidents vom Orient seit langem und bis heute prägen – auch da, wo man es auf den ersten Blick nicht vermuten würde.

Eine Jahrhunderte alte Beziehung

Während alle Welt über den Islam diskutiert, stellen Christina von Braun und Bettina Mathes die andere Seite auf den Prüfstand: den westlichen Blick auf den Orient, oder, besser gesagt, das „Dazwischen“, die „Art, wie sich die Annahmen der einen Seite mit denen der anderen verbinden“ (S. 9). Ihre Studie ruft in Erinnerung, dass die wechselseitige Geschichte von Orient und Okzident schon etliche Jahrhunderte währt, was angesichts der zugespitzten Debatten seit dem 11. September allzu oft aus dem Blick geraten ist. Kein plötzlicher „Clash of Civilizations“ ist es, der sich in der zurzeit oft höchst aggressiven Stimmung zwischen Ost und West Bahn bricht, sondern vielmehr nur die gegenwärtige Ausformung einer Beziehung, die schon immer zwischen Faszination und Missverständnissen, gegenseitiger Beeinflussung und Abgrenzung oszillierte.

Das Geschlecht als Subtext

Nach Ansicht der Autorinnen ist es kein Zufall, dass sich die gegenwärtigen Auseinandersetzungen auffällig deutlich um die Interpretationshoheit von Weiblichkeit drehen. Dass der westliche Drang zur „Entschleierung“ aufs Engste mit einer Kulturgeschichte zusammenhängt, die sich die „Entdeckung“ und Erforschung der Innenwelten zur Aufgabe gemacht hat, sei es in der Naturwissenschaft, der Kunst oder der Philosophie, wird an vielerlei Phänomenen gezeigt. Und so erscheint auch die gegenwärtige „Kopftuchdebatte“ in einem neuen Licht, wenn man bedenkt, wie eng im westlichen Denken Weiblichkeit verknüpft war mit jener „unberührten Natur“, die es zu enträtseln, zu durchleuchten und letztlich auch zu unterwerfen galt. Es ist einleuchtend, dass die Enthüllung des weiblichen Körpers zum zwingenden Anliegen einer Kultur wurde, die sich eine barbusige Marianne auf den Barrikaden zum Sinnbild ihrer aufklärerischen Haltung erkoren hat.

So ist es lehrreich zu sehen, dass die westliche Selbstbeauftragung, die „Emanzipation“ der Frauen in den Orient zu exportieren, weit zurückreichende Wurzeln hat und mehr mit einer kolonialen Geschichte zusammenhängt als mit dem Wunsch, die weibliche Freiheit zu befördern: Schon Lord Cromer, im 19. Jahrhundert britischer Generalkonsul in Ägypten, betrieb vehement die Entschleierung der ägyptischen Frauen, weil er in dieser Kleiderordnung ein maßgebliches Zeichen für die orientalische Rückständigkeit sah – was ihm kein Widerspruch dazu war, in England selbst eine „Männerliga gegen die Einführung des Frauenstimmrechtes“ zu gründen. In vielem, was der Westen am Orient kritisiert, kritisiert er letztlich sich selbst: in den arrangierten Ehen mancher muslimischer Kulturen die eigene Vergangenheit der „Versorgerehe“, in der religiös begründeten Geschlechtertrennung des Islam die eigene bürgerliche Kulturtradition der „seperate spheres“. Das Problem dabei ist, dass solche Projektionen an der Oberfläche bleiben, auf der Ebene der Symptome, und damit einen realistischen Zugang zu den tatsächlichen Strukturen orientalischer Kulturen verstellen.

Die zwiespältige Rolle des Feminismus

Eine Folge dieser Doppelbödigkeit sehen die Autorinnen in dem mitleidigen und etwas herablassenden Gestus, den manche westliche Feministinnen Musliminnen gegenüber an den Tag legen – und auch das schon seit Jahrhunderten. Der Blick auf die (vermuteten) Leiden der fremden Frauen ließ den westlichen Frauen schon immer die eigene Situation erträglicher erscheinen, was nicht nur in den Zeugnissen weiblicher Orientreisender im 19. Jahrhundert sehr deutlich wird, sondern auch heute zum Ausdruck kommt: Wie sonst könnte es erklärt werden, dass die Diskussionen über islamische Ehrenmorde und Zwangsheiraten so eifrig (und vollkommen zu Recht)geführt werden, aber kaum jemand thematisiert, dass auch die durchaus zahlreichen Morde und Gewalttaten, die in westlichen Milieus an Frauen verübt werden, fast immer unmittelbar in engen familiären Beziehungsstrukturen stattfinden, also durchaus eine Folge der Art und Weise sind, wie sexuelle Beziehungen im Westen organisiert sind?

Das Tragische an diesem Setting ist nicht nur, dass hier reihenweise Vorurteile, Missverständnisse und Misstrauen am Leben gehalten und immer neu erzeugt werden, sondern dass das Symbol der „Kopftuchfrau“ eine Gesichtslosigkeit und Austauschbarkeit der muslimischen Frau suggeriert, die es nahezu unmöglich macht, ihre tatsächlich vorhandene Individualität zu erkennen und zu akzeptieren – wodurch das westliche Projekt letztlich seine eigenen Ziele, nämlich eine aufgeklärte, das Individuum respektierende Welt zu schaffen, konterkariert. Es bindet die Musliminnen vielmehr ein in den männlich geprägten Diskurs über den Islam mit seiner deutlich fundamentalistischen Schlagseite (wobei auch der Fundamentalismus im Übrigen eine ursprünglich christliche Erfindung ist) und erschwert es so den muslimischen Frauen, sich Gehör zu verschaffen und mit ihren eigenen Anliegen wahrgenommen zu werden.

Breite Auffächerung des Phänomens „Orient“

Ihre Grundthese vom weiblich konnotierten Subtext in der Begegnung des Okzidents mit dem Orient belegen die Autorinnen anhand zahlreicher Einzelphänomene: der Entstehung der Schriftsprache, den Säkularisierungsprozessen in der Türkei, der Logik des Geldsystems und der Prostitution, der Psychoanalyse. Einige dieser Überlegungen sind bereits aus anderen Veröffentlichungen der Autorinnen bekannt. Doch die Art und Weise, wie sie in dieser Studie zusammenfließen, ist höchst inspirierend. So manches fordert zum Widerspruch heraus und macht Lust auf weitere Nachforschungen und Diskussionen. Insgesamt ist dieses Buch ein unverzichtbarer Beitrag zur gegenwärtigen Islamdebatte. Es fächert die historische wie geografische Vielfalt des Phänomens „Orient“ auf, bietet eine Fülle an historischem Material, stellt eigenwillige Verknüpfungen her und hinterfragt Selbstverständlichkeiten auch da, wo man es auf den ersten Blick gar nicht für notwendig halten würde. Der Partikularität des eigenen Standpunktes auf die Spur zu kommen, ist jedenfalls ein guter Ausgangspunkt für ein besseres Verständnis dessen, was gegenwärtig in der Welt geschieht.

URN urn:nbn:de:0114-qn083292

Dr. Antje Schrupp

Frankfurt am Main, Homepage: http://www.antjeschrupp.de

E-Mail: antjeschrupp@aol.com

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