Bettina Bock von Wülfingen:
Genetisierung der Zeugung.
Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte.
Bielefeld: transcript 2007.
374 Seiten, ISBN 978–3–89942–579–6, € 30,80
Abstract: Intensive Auseinandersetzungen werden um Reproduktions- und Gentechnologien geführt. Für viele Menschen ist dabei ganz klar, ob sie eine befürwortende oder ablehnende Haltung dazu einnehmen. Menschen, die sich Kinder (mit eigenen Genen) wünschen, allerdings nicht in der Lage sind, diese – allein oder mit ihren Partner/-innen – zu bekommen, finden in der bundesdeutschen Debatte um Reproduktions- und Gentechnologien bislang kaum Gehör (S. 237–241). Gerade an diese wenden sich in Populärmedien ‚Expert/-innen‘, die Reproduktions- und Gentechnologien befürworten. Sie versprechen, den Wunsch nach einem Kind (mit eigenen Genen) zu erfüllen. Als Vorteile von Reproduktions- und Gentechnologien werden nicht in erster Linie der Schutz vor Erbkrankheiten, sondern die Ermöglichung von Gesundheit und die Wahl von Merkmalen in den Vordergrund gestellt. Die Selbstbestimmung des Individuums (durch Überwindung von Unzulänglichkeiten der ‚Natur‘) wird als möglich dargestellt (S. 107). Bock von Wülfingen analysierte Beiträge von Reproduktions- und Gentechnologien befürwortenden und in diesen Bereichen tätigen ‚Expert/-innen‘ in deutschsprachigen Populärmedien aus dem Zeitraum von 1995 bis 2003. Diese unterzog sie einer Diskurs- und Metaphernanalyse und bekam durch ihren Fokus auf die Befürwortung von Reproduktions- und Gentechnologien sich zuspitzende Erwartungshaltungen in den Blick. Interessant ist Bock von Wülfingens Arbeit für all diejenigen, die den Horizont bisheriger Debatten um Reproduktions- und Gentechnologien erweitern möchten.
Bock von Wülfingen wählte für die Betrachtung reproduktions- und gentechnologischer Zukunftsszenarien eine sonst eher ungewöhnliche Perspektive, die die Lektüre ihrer Dissertationsschrift für Leser/-innen aber umso relevanter macht: die Perspektive sich für diese Technologien in Populärmedien aussprechender ‚Expert/-innen‘.
Anhand der Ereignisse der letzten Jahrzehnte des 20. und des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts konnte man davon ausgehen, dass der ‚Aberglaube‘ der absoluten Heilung und Beherrschung der Reproduktion durch ein genetisches Verständnis eine vorübergehende Erscheinung war. Erinnert sei an die sich auch bei ‚Expert/-innen‘ der Biologie in den 1980/90er Jahren verbreitende Ansicht der multifaktoriellen Konzepte der Ausprägung phänotypischer Merkmale, statt der einfachen Ein-Gen-ein-Merkmal-Hypothese, die Gene in 1:1-Übertragung als codierend für Merkmale beschrieb.) und dessen Erkenntnis, dass der Mensch mit 30000 oder 40000 vermuteten Genen nur unwesentlich Verwiesen sei auch auf das Humangenom-Projekt, dessen Ergebnis der einfachen Basenabfolge im menschlichen Genom (ohne Unterscheidung codierender und nicht codierender Sequenzen mehr Gene als ein unscheinbarer Fadenwurm besitze, eher ernüchternd gewirkt haben dürften (vgl. E. F.Keller: Das Jahrhundert des Gens).
Ganz anders die Erkenntnisse, die Bock von Wülfingen in ihrer Dissertationsschrift für den Diskurs von sich positiv zu Reproduktionsmedizin äußernden Expert/-innen in populären Magazinen und Zeitschriften ausführt. Bock von Wülfingen arbeitet heraus, dass in diesen Beiträgen im Zeitraum von 1995 bis 2003 Gedanken eines unumschränkt herrschenden Gens sehr präsent waren. Im Alltagsdiskurs wurde von einer bestimmenden Rolle von Genen für die Ausprägung von ‚Erbkrankheiten‘ und von spezifischen körperlichen Merkmalen ausgegangen (S. 287–291). Dies wurde von sich in diesem Umfeld äußernden ‚Expert/-innen‘ ausgenutzt und Beiträge in diesen Medien daran orientiert. Bock von Wülfingen folgend sei die in den 1990er Jahren oftmals erhobene These des Zurücktretens ‚des Körpers‘ hinter ‚das Genetische‘ zu korrigieren: ‚das Genetische‘ und ‚der Körper‘ würden im Alltagsdiskurs vielmehr eins, ‚das Gen‘ werde direkt an phänotypische Merkmale gekoppelt (S. 291).
Um die Notwendigkeit reproduktionsmedizinischer und gentechnologischer Maßnahmen zu begründen, vollzogen die ‚Expert/-innen‘ in den analysierten Artikeln Wendungen in Argumentationen. Wurde Homosexualität bis 1997 von der WHO (World Health Organization) und vielfach in der Medizin als Krankheit beschrieben und Infertilität von WHO und Medizin ebenso in einen erweiterten Krankheitsbegriff einbezogen, so wurden sowohl Homosexualität als auch Infertilität in den ‚Expert/-innen‘-Beiträgen teilweise entpathologisiert und als Begründungszusammenhänge herangezogen, um Reproduktions- und Gentechnologien zu rechtfertigen (S. 241 ff., S. 271 ff.). Individuelle Rechte, Selbstbestimmungen, die ‚Ermöglichung‘ selbstbestimmter Wahl wurden von ‚Expert/-innen‘ in den Vordergrund gerückt (S. 107 ff.), gleichgeschlechtliche Lebensweise als emanzipative Wahlmöglichkeit und Ausgangspunkt der (sehr heterosexuellen) Sehnsucht nach einer Kleinfamilie mit Kindern betrachtet (S. 110, S. 283), Infertilität darüber hinaus – von mehreren ‚Expert/-innen‘ – als anzustrebender Standard ausgewiesen (S. 151 ff., S. 296 ff.). Infertilität würde, so diese ‚Expert/-innen‘, durch Umweltverschmutzung ohnehin zunehmen (S. 271 ff.). Zudem würde sie aber den individuellen Selbstbestimmungsraum für Individuen erweitern, da es möglich werde, dass Ei- und Samenzellen (alternativ Körperzellen) eingefroren und zu einem beliebigen späteren Zeitpunkt des Lebens – zusammen mit einer weiteren interessierten Partner/-in – zur Zeugung eines Kindes genutzt werden könnten (S. 151 ff., S. 296 ff.). Ein Ausschluss nicht gewünschter Merkmale könne stattfinden, ggf. werde auch die Auswahl gewünschter Merkmale möglich (S. 157 ff., S. 287 ff.).
Wir seien „wandelnde Maschinen mit eingebautem Programm“ (S. 138), „Marionetten unserer Hormonchemie“ (S. 138 f.), so hantierten ‚Expert/-innen‘ in Populärmedien mit wirkmächtigen Metaphern. Liebe kennzeichnete ein männlicher Experte im untersuchten Material schon mal als „Drüsen- und Nervengewitter“ (S. 139). ‚Expert/-innen‘ kennzeichneten Menschen als durch eine Körperbiologie in ihrem Handeln (fremd)bestimmt und wiesen Technik als natürliche Fortsetzung der Evolution aus (S. 136 ff.). Mit Technik würden ‚Unzulänglichkeiten‘ der ‚Natur‘ kontrollierbar und durch das Individuum selbst bestimmbar (S. 201 ff.). Deutlich wurde, dass die betrachteten ‚Expert/-innen‘ auf eine bildhafte Sprache zurückgriffen, um aus ihrer Sicht un- bzw. schwer verständliche Sachverhalte, darzustellen. Als Metaphern wurden Anlehnungen an die Botanik (bspw. ‚einpflanzen‘, ‚abstammen‘) oder an Krieg (‚therapeutische Aufrüstungen‘, ‚neue Angriffspunkte‘, ‚Durchschlagskraft genetischer Krankheitsfaktoren‘) verwendet. ‚Gen‘ wurde in ein Verhältnis zu ‚Merkmal‘ oder einer ‚Nachricht‘ gesetzt, DNA in den Zusammenhang des ‚Lesens‘ im ‚Buch der Natur‘ eingeordnet, genetische Klone mit ‚Kopien‘ verglichen . Sehr aufschlussreich sind die diesbezüglichen Analysen Bock von Wülfingens (S. 168 ff.).
Erwartungen und Fiktionen, die an Reproduktions- und Gentechnologien geknüpft wurden, arbeitet Bock von Wülfingen anschaulich und nachvollziehbar heraus. Dabei unterzieht sie Artikel ausgewählter, viel gelesener deutschsprachiger Wochenzeitungen und -zeitschriften aus dem Zeitraum von 1995 bis 2003 einer genauen Analyse. In Spiegel, Focus, Die Zeit und Süddeutsche Zeitung fanden sich viele längere Artikel, die von im Gebiet der Reproduktions- und Gentechnologie tätigen ‚Expert/-innen‘ geschrieben waren. Außerdem wurden zahlreiche Artikel aus Spektrum der Wissenschaft und Einzelfunde aus Geo, Ethica und Emma zur Analyse herangezogen (S. 83 ff.). Die von ‚Expert/-innen‘ geschriebenen, sich positiv zu Reproduktions- und Gentechnologien äußernden, längeren Artikel erschienen i. d. R. in einem Kontext, in dem eine ‚ausgewogene‘ oder ‚ablehnende‘ Haltung zu Reproduktions- und Gentechnologien eingenommen wurde, standen also nicht ‚für sich‘ (S. 85 f.). Diese Artikel betrachtet Bock von Wülfingen als Spezialdiskurs vor einer Makroebene; und untersucht sie mittels Diskursanalyse (S. 23 ff.) und Metaphernanalyse (S. 168 ff.).
Damit war es Bock von Wülfingen möglich, zuspitzende, fiktive Erwartungshaltungen von Reproduktions- und Gentechnolog/-innen herauszukristallisieren und diese für eine weiterführende Debatte fruchtbar herauszuarbeiten. Für eine weitere Analyse wird es dienlich sein, auch gender-Aspekte in den Blick zu nehmen, da die von Bock von Wülfingen in der Mikro- und Feinanalyse betrachteten Artikel fast ausnahmslos von männlichen Experten geschrieben wurden. Weibliche Expertinnen, auch weibliche Feministinnen, werden sich ggf. auch für oder gegen Reproduktions- und Gentechnologien aussprechen – dies aber ggf. mit anderen Erwartungen.
URN urn:nbn:de:0114-qn083352
Heinz-Jürgen Voß
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