„Geschichte des Mitmachens“ oder Opferdiskurs. Frauen als Autorinnen von Kriegsliteratur

Rezension von Astrid Gehrig

Cordula Mahr:

Kriegsliteratur von Frauen?

Zur Darstellung des Zweiten Weltkriegs in Autobiographien nach 1960.

Herbolzheim: Centaurus Verlag 2006.

514 Seiten, ISBN 978–3–8255–0622–3, € 29,50

Abstract: Cordula Mahr ermöglicht mit ihrer Untersuchung von 70 Autobiographien deutscher Frauen einen Blick auf die „Heimatfront“, ein Blick, der bisher in einer vornehmlich männlich besetzten Kriegsliteratur, die Krieg in erster Linie als Fronterlebnis definiert, vernachlässigt wurde. Die Autorin konzentriert sich auf die Passagen der Autobiographien, die sich direkt auf den Zweiten Weltkrieg beziehen, und berücksichtigt ausschließlich nach 1960 erschienene Texte. In den Darstellungen überwiegt in Bezug auf den Krieg und den Nationalsozialismus das Selbstverständnis als Geschädigte und Leidtragende. Nur sieben Frauen schreiben in ihren Autobiographien auch ihre „Geschichte des Mitmachens“. Mahrs Untersuchung gibt gerade durch diese Auffälligkeit Anlass, auch über formale Strukturmerkmale der Autobiographie nachzudenken, z. B. darüber, ob diese eventuell eine Selbstdarstellung als Opfer begünstigen.

Als Kriegsliteratur wird im allgemeinen Sprachgebrauch Literatur von Männern, Literatur, in der es um Schlachten und Soldaten geht, bezeichnet. Damit werden Frauen als Autorinnen von Kriegsliteratur wirksam ausgeschlossen, hatten sie doch keine Fronterlebnisse in diesem Sinne. Indem man außerdem Kriegsliteratur als Erlebnisliteratur definierte, durfte auch nicht rein fiktional (von Frauen beispielsweise) über den Krieg geschrieben werden. In diese Männerdomäne einzubrechen, Frauen als Autorinnen von Kriegsliteratur wahrzunehmen, ist das Anliegen von Cordula Mahrs Dissertation Kriegsliteratur von Frauen? Zur Darstellung des Zweiten Weltkrieges in Autobiographien von Frauen nach 1960. Dies gelingt ihr, indem sie die Definition von „Krieg“ erweitert. Indem Mahr den in der Geschichtswissenschaft üblichen Begriff der „Heimatfront“ ernst nimmt, werden auch Frauen zu Autorinnen von Kriegsliteratur. Damit betritt Mahr in der Literaturwissenschaft Neuland.

Erstaunlich wenig professionelle Schriftstellerinnen

Mahr hat für ihre Darstellung 72 Titel (von 70 Autorinnen) ausgewählt, deren Erscheinungsjahre zwischen 1960 und 1997 liegen. Damit stellt sie sicher, dass die Autorinnen die kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus theoretisch hätten berücksichtigen können. Ein weiteres Kriterium war die Konzentration der Lebenserinnerungen auf die Zeit des Krieges. Die Arbeit beschränkt sich auf Autobiographien jener Mehrheit deutscher Frauen, die bereits vor 1938 in Deutschland lebten, den Krieg überwiegend in Deutschland erlebt haben und weder im organisierten Widerstand tätig waren noch als „Gemeinschaftsfremde“ deportiert wurden. Exilliteratur entfällt, ebenso die Sicht von Frauen, welche erst im Zuge der deutschen Expansionspolitik in den deutschen Einflussbereich gerieten. Unter den von Mahr ausgewählten Autorinnen sind erstaunlich wenig professionelle Schriftstellerinnen, nämlich nur zwölf, daneben siebzehn Schauspielerinnen, acht Funktionärinnen und dreiunddreißig Zeitzeuginnen unterschiedlicher Berufe. Die Frauen stammen aus der wilhelminischen, der Weimarer und der Hitlerjugend-Generation.

Man will sich als Opfer sehen

Komplementär zur Textanalyse von (männlicher) Kriegsliteratur ordnet Mahr die Erfahrungen der Frauen bestimmten Themen zu: „akute Lebensgefahr“ (wie Luftangriff, gefährliche Zugfahrt, Vergewaltigung), „Versorgungsmangel“ und „Verlust“ (von Angehörigen, Besitz und Heimat). Diese Kriegserfahrungen sind bereits dokumentiert, zum Beispiel von Margarete Dörr in ihrem grundlegenden Werk „Wer die Zeit nicht miterlebt hat…“ Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in der Zeit danach (3 Bände, Frankfurt am Main u. a. 1998). Auch Cordula Mahr ist das bewusst. Den eigentlichen Schwerpunkt ihrer Arbeitet bildet daher auch der zweite, umfangreichere Teil. Hier geht Mahr der Frage nach der Bewertung von Krieg und Nationalsozialismus in den Autobiographien sowie der Selbstdarstellung der Autorinnen nach. Implizit setzt sie sich dabei mit der These der Historikerin Christina Thürmer-Rohr auseinander, die bemängelt hatte, dass das „‚geschlechtsspezifische Gedächtnis‘ nicht-verfolgter Frauen […] vor allem den leidvollen und schuldfreien Teil der Erfahrung gespeichert „ habe (Christina Thürmer-Rohr: Die postmoderne These vom ‚Tod der Geschichte‘. Feminismus und der Holocaust. In: Ortrun Niethammer (Hg.): Frauen und Nationalsozialismus. Historische und kulturgeschichtliche Positionen. Osnabrück 1996, S. 24–40; hier S. 39).

Genau dies bestätigt sich in den von Mahr ausgewählten Texten zunächst: Die meisten Frauen beschreiben sich rückblickend als passiv oder gar als Gegnerinnen des Regimes. Das Selbstverständnis und die Darstellung als Kriegsopfer impliziert die Schuldfreiheit. Auf diese Position ziehen sich die meisten Frauen zurück und bilden damit eine Analogie zu dem Bild vom unschuldigen, einfachen Soldaten in weiten Teilen der deutschen Kriegsliteratur. Präzise arbeitet Mahr die strukturellen Ähnlichkeiten von konventionellen Autobiographien, wie sie von der Mehrzahl der Frauen geschrieben wurden, und Kriegsromanen der Soldaten heraus: Beide erzählen in der ersten Person und weitgehend chronologisch, beide haben eine eingeschränkte Opferperspektive, weil die Hauptfigur keinen Einblick in übergeordnete historische Zusammenhänge hat. Der sogenannte „autobiographische Pakt“ (Philippe Lejeune) sichert in beiden Fällen dem Leser, der Leserin die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist zu. Insofern existieren gattungsinhärente Strukturmerkmale der (konventionellen) Autobiographie, die eine kritisch-reflektierteDarstellung des Zweiten Weltkrieges einschränken können. Das ist aufschlussreich, weil trotz der historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus die Identifikation mit der Opferrolle vorherrsche. Öffentliche Diskurse über den Holocaust oder über andere Verbrechen der NS-Zeit haben – so legen die Ergebnisse von Mahr nahe – die Mehrzahl der untersuchten Autobiographien kaum oder gar nicht beeinflusst. Das kognitiv angeeignete Geschichtswissen wird also im emotionalen Bereich von Gedächtnis und Erinnerung weitgehend ausgeblendet. Dieser Befund entspricht neuesten Untersuchungen der Oral History zur familialen Weitergabe von Geschichte und zur Analyse des Prozesses der Vergangenheitsbildung. Deren Ergebnisse haben gezeigt, dass offizielle Gedächtniskultur und das private Erinnern vor allem in Deutschland extrem unterschiedlich ausfallen. Demnach vermitteln Angehörige der Zeitzeugengeneration häufig andere Bilder und Vorstellungen von der nationalsozialistischen Vergangenheit als die öffentliche Erinnerungskultur.

Die Ausnahmen

Die Autobiographien von Renate Finnckh, Melita Maschmann, Carola Stern, Eva Sternheim-Peters, Lore Walb, Christa Wolf und Eva Zeller bilden für Mahr die Ausnahmen, und zwar aus folgenden Gründen: Diese sieben Frauen verzichten bei der Darstellung von fast allen Aspekten der nationalsozialistischen Kriegspolitik darauf, sich als verfolgt oder als Regime-Gegnerinnen darzustellen. Diese Autorinnen – erzählen ihre „Geschichte des Mitmachens“ (Thürmer-Rohr), ohne darüber das eigene Leiden auszublenden. Sie berichten von verinnerlichten Feindbildern, die das Handeln bestimmten, und von ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den rassisch als minderwertig geltenden Zwangsarbeitern. Ihr damaliger Kriegseinsatz wird den meisten von ihnen fragwürdig. Ihre Darstellungen, welche die Autorinnen zugleich als „Täterin“ und als „Opfer“ kennzeichnen, werden durch Forschungen zur Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus bestätigt. Frauen waren im nationalsozialistischen Alltag häufiger „Mitseherinnen, Mithörerinnen und Mitwisserinnen“ als „Mittäterinnen“ und wenn, dann bestand die „Mittat“ – wie Adelheid von Saldern nachgewiesen hat – in der Regel mehr im „Unterlassen“ als im aktiven Handeln.

Die Rolle der Erzähltechnik

Das Bewusstsein einer Diskrepanz zwischen damaliger und heutiger Bewertung des Krieges und des Nationalsozialismus erfordert erzähltechnisch für die Autobiographie geradezu eine Aufweichung der Einheit von Autorin, Erzählerin und Hauptfigur. Mahr zeigt, dass diese sieben Autorinnen daher bewusst gegen den „autobiographischen Pakt“ verstoßen, sie etablieren eine zweite Zeitschiene, mit der die Grenze der eigenen Erinnerung reflektiert wird. Brüche werden nicht geglättet, sondern offen gelegt. Es ist wohl kein Zufall, dass die sieben so anderen Autobiographien ausnahmslos von professionellen Schriftstellerinnen (wie Stern, Wolf, Zeller) oder Frauen mit Publikationserfahrung geschrieben wurden. Ein entsprechendes Repertoire an Stilmitteln, so Mahr, stand den anderen 63 Frauen vermutlich nicht zur Verfügung.

Fazit

Die Untersuchung von Cordula Mahr eröffnet einen neuen Blick auf die Kriegsliteratur und bietet auch der Autobiographieforschung Anknüpfungspunkte. Mahr hat mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Frage nach der Perspektive von Frauen auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die autobiographischen Texte von Frauen der Kriegsgeneration geleistet.

URN urn:nbn:de:0114-qn091083

Dr. Astrid Gehrig

E-Mail: astridgehrig@compuserve.de

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