Felix Wiedemann:
Rassenmutter und Rebellin.
Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus.
Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2007.
465 Seiten, ISBN 978–3–8260–3679–8, € 58,00
Abstract: Felix Wiedemann legt mit seiner Dissertation eine Studie über moderne Hexenbilder vor. Auf der Grundlage einer umfassenden Quellenarbeit analysiert er Entwicklung und Rezeption von Hexenvorstellungen im 19. und 20. Jahrhundert. Bekannte Motive sind dabei die Hexe als weise Frau und als Verfolgte, die gegen christliche Traditionen rebelliert. Wiedemann untersucht den Stellenwert des Hexenmythos als Projektionsfläche für Sehnsüchte, Ideale, Selbst- und Fremdbilder. Er konzentriert sich dafür auf die völkische Bewegung, das Neuheidentum und den Feminismus und arbeitet Parallelen der jeweiligen Hexenrekurse heraus. Zum verbindenden Moment dieser so unterschiedlichen Bewegungen erklärt Wiedemann die Dominanz eines positiven Hexenbildes, dessen Ursprung er auf literarische und mythologische Konstrukte des 19. Jahrhunderts zurückführt.
Wiedemanns Untersuchung ist ideengeschichtlich angelegt. Sie behandelt die Geschichte des Hexentopos, seine Adaption und Ausformung in verschiedenen Kontexten. Der Autor wertet hierfür zeitgenössische Publikationen ab 1800 aus, darunter Zeitschriftenartikel und Aufsätze, populär angelegte Monographien, medizinische Abhandlungen sowie literarische Texte. Auch Märchen werden berücksichtigt. Leider beschränkt sich Wiedemann für das 19. Jahrhundert in erster Linie auf deutschsprachige Veröffentlichungen, während er für das heutige „Neuheidentum“ und den spirituellen Feminismus auch Publikationen aus dem angelsächsischen Raum behandelt. Im Hinblick auf die rechtsextremen neugermanischen Strömungen recherchierte er in den Beständen des Antifaschistischen Pressearchivs und Bildungszentrums Berlin. Für die jüngste Zeit befasst er sich auch mit der Internetpräsentation verschiedener Gruppierungen.
Der Versuch, Romantik, völkische Bewegung, Neuheidentum und Feminismus auf die gemeinsamen Wurzeln ihres Hexenbildes hin zu prüfen, verlangt zweifelsohne eine sehr differenzierte Betrachtung. Das gilt insbesondere für eine Sammelbezeichnung wie „Neuheidentum“, hinter der sich sowohl rechtsextremistische als auch links-alternativ orientierte neopagane Strömungen verbergen können. Dem Anspruch wird der Autor hier durchaus gerecht, wie die differenzierte Analyse einzelner Gruppierungen und ihrer Hexenvorstellungen erkennen lässt. Wiedemann betont, es gehe ihm um „Kontinuitäten in der Geschichte moderner Hexenbilder; keineswegs sollen damit grundsätzliche Identitäten – etwa von völkischer Bewegung und spirituellem Feminismus – behauptet werden“ (S. 336). Damit spricht er einen zentralen Punkt seines methodischen Vorgehens an. Er will eben nicht eine direkte Kontinuitätslinie von der Romantik über völkische Bewegung und nationalsozialistische Hexenforschung bis zu Alternativreligionen und Feminismus konstruieren. Er stellt daher kaum direkte Bezüge zwischen den einzelnen Strömungen fest. Vielmehr untersucht er die jeweilige Aneignung von zentralen Interpretationsmustern aus dem 19. Jahrhundert und analysiert, wie die jeweiligen Gruppen diese Hexenbilder für sich rezipieren.
Die Arbeit ist in einen ersten, rezeptionsgeschichtlichen Teil und einen zweiten, strukturellen Teil gegliedert. Zu klärende Begriffe werden in der Einleitung erläutert. Die ersten vier Kapitel behandeln Hexenrekurse der unterschiedlichen Strömungen und ordnen sie in den jeweiligen historischen Zusammenhang ein. Die Kapitel sind in der Regel chronologisch aufgebaut, werden durch eine knappe Einführung sowie ein kurzes Resümee zusammengefasst und sind in sich geschlossen. Wiedemann zeichnet jeweils zugrunde liegende Einflüsse der Traditionen in Form von Texten oder Ideen nach.
Das erste Kapitel befasst sich ausführlich mit Interpretationsmustern aus dem 19. Jahrhundert. Rationalistische, romantische und esoterische Hexenbilder bilden für Wiedemann die Grundlage späterer Hexenrekurse. Das romantische Deutungsmuster hat laut Wiedemann für spätere Hexenvorstellungen besondere Bedeutung. Bei der Begriffsdefinition greift der Autor auf Ansätze des amerikanischen Sozialhistorikers William Monter zurück. Rationalistische Hexenbilder lehnen demnach eine reale Existenz von Hexen ab und konzentrieren sich auf die Motive der Hexenverfolgung. Hexen gelten als Fantasieprodukt vornehmlich christlicher Theoretiker. In diesem Kontext geht Wiedemann unter anderem auf den Hexenwahn-Diskurs in Medizin und Psychiatrie ein. Im Gegensatz zu den rationalistischen gehen romantische Hexenbilder, an der Wende zum 19. Jahrhundert entstanden, von real praktizierten Kulten aus, die auf archaischen Glaubensvorstellungen beruhen. Romantische Hexenbilder wurden im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von esoterischen Kreisen adaptiert, in denen sich die Hexenfigur aufgrund ihrer angenommenen archaischen Herkunft und als „Trägerin altheidnischen Wissens“ (S. 14) großer Beliebtheit erfreute. Lebensreformerische Strömungen bezogen sich auf eine scheinbar enge Verbindung der Hexe mit der Natur. Im Zusammenhang mit Hexenbildern in der Esoterik setzt sich Wiedemann auch mit der Archetypenlehre von C. G. Jung auseinander, dessen tiefenpsychologische Lehre er zum Umfeld der neureligiösen Erscheinungen um 1900 zählt.
Im zweiten Kapitel geht der Autor völkischen Hexenbildern aus der Zeit von 1900 bis 1945 nach. Er wendet sich völkischer Lebensreform, Esoterik und völkischem Feminismus in dieser Zeit wie auch dem „Nordischen Gedanken“ zu. Vertreter des so genannten „Nordischen Gedankens“ glaubten an die Höherwertigkeit der „nordischen Rasse“. Diese Aspekte der völkischen Bewegung setzt Wiedemann zu ihren Hexenbildern in Beziehung. Er kommt zu dem Schluss, dass das Hexenmotiv völkische Ideologie transportierte. Das Hexenthema sei als Teilaspekt „einer arteignen heidnischen Religion“ (S. 182) und aufgrund der damit verbundenen vehementen Ablehnung des Christentums attraktiv für die völkische Bewegung gewesen. Wiedemann stellt für diese Gruppierungen die Rekurse auf entweder rationalistische oder romantische Interpretationstraditionen heraus; beide verbanden sich mit Rassenideologie, Antiklerikalismus und antichristlichem Antisemitismus.
Für die Untersuchung der Hexenvorstellungen in neuheidnischen Strömungen nach 1945 setzt sich Wiedemann mit der Tradierung völkischer Ideologie in rechtsextremistischen und neugermanischen Gruppierungen auseinander. Daran anschließend beschäftigt er sich mit Alternativreligionen und neuheidnischer Hexenbewegung. Stichworte sind hier unter anderem „New Age“, internationaler Neopaganismus und Wicca-Kult. Für die neuheidnische Szene seit den 1970er Jahren weist Wiedemann eine deutliche Internationalisierung und Vernetzung nach. Er betont, dass es trotz starker Differenzierung des neuheidnischen Spektrums ähnliche Ansichten über Hexenwesen und -verfolgung gab, die sich auf die tradierten Interpretationsansätze des 19. Jahrhunderts zurückführen lassen. Nur für den Hexenmythos einiger Autoren gegenwärtiger rechtsextremer und neugermanischer Vereinigungen zieht Wiedemann eine relativ konstante Traditionslinie zur völkischen Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam sei den Hexenbildern aller unter dem Begriff „Neuheidentum“ gefassten Gruppierungen eine antiklerikale und antichristliche Stoßrichtung.
In der Neuen Frauenbewegung ist die Hexe vor allem als Metapher für die Unterdrückung der Frau verbreitet wie auch als Symbol für Widerstand und Befreiung. Wiedemann stellt unter anderem dar, wie das Bild der aufgrund ihrer Fähigkeiten als Heilkundige und Hebamme verfolgten weisen Frau für den Kampf gegen das Abtreibungsverbot eingesetzt wurde. Hexenverfolgung galt manchen als Beweis für eine frauenverachtende Haltung der Kirche und des Christentums. Insbesondere in der spirituellen Richtung des Feminismus macht Wiedemann Rekurse auf Varianten von Hexenbildern aus. Dabei beleuchtet der Autor auch antisemitische Stereotype im Hexenbild einzelner Vertreterinnen des spirituellen Feminismus.
Abschließend arbeitet Wiedemann strukturelle Analogien der jeweiligen Hexenbilder heraus und fragt nach einer möglichen Begründung für die Gemeinsamkeiten. Dafür wendet er die Kategorien Natur, Geschlecht, Geschichte, Religion und antichristlicher Antisemitismus an. Das Bild der positiv konnotierten Hexe wurde in allen Strömungen der eigenen Tradition zugerechnet. Die Identifikation gründe einerseits in der Interpretation als Opfer und andererseits in der Deutung der Hexe als Rebellin. Das Hexenbild finde gleichwohl unterschiedliche Ausprägungen; im „Neuheidentum“ werde die Hexe vor allem als Schützerin germanischer oder keltischer Traditionen verstanden, in der völkischen Ideologie wiederum sei sie „metaphysische Rassenmutter“, und im Feminismus gelte sie als „emanzipierte Rebellin oder archaisch-matriarchale Ritualfrau“ (S. 384). Die Rezeption des Hexenmythos in derart unterschiedlichen und zum Teil konträren Kontexten interpretiert Wiedemann als „Folge einer kontinuierlichen Rezeption der Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts“ (S. 386). Die Attraktivität des Hexenmythos führt er auf seine relative Offenheit, also die Möglichkeit, ihn in die verschiedensten Zusammenhänge einfügen zu können, zurück.
Mit seiner Analyse der Tradierung von Deutungsmustern aus dem 19. Jahrhundert hat Felix Wiedemann einen wichtigen und lesenswerten Beitrag zur strukturellen und rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung des modernen Hexenmythos geleistet. Visuelle Quellen hätten die Anschaulichkeit seiner Darstellung dabei durchaus noch fördern können. Besonderes Verdienst der Studie ist ihr vergleichender ideengeschichtlicher Ansatz, wenngleich die erzielten Ergebnisse, also die für alle behandelten Strömungen herausgearbeiteten Analogien im Hexenbild nicht in allen Punkten gänzlich neu sind. Das Buch regt sicherlich zu weiteren wissenschaftlichen Diskussionen der Hexen-Thematik an.
URN urn:nbn:de:0114-qn091070
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