Weibliche Figuren in der Literatur von Frauen um 1900

Rezension von Rolf Löchel

Stephanie Günther:

Weiblichkeitsentwürfe des Fin de Siècle.

Berliner Autorinnen. Alice Berend, Margarete Böhme, Clara Viebig.

Bonn: Bouvier Verlag 2007.

456 Seiten, ISBN 978–3–416–03205–6, € 48,00

Abstract: In ihrer bereits im Jahre 2004 an der Universität Regensburg eingereichten Dissertation geht die Germanistin Stephanie Günther anhand der drei seinerzeit vielgelesenen Berliner Autorinnen Alice Berend (1875–1938), Margarete Böhme (1867–1939) und Clara Viebig (1860–1952) literarischen Weiblichkeitsentwürfe[n] des Fin de Siècle nach. Günthers Erkenntnisinteresse ist dabei sowohl „kulturwissenschaftlich und sozialhistorisch“ als auch „literaturwissenschaftlich und literaturästhetisch“ (S. 25). Ihre Ausführungen geraten meist überzeugend, sind selten spektakulär und untereinander nicht immer ganz frei von Spannungen.

Ihr Interesse gilt insbesondere der Beantwortung zweier Fragestellungen. Zum einen, ob die genannten Autorinnen „die Frau so authentisch wie möglich“ darstellen und „die Kluft zwischen gesellschaftlicher Realität und schriftstellerischer Fiktion möglichst klein […] gestalten“ oder ob und gegebenenfalls wie sie „die Frau inszenieren, stilisieren und somit verfremden“ (S. 24); zum anderen, ob sie bei der „Gestaltung“ ihrer Frauenfiguren „männliche Muster“ (S. 28) und somit „tradierte Konzepte von Weiblichkeit“ fortschreiben oder verwerfen (S. 24).

Neben der zeitlichen Begrenzung auf die Zeit um 1900 beschränkt die Autorin ihre Untersuchung topographisch auf die Stadt Berlin. Hierfür nennt sie zwei Gründe: Erstens sei es ein Forschungsdesiderat, dass es bislang noch keine Untersuchung zu Weiblichkeitsentwürfen Berliner Schriftstellerinnen zur Zeit des Fin de Siècle gebe, zweitens sei gerade eine solche Studie besonders sinnvoll und vielversprechend, da Berlin seinerzeit als „Zentrum der historischen Frauenbewegung“ gelten konnte (S. 22).

Wege und Umwege

Bevor Günther zum eigentlichen Thema ihrer Untersuchung gelangt, schlägt sie einen langen Weg und manchen Umweg ein, der sie von den Gender Studies und dem Postfeminismus, von theoretischen Anmerkungen zu literarischen Weiblichkeitsentwürfen, Kanonfragen und einer Erörterung der These einer weiblichen Ästhetik (S. 43–92) über einen Abriss des „Frauenleben[s] um 1900“ mit besonderem Blick auf die Geschichte der ersten Frauenbewegung (S. 93–127), den „männliche[n] Geschlechterdiskurs und Stilisierungen der Frau zur Zeit des Fin de Siècle“ (S. 128–180) und der damaligen „Situation der Stadt Berlin“ (S. 181–200) schließlich zu einigen „Einblick[en]“ in die Biographien und Gesamtwerke der drei Autorinnen führt (S. 201–246).

Unschärfen und Irrtümer

Ein derart weites Feld kann man kaum durchschreiten, ohne dass einem gelegentliche Unschärfen und hin und wieder auch einmal Fehler unterlaufen, so auch der Autorin der vorliegenden Untersuchung. Für den Abschnitt zur Frauenbewegung zieht Günther ganz überwiegend ältere Übersichtsarbeiten wie Ute Gerhards Unerhört (1990), Cordula Koepkes Geschichte der deutschen Frauenbewegung von den Anfängen bis 1945 (1979) oder Rosemarie Nave-Herz‘ Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland (1982) heran. Neuere Studien wie etwa Susanne Kinnebrocks hervorragende Biographie Anita Augspurg (1857–1943) von 2005 oder Annegret Stopczyk-Pfundsteins allerdings nicht empfehlenswerte Dissertation über die Philosophin der Liebe. Helene Stöcker (2003) bleiben hingegen unberücksichtigt. So hat der Abschnitt keine neuen Forschungsergebnisse zu bieten. Dafür ist er, wie erwähnt, nicht frei von Unschärfen und Fehlern.

Hedwig Dohm etwa lässt sich schwerlich „dem gemäßigteren Teil der Frauenbewegung“ (S. 100) zurechnen. Auch „retourniert[e]“ sie in ihrer Schrift Die Antifeministen (0. J. [1902]) nicht nur „auf die von männlicher Seite entgegengebrachten Angriffe“ (S. 106), sondern sehr wohl auch auf antifeministische Attacken von Frauen, darunter Laura Marholm, Ellen Key und Lou Andreas-Salomé, denen Dohm jeweils eigene Kapitel widmete. Von Helene Lange sind entgegen Günthers Behauptung weder Romane noch Novellen oder Erzählungen bekannt (vgl. S. 105). Und zu behaupten, die Ziele des radikalen und des gemäßigten Flügels der Frauenbewegung seien „im Wesentlichen die gleichen“ gewesen, die Radikalen hätten „die Verfechtung dieser Ziele“ nur „auf viel vehementere und radikalere Weise“ verfolgt (S. 101), lässt die nicht eben geringen theoretischen Differenzen beider Flügel außer Acht, die den späteren zwischen Gleichheits- und Differenzfeminismus verwandt sind. Immerhin erwähnt die Autorin, dass beider „Stellungnahmen“ zur Prostitution „erheblich [differierten]“ (S. 110 f.).

Gebrochene und kämpfende Frauen

Nach kaum weniger als 250 Seiten kommt Stefanie Günther bei ihrem Untersuchungsgegenstand an, den Weiblichkeitsentwürfen Berends, Viebigs und Böhmes, von denen sie insgesamt 10 Romane einer näheren Untersuchung unterzieht. Es handelt sich um Die Bräutigame der Babette Bomberling (1915), Frau Hempels Tochter (1913) und Dore Brandt (1909) der Autorin Alice Berend, einem „echte[n] ‚Berliner Urgestein‘“ (S. 201), zu deren Romanen nur „lückenhaft[e] und mager[e]“ (S. 33) Forschungsbeiträge vorliegen. Von Margarete Böhme, deren Rezeption Günther zufolge unter einer „desolat[en]“ Forschungslage leidet (S. 37), nimmt sie das Tagebuch einer Verlorenen (1905), das im Untertitel als „Finale“ zu diesemausgewiesene Werk Dida Ibsens Geschichte (1907) und die Romane Sarah von Lindholm und Christine Immersen (1913) unter die Lupe. Von Clara Viebigs Œuvre, zu dem „nicht nur eine nennenswerte Anzahl an zeitgenössischen Rezensionen, sondern auch einige neuere Studien“ vorliegen, ohne dass die Forschungssituation jedoch „zufrieden stellend“ zu nennen sei (S. 38), interessieren sie insbesondere die Romane Einer Mutter Sohn (1906), Das Weiberdorf (1900) und Das tägliche Brot (2 Bde. 1900). Dass Günther die Werke nicht getrennt voneinander behandelt, sondern die in den Romanen auftretenden ‚Frauentypen‘ einer Autorin – etwa Viebigs „[k]ämpfende Frauenfiguren“ (S. 283) in Einer Mutter Sohn und Das tägliche Brot oder Böhmes „[g]ebrochene Frauenfiguren“ (S. 306) in Tagebuch einer Verlorenen und in Dida Ibsens Geschichte – vergleichend nebeneinander stellt, zählt zu den Stärken der vorliegenden Arbeit. Gleiches wäre sicher auch in Hinblick auf die Figuren verschiedener Autorinnen fruchtbar gewesen. Doch dass sie diese, wie in dem Abschnitt zu „männliche[n] Stereotypen von Weiblichkeit“ (S. 265), gemeinsam behandelt, bleibt eher die Ausnahme.

Übergangsgeschöpfe

Wenig überraschend sind die Befunde, die Günthers Resümee (S. 382–391) zu bieten hat. „Dass sich die Rolle der Frau zu dieser Zeit in einer Situation des Umbruchs und des Wandels befand“ (S. 382), wurde schon von feministischen Zeitgenossinnen der drei untersuchten Autorinnen konstatiert und literarisiert. Hedwig Dohm etwa lässt die titelstiftende Protagonistin ihres Romans Sibilla Dalmar (1896) von sich selbst als „Übergangsgeschöpf“ sprechen – eine Wortschöpfung, die Ludmila Kaloyanova-Slavova Ende des 20. Jahrhunderts als Titel einer – von Günther nicht genannten – Untersuchung der Werke vonGabriele Reuter, Hedwig Dohm, Helene Böhlau und Franziska zu Reventlow diente. So entspricht Günthers sicherlich zutreffende Feststellung, dass sich die Frauen des Fin de Siècle in einer gesellschaftlichen Umbruchsphase befunden haben, gehe „nicht nur aus den Biographien der Schriftstellerinnen hervor“, sondern werde „auch an den von ihnen konzipierten Frauenfiguren deutlich“ (S. 382), einem bereits u. a. von Kaloyanova-Slavova für andere Autorinnen der Jahrhundertwende konstatierten Befund.

Wenn Günther weiter feststellt, dass „[d]ie Versuche der Protagonistinnen, ihr Ich und damit ihre Weiblichkeit zu definieren, […] letztendlich Ähnlichkeiten mit dem Bemühen der Männer auf[weisen], sich durch die Festlegung der Frau als das ‚Andere‘ und ‚Fremde‘ Klarheit über das eigene Ich zu verschaffen“ (S. 386), dann mag das wohl so sein; ebenso, dass „[s]owohl die Schilderung verschiedener Reaktionsweisen der Frau […] als auch die gelegentliche Anlehnung an Stereotypen […] zeigen, dass die Autorinnen verschiedenste Reaktionsmuster der Frau auszuloten versuchen“ (ebd.). Erklärt sie jedoch, dass Berend, Böhme und Viebig sich damit „in Bezug auf ihr eigenes Geschlecht mehr Sicherheit und Klarheit erhoff[t]en“ (ebd.), hätte man doch gerne gewusst, woher die Autorin die Kenntnis dieser persönlichen Intention der drei Schriftstellerinnen nimmt.

Auch die weiteren Ergebnisse ihrer Untersuchung bieten wenig Überraschendes. Wer hätte etwa nicht erwartet, dass die Weiblichkeitsentwürfe der drei Autorinnen in einem „starken Kontrast“ zu den „Ansichten“ Judith Butlers stehen (S. 387 f.)? Und Günthers Forderung, die Etikettierung „Frauenliteratur“ aufzugeben, wurde schon von Literaturwissenschaftlerinnen der zweiten Frauenbewegung erfüllt (nachdem sie sie zuvor allerdings freudig aufgegriffen hatten). Zudem war der Begriff bereits einige weitere Jahrzehnte zuvor von Virginia Woolf kritisiert worden. (Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Frauenliteratur. In: Renate Kroll (Hg.): Metzler Lexikon Gender Studies Geschlechterforschung. Metzlersche Verlagsbuchhandlung: Stuttgart 2002, S. 123–125)Ebenso kommt Günthers zweite Forderung etwas spät. Denn „Kriterien wie Subjektivität und Emotionalität im Darstellungsstil“ oder „die Schilderung einer weiblichen Psyche“ werden schon lange nicht mehr „von vornherein als Kriterien der Trivialität eines Werks gewertet“ (S. 389), sollte letzteres überhaupt jemals der Fall gewesen sein. Man denke etwa nur an Arthur Schnitzler Fräulein Else (1924) oder Molly Blooms inneren Monolog in James Joyces Ulysses (1922). Wer hätte diese Werke je zur Trivialliteratur gerechnet?

Stark oder schwach?

Innere Spannungen treten weniger in Günthers abschließenden Befunden auf als vielmehr in einzelnen Argumentationen. Etwa, wenn sie, kurz nachdem sie konstatiert hat, dass „die zweifelsohne vorhandene Stärke“ der in Viebigs Weiberdorf dargestellten Frauen nicht in „deren bewussten, überlegten Handlungen und in ihrem reflektierten und rationalen Verhalten, sondern in deren Naturhaftigkeit und Natürlichkeit“ liege (S. 272), erklärt, „in der fast schon zwanghaften und deterministischen Ergebenheit in die eigene Sinnlichkeit“ dieser Frauen sei „eine Schwäche“ (S. 273) zu sehen.

Neben solchen nicht allzu häufig unterlaufenden argumentativen Spannungen krankt die Arbeit öfter an einer wenig präzisen Terminologie und Ausdrucksweise. In Zusammenhang mit einer „Vergewaltigung“ von einer – sei es auch „unfreiwillige[n]“ – „Hingabe“ zu sprechen, zeugt zumindest von einem nicht allzu ausgeprägten Sprachgefühl (S. 312). Zu der Formulierung, „der fiktive Tod der Erzählerin [bilde] die Rahmenhandlung, die dem Werk zugrunde liegt“ (S. 319), ist zu bemerken, dass der Tod einer Figur keine Handlung, sondern eine Seinsweise ist und die Rahmenhandlung einem Roman nicht zugrunde liegt. Und wenn Günther schreibt: „Käthe [aus Dore Brand] unterwirft sich vollends, und sie verleugnet und dekonstruiert systematisch ihr eigenes Ich“ (S. 282), missversteht sie den Terminus Dekonstruktion als Synonym von Destruktion und entleert ihn so seines spezifischen (wissenschaftlichen) Inhalts. Diese drei Beispiele mögen genügen. Es ließen sich etliche Seiten mit weiteren füllen. Zweifellos handelt es sich meist um Quisquilien. Da sie sich jedoch nahezu auf jeder dritten Seite finden, kann man sie insgesamt nicht übergehen.

Auch ein weiterer Mangel kann nicht verschwiegen werden: Dem Buch hätte ein aufmerksames Lektorat Not getan. Gewiss, nur noch wenige Verlage leisten sich Lektor/-innen. Der Bouvier Verlag zählt offenbar nicht zu ihnen. Vermutlich hätte zwar auch ein Lektorat nicht verhindert, dass falsch geschriebene Namen (Christina Kanz (S. 98 und 145) statt richtig Christine Kanz) oder Buchtitel (Körper von Gesicht (S. 57) statt richtig Körper von Gewicht und Töchter der Hebuka (S. 226) statt richtig Töchter der Hekuba) stehen bleiben. Aber vielleicht wäre manch unschöne Wendung getilgt worden, etwa: „Als Beispiel hierfür wären zum Beispiel […]“ (S. 91).

URN urn:nbn:de:0114-qn091190

Rolf Löchel

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