Gute alte Zeit? Kindheit im frühen 20. Jahrhundert

Rezension von Bernadette Gotthardt

Inge Friedl:

Familienleben in alter Zeit.

Fünf Kinder und mehr.

Wien u.a.: Böhlau Verlag 2007.

155 Seiten, ISBN 978–3–205–77670–3, € 19,90

Abstract: Die 1959 geborene Historikerin Inge Friedl ließ Menschen über ihre Kindheit erzählen und hat für dieses Buch Berichte aus insgesamt zehn verschiedenen Familien aus Salzburg, Oberösterreich und der Steiermark gesammelt. Die interviewten Männer und Frauen wurden zwischen 1909 und 1948 geboren, lebten als Bauern oder einfache Handwerker in armseligen Verhältnissen auf dem Land und schwanken in ihren Erzählungen zwischen Nostalgie und nüchternen Rückblicken auf ein hartes Leben.

Geborgenheit in der Großfamilie

Sie haben sie alle noch kennen gelernt, die heute oft wehmütig vermisste klassische Großfamilie, in der Alt und Jung unter einem Dach lebten: Liebevoll wird von den vielen Geschwistern, den Eltern und Großeltern berichtet, von gebastelten Puppenhäusern und vom gemeinsamen Singen vor dem Schlafengehen. — „So aufwachsen, das war schön!“ (S. 89) Die Wärme und die Geborgenheit werden betont, die heutige Kinder im Gegensatz zu früher nicht mehr erführen: „Heute kommen die Kinder geschwind auf d’Seiten, die haben einen Raum, einen Babysitter und die Eltern haben ihre Ruhe“ (S. 27). Tief in den Erinnerungen verankert sind die kleinen Freuden wie „Brotkugerl“ (S. 20), „Godnstrutzn“ (S. 61) oder „Kletzenbrot“ (S. 96). Nicht ohne Grund hatten sie in den bescheidenen Lebensumständen meist mit Essen zu tun. Manche der Befragten kommen rückblickend zu dem Schluss „im Großen und Ganzen […] eine schöne Jugend gehabt“ (S. 15) zu haben, während in einem anderen Interview nüchtern festgestellt wird: „Eine Kindheit empfindet man immer als schön, auch wenn nicht so schöne Sachen passieren“ (S. 78).

Harte Zeiten

Bei aller Nostalgie eröffnet sich den Leserinnen und Lesern auch und vor allem ein Bild von äußerst harten Zeiten. Friedliches Altern im Kreise der Familie war zumindest für die Knechte und Dirnen keineswegs Realität: „Sie haben alle 8 Tag‘ oder alle 14 Tag‘ von Bauer zu Bauer ziehen müssen. Dort haben sie meistens im Stall geschlafen, das war wirklich keine gute alte Zeit!“ (S. 94).

Die ständige Geldknappheit führte zu einseitiger Ernährung, wenn nicht gar dazu, dass die Kinder hungern mussten. Ein entsprechendes Gewicht liegt in den Erzählungen der befragten Personen auf dem Thema „Essen“, im Anhang hat Friedl einige Rezepte, „Leibspeisen aus alter Zeit“, aufgenommen. Die Liste der wenigen Zutaten spiegelt die kargen Verhältnisse deutlich wider. Das Leben der Kinder war durch harte körperliche Arbeit geprägt, mangelhafte Ernährung und dürftige Kleidung waren alltäglich. Die Mühen der Feldarbeit oder beispielsweise eines Waschtages zehrten an den Körpern, auch an jenen der Mütter, die sich trotz Schwangerschaft keine Auszeit nehmen konnten — sicherlich auch ein Grund für die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit.

Darüber hinaus plagte die Menschen vor allem die Sorge, krank zu werden. Was tun, wenn weder ein Arzt in der Nähe noch Geld für Medizin vorhanden ist? Man versuchte, sich mit Hausmitteln zu helfen. Der Tod war allgegenwärtig, er spielte sich mitten im Leben ab: Die Toten wurden im Haus aufgebahrt und auch die Kinder nahmen an der Totenwache teil, wie wir den Erzählungen entnehmen können.

Geschlechterrollen

Die Geschlechterrollen waren klar aufgeteilt, schon bei den Kleinen: „A Bua muaß a Luader sein, sonst wär‘ er ka Bua!“ (S. 39). Gemeint sind damit in erster Linie Lausbubenstreiche und Raufereien, und streng unterschieden wurde zwischen „Buamerspiel“ und „Menscherspiel“ (S. 106). Die Geschlechterdifferenz manifestierte sich wesentlich deutlicher als heute auch in der Kleidung: Frauen „haben natürlich lange Kitteln und Kopftücher getragen, bei der Arbeit, in der Kirche, überall“ (S. 77), Hosen waren also anscheinend ausschließlich den Buben und Männern vorbehalten.

Als Ursache für den reichen Kindersegen vor allem der ländlichen Familien Anfang des 20. Jahrhunderts wird oft die Armut genannt, die die Arbeitskraft der Kinder unverzichtbar machte. Doch sind auch das Fehlen zuverlässiger Verhütungsmittel sowie mangelnde Aufklärung Gründe dafür. Trotz der hohen Geburtenrate und obwohl Hausgeburten die Regel und damit wie der Tod ein alltäglicher Vorgang waren, galt das Thema Sexualität als Tabu. „Darüber hat man nicht geredet“ (S. 94). Leidtragende waren die Frauen, zumal wenn sie nicht verheiratet waren: Schon aus Scham wurde der Name des Vaters nicht genannt, die Verantwortung für unehelich geborene Kinder lastete allein auf den Müttern. Viele gaben sie daraufhin aus finanziellen Gründen fort oder setzten sie sogar aus. Diese Kinder waren mit der an anderer Stelle gepriesenen Wärme und Geborgenheit dann längst nicht immer gesegnet: „Man ist halt benachteiligt worden“, stellt beispielsweise der 1945 geborene Alfred Grundner lapidar fest (S. 63).

Zur Methode der Autorin

Wie bereits in einem früheren Werk aus dem Jahr 2002 (Auf der Alm. Wie es früher einmal war), hat sich Inge Friedl der Methode der Oral History bedient. Im Vorwort gibt die Autorin an, in den Sprachduktus der Erzählerinnen und Erzähler so wenig wie möglich eingegriffen zu haben. Leider legt sie die Interviewsituation nicht offen. Dass sie die Gespräche durch Leitfragen gelenkt hat, legen wiederholte Thematiken wie „Spiel“ oder „Tod“ nahe. Die Art der Fragen erfährt man jedoch nicht. Ebenso unklar bleibt, wie die Interviewpersonen ausgewählt wurden und ob diese in einer persönlichen Beziehung zur Autorin standen. Verwunderlich ist, wie wenig Raum die Themen Religion und Aberglauben in den Erzählungen einnehmen. Auch vom Schulleben wird wenig berichtet. Resultieren diese Lücken aus der Gesprächsführung oder ist von der Erwähnung beziehungsweise Nichterwähnung auf den Stellenwert der Thematik für die Erinnernden zu schließen? Auf diese wichtigen methodischen Fragen gibt Friedl leider keine Antwort. Und so geht dank der einfachen, lebendigen Erzählweise zwar der Wunsch der Autorin in Erfüllung, man möge sich an den jeweiligen Küchentisch versetzt fühlen, eine zuverlässige historische Quelle bietet das Buch jedoch nicht.

URN urn:nbn:de:0114-qn091107

Mag. Bernadette Gotthardt

Universität Salzburg

E-Mail: bernadette.gotthardt@sbg.ac.at

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