Brigitte Dehne:
Gender im Geschichtsunterricht.
Das Ende des Zyklopen?
Schwalbach am Taunus: Wochenschau Verlag 2007.
318 Seiten, ISBN 978–3–89974–225–1, € 19,80
Abstract: Zyklopen, die ungeschlachten Riesen der griechischen Mythologie, hatten ihr Auge in der Mitte der Stirn – an dem Platz des Dritten Auges, dem in anderen Weltanschauungen intuitives oder ganzheitliches Sehen zugesprochen wird. Diese Fähigkeit war den Zyklopen fremd. Sie ‚sahen‘ nur mit einem Auge. Monokularsehen erzeugt im Hirn zwar auch ‚wirklichkeitsnahe‘ Bilder, ihnen fehlt es jedoch an Räumlichkeit, an Komplexität. Das führt zu schmerzhaften Kollisionen mit ‚der Wirklichkeit‘. Dieses Bild greift Brigitte Dehne im Untertitel ihres Buches Gender im Geschichtsunterricht auf, das die innerhalb der Geschichtswissenschaft längst außerordentlich elaboriert diskutierte Kategorie „Gender“ als Handlungskonzept für den Geschichtsunterricht erschließt.
Dehnes Monographie ist in der Reihe ‚Methoden historischen Lernens ‚ im Wochenschau-Verlag erschienen. Damit wird deutlich, dass es der Autorin nicht allein darum geht, die wissenschaftliche Genderforschung für den Geschichtsunterricht zu erschließen. „So wenig, wie Geschichtsunterricht allgemein als ungebrochene direkte Ableitung aus der Geschichtswissenschaft konzipiert werden kann, so wenig ist Genderforschung ein direkt anwendbarer Maßstab für den Unterricht“ (S. 187). Geschichtsunterricht folgt anderen didaktischen Vorgaben als die Vermittlung von Forschungsergebnissen an eine Fachöffentlichkeit. Eine Konsequenz dieser unterschiedlichen Adressatenbezogenheit ist zum Beispiel, dass im Geschichtsunterricht nicht mit differenziellen Verweisungen von Kategorien gearbeitet werden kann, „wenn die Kategorien Mann und Frau als solche im Unterricht nicht einmal vorkommen“ (S. 187 f.). Dehne macht damit auf einen gravierenden Mangel im Geschichtsunterricht aufmerksam, in dem nach wie vor der Mann das Allgemeine der Geschichte darstellt und die Frau in der Regel als das Besondere im Schulbuch auf besonderen Seiten oder in einer Unterrichtsreihe in besonderen Sequenzen sichtbar gemacht wird: Im Blick ist stets nur der Eine (das körperlos Allgemeine und damit scheinbar Ungeschlechtliche) oder die Andere (das Besondere, die körperlich sichtbare Frau).
Um nun den Geschichtslehrerinnen und -lehrern, die an den einäugigen Blick gewöhnt sind, das zweite Auge zu öffnen, greift Dehne im ersten Teil ihres Buches exemplarisch bekannte Einteilungen (Epochen), zentrale Themen (amerikanische und französische Revolution), gängige Materialien (Schulbücher) sowie historisch-politische Wertbegriffe (Freiheit) auf. Sie erklärt an ihnen entlang schrittweise, wie unter einer gendergeschichtlichen Perspektive deutlich werden kann, welchen Anteil Männer und Frauen am jeweiligen Geschehen beziehungsweise den jeweiligen Festschreibungen hatten (oder nicht hatten), wie sie sich gegenseitig beeinflussten und welche Perspektiven jeweils eingenommen wurden. Es folgt eine Einführung in die Theorie der Kategorie Gender. Die Autorin bezieht sich dabei in stark profilierender Weise auf den wissenschaftlichen Diskurs. Dehne erschließt die Kategorie Gender sowohl als relationale Kategorie als auch als Erkenntnismittel für den Geschichtsunterricht, indem sie diese mit Hilfe von Fragenkatalogen für die Lehrerinnen und Lehrer aufschlüsselt.
Im dritten Teil ihres Bandes greift sie auch auf der Ebene der Lernvoraussetzungen den Genderaspekt als eine wesentliche Planungsgrundlage auf, indem sie den Dimensionen des Geschichtsbewusstseins explizit die Kategorie des Genderbewusstseins zur Seite stellt. Auf der Basis aktueller Forschungsergebnisse reflektiert sie die entsprechenden Voraussetzungen für die verschiedenen Jahrgangsstufen kritisch und konkretisiert sie für die Planung eines genderorientierten Geschichtsunterrichts. Den Abschluss bilden Anwendungsbeispiele, in denen auf die theoretischen Ausführungen des zweiten Teils zurückgegriffen wird. Auf diese Weise, also mithilfe von Unterrichtsmaterialien sowie didaktischen Überlegungen, werden die vorangegangenen theoretischen Ausführungen für Lehrer und Lehrerinnen unmittelbar einsetzbar. Auch wenn Dehnes Ausführungen in erster Linie auf eine Integration von Geschlechtergeschichte in den Geschichtsunterricht zielen, zeigt sie dennoch auch praktisch, wie über bestimmte Fragestellungen und Reflexionen Geschlechterkonstruktionen historisiert und damit prinzipiell als aushandelbar und damit wandelbar wahrgenommen werden können.
Dehnes Verdienst ist fraglos, mit diesem Buch die umfangreichen und didaktisch erschlossenen Quellen aus der Frauengeschichtsforschung der 1970er und 1980er Jahre auch unter gendergeschichtlichen Aspekten zurück ins Bewusstsein gerufen zu haben. Überdeutlich wird jedoch, dass es sich hier um Quellenbestände handelt, die bereits in die Jahre gekommen sind und denen eine breit gefächerte Genderforschung mit erheblich erweiterten Themenbereichen (z. B. Biographieforschung, Forschungen zu weiblichen Formen von Macht und Herrschaft, Homosexualitätenforschung) gefolgt ist. Diese Forschungen sind jedoch kaum in die Vermittlung von Geschichte zu integrieren, da die entsprechenden Quellen zur Bearbeitung fehlen. Brigitte Dehne zeigt damit indirekt auch, dass eine Kluft zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik zu beklagen ist. Aufgrund dieser Rückständigkeit werden wertvolle Chancen zur Bewusstseinveränderung im Hinblick auf unterschiedlichste Geschlechterkonstruktionen in Raum und Zeit zugunsten scheinbar stillgelegter Geschlechterkonstruktionen verschenkt. Insofern mag auch der Titel des Buchs provozieren: Binokulares Sehen im Geschichtsunterricht meint weit mehr, als Frauen und Männer im Geschichtsunterricht gleichermaßen sichtbar werden zu lassen.
URN urn:nbn:de:0114-qn091348
Prof. Dr. Bärbel Völkel
PH Ludwigsburg, Institut für Sozialwissenschaften, Homepage: http://www.ph-ludwigsburg.de/5596.html
E-Mail: voelkel@ph-ludwigsburg.de
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