Gender als Kategorie historischer Bildungsforschung

Rezension von Silvy Chakkalakal

Meike Sophia Baader, Helga Kelle, Elke Kleinau (Hg.):

Bildungsgeschichten.

Geschlecht, Religion und Pädagogik in der Moderne.

Köln: Böhlau Verlag 2006.

288 Seiten, ISBN 978–3–412–33405–5, € 37,90

Abstract: Die Beiträge der Festschrift für Juliane Jacobi befassen sich mit „Geschlecht, Religion und Pädagogik“ als Kategorien der historischen Bildungsforschung. Die Mehrzahl der Autorinnen des Sammelbandes richtet dabei den Blick insbesondere auf die Frage nach dem Einfluss von „Gender“ auf die Bildungsgeschichte der Moderne. Der durch die breite Fragestellung entstehenden Heterogenität der Beiträge wirken die Herausgeberinnen durch eine thematische Gliederung in vier Teilbereiche entgegen: Kindheit und Jugend, Religion und Geschlechteranthropologie, Frauenbewegung und pädagogische Berufe sowie Geselligkeitsformen.

Das Bild als Quelle der Bildungsforschung

Die beiden einleitenden Artikel von Karin Priem und Ulrike Pilarczyk führen mitten in die andauernde Debatte um den so genannten Iconic Turn, die auch in der historischen Bildungsforschung seit den 1990er Jahren eine Diskussion um das Bild als historische Quelle ausgelöst hat. Priem fragt in ihrem Beitrag nach der kulturellen Bedeutung, die im Bild hergestellt wird. Ihr Augenmerk liegt auf dem Thema Kindheit und Jugend in den 1920er Jahren und der Frage nach der Kamera als wirklichkeitserzeugendem Instrument: Die Fotografie schaffe als „Mittel der visuellen Beschreibung“ (S. 15) soziale Tatsachen, kritisiere und beeinflusse sie aber auch. Priems grundlegende These, dass gerade die kulturellen Muster über Kindheit und Jugend die Fotografien wesentlich bestimmen, umgekehrt jedoch Bilder auch neue Bedeutungen hervorbringen können, verortet die Untersuchung in der aktuellen kultur- und bildwissenschaftlichen Debatte um die Themen „Kulturen der Evidenz“ und „Künstliche Versionen der Evidenz“.

In Pilarczyks Artikel wird die jüdisch-deutsche Jugendbewegung der 1920er Jahre anhand von autobiographischen Selbstzeugnissen untersucht, zu denen vornehmlich auch Fotografien gehören. Pilarczyks Methodik ist die seriell-ikonografische Fotoanalyse, die sie bereits 2005 mit Ulrike Mietzner in ihrer gemeinsamen Habilitationsschrift Das reflektierte Bild: Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften eingeführt hat. Von einem mentalitätsgeschichtlichen Interesse geleitet, möchte die Autorin ausgewählte Fotografien auf die „Gefühlslage jugendbewegter Jugendlicher einer Zeit“ (S. 41) untersuchen. Grundlegender Teil der Bildanalyse ist eine Klassifizierung des Entstehungs- und Verwendungskontextes der Fotografien. So erkenntnisreich die Analysen Pilarczyks sind, so bedauernswert ist die qualitative Unterscheidung zwischen einer intentionalen Kunstanschauung und einer – anscheinend weniger aussagekräftigen – Alltagsanschauung, die sie bei der Fokussierung auf die künstlerischen Fotos Tim Gidals vornimmt. Nur am Rande bemerkt die Autorin die so genannten „Knipser- und Amateur-Aufnahmen“, die gerade mentalitätsgeschichtlich über eine „gefühlte Geschichte“ (S. 26) Aufschluss geben könnten.

Aufklärung als Prozess

Der zweite Teil des Buches beginnt mit der von Ulrike Gleixner durchgeführten Analyse von Geschlechterinszenierungen in der katholischen Barockpredigt, gefolgt von Pia Schmids Artikel über die Teilhabe und Aufwertung von Frauen in der Herrnhuter Brüdergemeinde im 18. Jahrhundert. Schmid schließt damit sinnvoll an den leider erst danach folgenden Beitrag von Christine Mayer an. Mayer untersucht den diskursgeschichtlichen Kontext des Weiblichen innerhalb des anthropologischen Diskurses im ausgehenden 18. Jahrhundert und liefert so die Basis für Detailanalysen wie die von Schmid vorgelegte. Anhand der geschlechteranthropologischen Ausführungen von Rousseau, Kant und vor allen Dingen Wilhelm von Humboldt zeigt die Autorin überzeugend, wie daraus unterschiedliche geschlechtsspezifische Konzepte von Bildung und Erziehung entwickelt wurden. Mayers Ausführungen sind zwar vor dem Hintergrund der noch immer herausragenden Dissertation von Christa Kersting Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert (1992) nicht neu, aber ihr gelingt es doch, durch genaue Quellenarbeit den anthropologischen Diskurs über den Zusammenhang von menschlichem Erkenntnisvermögen und Bildungskonzepten um 1800 prägnant zu beschreiben. Dass sowohl geschlechtliche Differenz als auch nationale, kulturelle und soziale Differenz zum notwendigen Argument der anthropologischen und pädagogischen Debatten der Zeit avancierten, wird in dieser Form nur selten innerhalb der Forschungsliteratur herausgestellt.

Ebenso fundiert präsentiert sich der anschließende Artikel von Elke Kleinau. Die Autorin begreift Aufklärung „als soziale Bewegung und als einen Kommunikationsprozess unter den Gebildeten“ (S. 141). Damit folgt sie dem Verständnis von einer nicht stringent verlaufenden Geschichte und zeigt, wie komplex jene wissenschaftlichen und kulturellen Diskurse um die so genannten Geschlechtercharaktere waren. Kleinau analysiert Carl Friedrich Pockels Arbeiten zur Geschlechteranthropologie und hat mit diesem Werk des Erfahrenseelenkundlers, Theologen und Pädagogen eine ergiebige Quelle entdeckt, die zeigt, wie sich um 1800 ein verändertes Wissen über den Menschen, speziell über die Frau, und die menschliche Geschichte sowie die Natur herausbildet und in einer (Geschlechter-)Anthropologie kulminiert.

Frühe Frauenbewegung und Eugenik

Der dritte Teil „Frauenbewegung und pädagogische Berufe“ eröffnet ein breites Spektrum an Themen. Herauszuheben ist Ann Taylor Allens Vergleich der französischen und deutschen Frauenbewegung und ihrer Position zur Eugenik zwischen 1918 und 1940. Allen zeigt, dass es in Deutschland eine große Zahl von Befürworterinnen staatlich gesteuerter eugenischer Eingriffe in die „Reproduktionsverhältnisse“ gegeben hat. Die zumeist links orientierten Feministinnen hätten die Hoffnung gehabt, dass der staatliche Eingriff in die Familie die Begrenzung der Frau auf den Bereich des Privaten aufbrechen und ihren Status somit politisieren und aufwerten würde. Brisant, aber notwendig ist die historische Aufarbeitung des Versuchs, die Eugenik für soziale und frauenrechtliche Interessen zu nutzen – gerade in Hinblick auf aktuelle Diskussionen um pränatale Diagnostik, künstliche Befruchtung und Stammzellenforschung. Die nationalen und kulturellen Konstruktionen sowohl von Männlichkeit und Weiblichkeit als auch von Gesundheit und Versehrtheit spielen innerhalb dieser bevölkerungspolitischen Debatten eine entscheidende Rolle.

Ethik des Anderen

Den vierten, äußerst anregenden Teil leitet Hilge Landweer mit ihrer Untersuchung zur idealen „Tugend“-Freundschaft in der Nikomachischen Ethik von Aristoteles ein. Diese höchste Form der Freundschaft basiere auf einer „Maßlosigkeit“ des Gebens und einem „a-priori-Verzicht auf Bilanzierung“ (S. 249) und demonstriere zuallererst männliche Tugendeigenschaften. Paradoxerweise veranschauliche Aristoteles diese mit dem Bild der Mutterliebe als dem Paradigma selbstloser Liebe. Damit bezeichne er das radikal Neue an der Ideal-Freundschaft durch ein radikal Anderes: Die Mutterliebe stehe in diesem Fall als Zeichen für die kategorisch „andere Ökonomie“ (S. 252), die jenseits eines Aufrechnens und eines Ausgleiches wirke.

Meike Sophia Baader schließt mit ihrer „Frage nach dem Beitrag des Pietismus zum romantischen Freundschaftsideal, vor allem auch unter geschlechtergeschichtlichem Aspekt“ (S. 269) an Landweers Beitrag an. In Ergänzung zu Richard van Dülmens Untersuchungen zu Freundschaftskonzepten der Moderne weist Baader mit Recht auf das Desiderat hin, das durch die Nichtberücksichtigung des Geschlechteraspekts entsteht, habe doch die „Geschlechtslosigkeit der Seele“ (S. 270) zur „Individualisierung, zur Intimisierung und Emotionalisierung der Freundschaft sowie zur Legitimation der Freundschaft zwischen Männern und Frauen“ (S. 271) geführt. Spätestens nach der Lektüre dieser beiden Beiträge wird deutlich, in welchem Maße die Einbeziehung identitärer Differenzkonstruktionen historische Forschungsergebnisse beeinflusst und verändert.

Fazit

Die thematische Breite der Artikel und die daraus resultierende Heterogenität des Bandes sowie die fehlende Thematisierung zusätzlicher Achsen sozialer und kultureller Differenzierung bilden die Defizite dieser Aufsatzsammlung. In den Gender Studies verweisen Diskussionen um „Intersektionalität“ oder „Interdependenz“ nicht erst seit kurzem darauf, dass Gender als relationale soziale Kategorie verstanden werden muss. Der legitime Verweis auf das Fehlen von Gender im Großteil der bisherigen bildungsgeschichtlichen Forschung macht das Fehlen anderer Differenzkategorien, die die identitären Diskurse gerade im 18. und 19. Jahrhundert in Relation zu Gender bestimmten, umso offensichtlicher. Am Ende überwiegt jedoch der positive Eindruck über den Band, der zeigt, dass Wissenschaft je nach diskursiven Ein- und Ausschlüssen verschiedene Versionen von Geschichte hervorbringt. Das breite inhaltliche Spektrum ermöglicht darüber hinaus auch den mit der Bildungshistorie weniger vertrauten Lesern und Leserinnen einen Einblick in genderrekonstruierende Bildungsgeschichte(n).

URN urn:nbn:de:0114-qn091065

Silvy Chakkalakal

Humboldt-Universität zu Berlin

E-Mail: silvy.chakkalakal@googlemail.com

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