Das „starke Geschlecht“ als Opfer – ein unsichtbares Phänomen

Rezension von Jonas Kade

Ludger Jungnitz, Hans-Joachim Lenz, Ralf Puchert, Henry Puhe, Willi Walter (Hg.):

Gewalt gegen Männer.

Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2007.

307 Seiten, ISBN 978–3–86649–009–3, € 28,00

Abstract: Das Buch wertet die Ergebnisse einer Pilotstudie über Gewalt gegen Männer aus, welche im Jahre 2002 durch das Bundesministerium für Familie in Auftrag gegeben wurde. Die Selbstverständlichkeit des allseits präsenten Bildes vom „starken Geschlecht“ oder vom Mann in der Täterrolle ließen die Forschung bisher höchstens ansatzweise tätig werden. Die mittels Interviews und Fragebögen durchgeführte Studie führt vor Augen, dass Männer durchaus in allen Lebensbereichen Opfer teils massiver psychischer und physischer Gewalt sind. Das Buch deckt gut strukturiert und sehr detailliert auf, dass nicht nur eine allgemeine, sondern auch eine besondere Sensibilisierung der betroffenen Männer durch öffentliche Aufklärung nötig ist, um den Opfern durch gezielte Maßnahmen und geeignete Einrichtungen zu helfen.

Der Wandel in der Gesellschaft

Betrachtet man die letzten Jahrzehnte, hat sich in der Öffentlichkeit, Erziehung und Gesetzgebung hinsichtlich Gewalttätigkeiten gegen Frauen und Kinder und deren gesellschaftlicher Legitimation eine Menge verändert. Kinder beispielsweise werden heutzutage gewaltfreier erzogen als noch zu Anfang des letzten Jahrhunderts. Dieser Bewusstseinswechsel ist nicht zuletzt das Produkt vielfältiger psychologischer Studien, welche die negativen Folgen und Probleme von gewaltsamem Handeln erkennen ließen.

Demgegenüber gibt es fast keine Studien über Männer als Opfer von Gewalt. Das Bild vom Mann als Täter oder vom „starken Geschlecht“, das sich im Notfall immer wehren kann, hat sich im allgemeinen Bewusstsein derart verankert, dass Forschungen über diesen Bereich überflüssig erscheinen. Das Buch „Gewalt gegen Männer“ bricht mit dieser allgemeinen Tabuisierung.

Eine andere Wahrnehmung

Zunächst wird erörtert, dass Männer eine höhere Toleranzgrenze gegenüber Gewaltanwendungen haben und in welcher Weise sie Gewalt anders wahrnehmen als Frauen. So werden beispielsweise verbale oder physische Auseinandersetzungen um hierarchische Positionen innerhalb einer Gruppe von Männern als normal angesehen. Auch spielt das Selbstbild der Männer eine entscheidende Rolle: Je mehr Gewalthandlungen den Intimbereich eines Mannes verletzen, ihn in eine Position extremer Machtlosigkeit versetzen, besonders gegenüber einer Frau, desto weniger können sich Männer eingestehen, verletzt worden zu sein. Das Bewusstsein, Gewalt erfahren zu haben, wird einfach verdrängt. Wahrgenommen werden dagegen über ein „Normalmaß“ hinausgehende Handlungen, wie unprovozierte Übergriffe oder Überfälle (S. 15 f).

Die Studie

Der im Buch untersuchten Studie lag folgender Aufbau zugrunde: 1. Literaturrecherche und Definition der Gewaltfelder, 2. Experten- und Expertinnenbefragung, 3. Eine qualitative Befragung in Form von mehrstündigen Interviews (32, sowohl zufällig als auch gezielt ausgewählt), 4. Quantitative Befragung (266 Interviews und 190 ausgewertete Fragebögen zu häuslicher Gewalt). Strukturiert werden die Ergebnisse anschließend in vier Ebenen: Lebensphasen, Kontexte (Orte, soziale Beziehungen), Opfergruppen (zum Beispiel Behinderte), Gewaltformen (körperlich, psychisch und sexualisiert).

Die Pilotstudie ist dabei aufgrund einer eher geringen Anzahl befragter Männer nicht statistisch repräsentativ (S. 30, 276). Die Untersuchung versteht sich demnach als eine erste zahlenmäßige Schätzung und als Wiedergabe des bisherigen Erkenntnisstandes zu dieser Thematik. Forschungsdefizite sollen aufgedeckt werden.

Es gibt hierbei in vielen Bereichen eine hohe Dunkelziffer, beispielsweise zeigen die meisten jugendlichen Männer Körperverletzungen nicht an, da dies innerhalb ihres sozialen Umfeldes als normales Kräftemessen betrachtet wird. Ebenso verhält es sich mit Männern, denen eine Frau als Täterin gegenübersteht, da oftmals Angst besteht, dass ihnen nicht geglaubt wird.

Gewalt in allen Bereichen des Lebens

Der im gesamten Buch verwendete Begriff der personalen Gewalt wird definiert als jede Handlung eines Menschen, die jemandem Verletzungen zufügt und von welcher der Betroffene annimmt, dass sie ihn verletzen soll oder zumindest Verletzungen billigend in Kauf nimmt (S. 21).

Dargestellt wird zunächst Gewalt, die Jungen in Familie, Öffentlichkeit, Schule und Ausbildung widerfährt. Anschließend wird der Bereich Krieg, Wehr- und Zivildienst untersucht. Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit Gewaltwiderfahrnissen von Männern in Lebensgemeinschaften, Öffentlichkeit und Arbeitswelt. Alsdann wird noch auf Gewaltkontexte in Institutionen wie religiösen Gemeinschaften oder dem Gefängnis hingewiesen. Ebenfalls wird kurz auf diskriminierte Bevölkerungsgruppen eingegangen. Das letzte Kapitel zieht Schlussfolgerungen aus der Studie. Festgestellt wird, dass sowohl bei betroffenen Männern als auch in der Öffentlichkeit eine Sensibilisierung für Gewalt gegen Männer fast nicht vorhanden ist.

Demnach fehlt es an Unterstützungsangeboten oder einem Hilfesystem für die Betroffenen, besonders bei sexualisierter Gewalt gegen Männer oder bei weiblichen Täterinnen. Die Autoren sprechen daher die Empfehlung einer repräsentativen Studie, einer größeren öffentlichen Aufklärung und der Einrichtung spezifischer Hilfsangebote aus.

Fazit

Das Buch zeigt umfassend auf, wie Männer in allen Lebensbereichen Opfer von Gewalt werden. Die Leser erkennen, dass sich die Autoren große Mühe gegeben haben, die verschiedenen Gewaltformen umfassend zu dokumentieren. Die chronologische Gliederung des Buches nach Lebensabschnitten, zu denen anschließend die Auswertung der Studie erfolgt, ist sehr gelungen.

Viele Erfahrungsberichte der Interviewten sind sehr erschreckend und regen, wie überhaupt das gesamte Werk, sehr zum Nachdenken über diese Thematik an. Die These von einem fehlenden öffentlichen Bewusstsein dafür, dass Männer sehr oft Opfer von Aggressionen sind, erscheint plausibel.

Das Buch lässt erkennen, dass ein großer Nachholbedarf seitens der Forschung besteht. Es stellt eine ideale Basis für weitere Untersuchungen in diesem Bereich dar. Eine repräsentative Studie über dieses Forschungsfeld sowie weitere detaillierte Untersuchungen wären sehr interessant und wünschenswert, um der Gewalt gegen Männer in Zukunft besser entgegentreten zu können.

URN urn:nbn:de:0114-qn091157

Jonas Kade

Hannover

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