Gayatri Chakravorty Spivak:
Can the Subaltern Speak?
Postkolonialität und subalterne Artikulation.
Wien: Verlag Turia + Kant 2007.
159 Seiten, ISBN 978–3–85132–506–5, € 15,00
Judith Butler, Gayatri Chakravorty Spivak:
Sprache, Politik, Zugehörigkeit.
Zürich: Diaphanes Verlag 2007.
78 Seiten, ISBN 978–3–03734–013–4, € 8,00
Abstract: In ihrer Analyse der Sprecherpositionen, die subalternen Frauen in Indien zugestanden wird, formuliert Gayatri Chakravorty Spivak eine Kritik am fehlenden Verantwortungsbewusstsein westlicher Intellektueller. Zugleich entwickelt sie eine anspruchsvolle Vorgabe für die Untersuchung kolonialer Herrschaftspraktiken. Während die Forderung nach Verantwortung allerdings hinter dem eigenen Anspruch zurückbleibt, die institutionellen und historischen Bedingungen akademischer Arbeit zu berücksichtigen, birgt ihre Theorie des unterworfenen Subjektes ein großes Analysepotential. Das Gespräch zwischen Spivak und Judith Butler enttäuscht hingegen die Erwartungen an eine informierte politische Öffentlichkeit.
Der gelehrte Diskurs ist, wie Pierre Bourdieu sich zu zeigen bemühte, eine Kompromissbildung aus Ausdrucksinteresse und Zensur. Daran ändert sich auch im Fall der postkolonialen und „subjektkritischen“ Theoriebildung nicht viel. So wie es sich der Kritiker des akademischen Budenzaubers nicht versagen konnte, mit Marx, Freud und Co. gespickte Endlossätze à la Proust zu produzieren, so sind auch dort sperrige und undurchschaubare Konzepte und Formulierungen im Schwange. Das Interesse, Kritik an Kolonialismus und Imperialismus, an Geschlechterstereotypie und Sexismus zu formulieren, muss sich durch den Kanal der großen und kleinen Theorien zwängen, und je gewundener die Sätze, desto größer die Verheißungen des Inhaltes. Dabei könnte Bescheidenheit ebenso eine Maxime sein. Es zeugt nicht von Geistfeindlichkeit, wenn dem Essay Can the Subaltern Speak? regelmäßig ein Übermaß an sprachlicher Frivolität vorgeworfen wird. Meine Aufgabe als Rezensent sehe ich darin, mich auf die Kernargumente dieses „Versuchs“ zu konzentrieren.
In den achtziger Jahren in einem Sammelband mit dem Titel Marxism and the Interpretation of Culture publiziert und danach diverse Male umgearbeitet, ist der Text mittlerweile zu einer Kennmarke der postcolonial studies geworden. Eine vollständige Übersetzung ins Deutsche gab es bisher aber nicht. Die jetzige Veröffentlichung, in Verbindung mit einer Einleitung, einem Interview mit der Autorin und einer editorischen Nachbemerkung, ist daher so überfällig wie auch gelungen. Insbesondere diese Bemerkung dürfte mit Interesse aufgenommen werden: „Nun, ich glaube doch, dass mein Aufsatz zu kompliziert ist. Als ich ihn fertig geschrieben hatte, hielt ich ihn für so unkontrolliert, dass nur jemand anderer ihn kürzen konnte. Ich habe ihn den Herausgebern mit dieser Bitte geschickt. Ich war erstaunt zu sehen, dass die gedruckte Version ungekürzt herausgekommen ist.“ (S. 119) Der Text besteht aus zwei Teilen: aus einer Kritik an westlichen Intellektuellen und einer anspruchsvollen methodologischen Vorgabe für die Geschichtsschreibung. Spivaks Plädoyer für Jacques Derridas „Grammatologie“ – sie war Übersetzerin dieses Buches ins Englische – lasse ich hier aus. Die interne Struktur des Aufsatzes gleicht einem Hypertext, das heißt einer nicht zwingenden „Verlinkung“ von Bausteinen der Diskursanalyse, Ideologietheorie, Marxschen Wertlehre, Psychoanalyse, Dekonstruktion, Orientalismuskritik, Transzendentalphilosophie und des Feminismus. Man kann beim Lesen auf viele instruktive Verbindungen stoßen, sich aber auch leicht verirren.
Im ersten Kapitel greift sich Spivak mit ihrer Kritik an Gilles Deleuze und Michel Foucault zwei politisch aktive Theoretiker heraus, die sich nicht durch Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Leserinnen und Lesern auszeichneten. Sie zielt dabei auf die Privilegien, über die linke Intellektuelle mit universitärem Hintergrund verfügen und die für Verzerrungen in deren eigenen Theoriearbeit sorgen, sofern das geschulte eigene Weltverständnis umstandslos auf das von Proletariern, Migranten und Subalternen übertragen wird. Ob dieser Transfer aber einer „Ideologie der Transparenz“ – und damit einer akademischen Berufskrankheit – zuzuschreiben ist, nach der jedes Individuum, unabhängig von seiner ökonomischen, sozialen oder rechtlichen Lage, über ein ausreichendes Wissen von seinen Handlungsmöglichkeiten verfüge, müsste erst nachgewiesen werden. Andernfalls verbliebe Spivaks Kritik im Rahmen herkömmlicher akademischer Rangstreitigkeiten. Oder sie entspringt, was problematisch wäre, einer Ausblendung der besonderen historischen Situation, die Foucault und Deleuze damals vor Augen hatten. Der Versuch politischer Gruppen, den professionellen Vertretungsanspruch von Gewerkschaften und Parteien abzulehnen und sich selbständig zu schulen, war nämlich vor dem Hintergrund der französischen Geschichte durchaus berechtigt. Doch dem widmet Spivak keine Aufmerksamkeit.
Auch führt bei ihr das Aufgreifen der Orientalismus-These Edward Saids zu Vereinfachungen, denn Foucault, der sich als der „Philosoph mit der Maske“ bezeichnete, lässt sich nicht in einen vermeintlich geschlossenen Hegemonie-Diskurs des Westens einreihen, sondern war aufgrund seiner Sexualität ebenfalls von Diskriminierungen betroffen. Das hinderte ihn nicht daran, wie Thomas Maul jüngst in Die Macht der Mullahs. Schmähreden gegen die islamische Alltagskultur und den Aufklärungsverrat ihrer linken Verteidiger (Freiburg 2006, Kap. IX) hervorhob, eine naive Faszination für den „Vitalismus“ der iranischen Revolution zu entwickeln. Der Fall scheint also komplizierter zu sein und deshalb überzeugt Spivaks Vorgehen nicht, die Analyse von Said, dessen Buch Orientalism erst 1978 erschien, als intellektuelles Allgemeingut vorauszusetzen. In Spivaks später geäußerten Worten: „Wir handeln aus bestimmten Reflexen heraus, die sich Bahn brechen, indem wir durch die Lerngewohnheiten des Verstandes etwas aufschichten, und nicht ausgehend von einem Wissen.“ (S. 122)
Sprichwörtlich wurde die Frage, ob die Subalterne sprechen könne, wobei selten angegeben wird, was hier unter dem Subjekt und dem Prädikat eigentlich zu verstehen sei. Spivak setzt sich in den Kapiteln 2 und 4 ihres Essays mit dem Projekt der subaltern studies auseinander, einen Gegenentwurf zum nationalstaats- und eliteorientierten Geschichtsverständnis europäischer Prägung zu entwickeln. Ihr diesbezügliches Interesse gilt den Witwen in der (ehemaligen) britischen Kolonie Indien, die sich zusammen mit ihrem Mann verbrennen ließen. Dabei geht sie einen Schritt hinter die Frage zurück, ob sie das freiwillig oder gezwungenermaßen taten, indem sie diese Dichotomie ihrer nur scheinbaren Alternativlosigkeit überführt. Hierfür arbeitet sie nicht eigentlich empirisch und stellt auch keine positiven Kriterien für diese rechtliche und moralische Diskussion auf, sondern legt eine Theorie des subalternen Subjekts vor, die primär an den negativen Konsequenzen kolonialer Herrschaft in Form von „Subjektivierung“ ausgerichtet ist. Wesentlich ist für sie hierbei der kategoriale Unterschied zwischen dem „Subjekt“ und dem „Individuum“, den sie in Foucaults Machttheorie vernachlässigt sieht. Über diesen Umweg will Spivak dann zur näheren Bestimmung der subalternen Sprachlosigkeit gelangen. Der Begriff des Individuums ist als Inbegriff von Eigenschaften zu verstehen, die jemandem deskriptiv zugeschrieben werden können, unter anderem die stimmliche Artikulationsfähigkeit. Landläufig wird dieses “Personenverständnis“ in historiographischen Arbeiten nicht verlassen. Philosophische Theorien des Subjekts hingegen, seien sie nun im Bereich des Rechts oder der Moral angesiedelt, geben Auskunft über die Fähigkeiten und Möglichkeiten, über die ein Individuum in normativer Hinsicht verfügen muss, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Von diesem Punkt aus betrachtet ist Spivaks Vorgehen originell. Sie kann zeigen, dass die einheimischen und britischen Eliten bei ihrer Schaffung des indischen Rechts eine Klassifizierung der subalternen Frau aufstellten, die extrem unterbestimmt war. Ein solches „Subjekt“ kann nicht sprechen, weil es die Mindestmenge an Eigenschaften unterschreitet, die einem Individuum zugestanden werden müssten, um als Person existenzfähig zu sein.
Die Schwierigkeiten in Spivaks Ansatz beginnen jedoch dort, wo sie zwischen papiernen Klassifizierungen des Subjekts und den wirklich ablaufenden Subjektivierungen, von denen Witwen betroffen sind, nicht mehr unterscheidet. Da nur wenige Quellen vorhanden sind, trifft Lata Mani, eine Kollegin von Spivak und die wohl beste Kennerin der Materie, kaum Aussagen über die Witwen und wendet sich vor allem dem Konstruktionsprozess der Eliten zu (Mani, Lata: Contentious Traditions. The Debate on Sati in Colonial India, Chicago 1998). Spivak war der Quellenmangel und der damit verbundene „Stimmverlust“ bekannt, viel mehr als Einzelfälle ließ sich bis heute nicht rekonstruieren. Wie verfährt man also in der historischen Arbeit mit dieser Subjektklassifizierung, von der bisher nur in eingeschränktem Maße gezeigt werden konnte, dass sie wirksam war? Diese Frage unterschlägt nicht die Gewalt gegen Witwen, nur müsste gezeigt werden, inwiefern Spivaks Konzept der Subalternität eine Erklärung bietet. Verinnerlich(t)en Witwen die Ideologie der Eliten? Um dem nachzugehen, böte es sich an, das hier entworfene Modell als heuristischen Idealtypus zur Erklärung weiblicher Selbst- und Fremdbilder zu verwenden, anstatt in ihm bloß einen „Extremfall“ der indischen Rechts- und Gesellschaftsordnung zu sehen. Erschwert würde ein solches Verfahren aber durch das vorherrschende Wissenschaftsverständnis in den postcolonial studies, deren Vertreter die empirische wie auch die theoretische Arbeit zu eng mit ihrer Kritik der gegenwärtigen politischen Lage verknüpfen.
Sie werden schon einmal auf einer dieser Veranstaltungen gewesen sein, auf denen Intellektuelle von Format sprechen, deren Vorträge sich aber dann doch so kleinformatig ausnehmen, dass sich spätestens auf dem Heimweg die Enttäuschung über den Verlauf des Abends Bahn bricht. Bekannt sind auch diese Fragen und Diskussionsbeiträge, die mit dem Thema nichts zu tun haben und so den Verdruss über den Zustand der politisch informierten Öffentlichkeit nur noch vergrößern. Von dieser Sorte muss der Abend mit Spivak und Butler gewesen sein, der jetzt als „Mitschnitt“ unter dem Titel Sprache, Politik, Zugehörigkeit erschienen ist, wobei keine Auskunft über die näheren Umstände der Veranstaltung gemacht werden. Meine Vermutung lautet, dass er im Jahr 2006 stattfand, höchstwahrscheinlich aus Anlass von Hannah Arendts 100. Geburtstag, da auf ihre Bücher Bezug genommen wird. Die Themen sind Staatenlosigkeit und Guantanamo Bay, Arendts Totalitarismustheorie und Giorgio Agambens Metaphysik des Lagers. Überwiegend spricht Butler, sie kritisiert Agambens Begriff des „nackten Lebens“, der davon abstrahiere, dass Menschen zu Staatenlosen gemacht würden und das Leben in Lagern auf aktiv gestalteten Politiken der Entrechtung und Entwürdigung beruhe: „Jemand fällt aus der Nation nicht einfach so heraus, sondern wird für mangelhaft befunden und wird auf diese Weise, durch die Bezeichnung und deren implizite und aktiv wirksame Kriterien, zum ‚Mangelwesen‘.“ (S. 25) Ihr ist darin zuzustimmen, aber warum sollte das als „Erkenntnis“-gewinn zu betrachten sein? Und wenn Butler sagt, sie habe sich lange gescheut, Arendts Vita Activa zu lesen, so möchte man wenigstens noch zu einer Biographie raten. Vielleicht würde sie dann eine Antwort finden, warum Arendt, die vor den Nazis flüchtete, bei der Behandlung der Flüchtlingsproblematik in ihrer Totalitarismusstudie nicht die erste Person Singular verwendet: Die Autorin kam aus einer Wissenschaftstradition, in der die Verwendung des ‚Wir‘ Pflicht war, sie schrieb das Buch zusammen mit ihrem Mann Heinrich Blücher und wollte auf über 1000 Seiten ein System erklären, in dem das einzelne Individuum zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken war. Butler und Spivak zählen zu den bedeutendsten Intellektuellen der Gegenwart. Gerade deshalb hätte dieser Abend besser sein können.
URN urn:nbn:de:0114-qn091127
Ruben Marc Hackler
Freie Universität Berlin/SFB 700 „Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit“
E-Mail: largesse@gmx.net
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