Verhältnis Wissen, Wissenschaft und Geschlecht

Rezension von Anna Voigt

Lena Behmenburg, Mareike Berweger, Jessica Gevers, Karen Nolte, Eva Sänger, Anna Schnädelbach (Hg.):

Wissenschaf(f)t Geschlecht.

Machtverhältnisse und feministische Wissensproduktion.

Königstein im Taunus: Ulrike Helmer Verlag 2007.

277 Seiten, ISBN 978–389741–225–5, € 28,00

Abstract: Im vorliegenden Band sind Beiträge versammelt, die die Eröffnung eines Blicks für die umfassendere Betrachtung von Machtverhältnissen in Bezug auf Wissensproduktion aus feministischer Perspektive zum Ziel haben. Bei den Lesern und Leserinnen wird dabei ein Verständnis für Transdisziplinarität vorausgesetzt, da der Band Beiträge enthält, die traditionelle Disziplingrenzen bewusst überschreiten.

In ihrer sehr dichten Einleitung legen die Herausgeberinnen dar, welche verschiedenen Dimensionen feministischer Wissens- und Wissenschaftskritik in diesem Sammelband zusammengebracht wurden, denen gemeinsam eine kritische und auf Veränderung zielende Fragestellung ist. In den Untersuchungen zum Verhältnis von Geschlecht und Erfahrung zu Wissen und Wissenschaft aus feministischer Perspektive gehe es nicht darum, nach scheinbar objektiven Beschreibungen der Welt zu suchen, sondern darum, zu analysieren, wie Wirklichkeitskonstruktionen Effektivität erlangen oder wie nicht. Eine der zentralen Fragen dieses Bandes, der im Rahme des DFG-Graduiertenkollegs “Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung“ entstanden ist, lautet, wie Wissensstrategien und (Gegen)Praxen aussehen können, die nicht von einer identitätslogischen Perspektive ausgehen. Die Herausgeberinnen betonen, dass die Einsicht, dass das Kollektivsubjekt ‚Frauen‘ imaginär ist und dass feministische Wissensproduktion und Kritik eine aporetische Grundstruktur aufweist, weder in theoretischer noch in praktischer Hinsicht zur Aufgabe von Kritik- und Handlungsfähigkeit führe, sondern dass das erweiterte kategoriale und politische Verhältnis von Wissen, Macht und Erfahrung kontingente Identitäten und so neue Handlungs- und Bündnismöglichkeiten eröffne. Es gehe vor allem um das Zurücklassen rationaler Wissens- und Ordnungsmuster und das Öffnen für eine visionäre Vorstellungskraft, um Möglichkeiten der gegenseitigen Wahrnehmung und Verbundenheit auszuloten, die nicht auf einer Festschreibung von Identität und Differenz beruhen: „Der vorliegende Band stellt dennoch den Versuch dar, als Teil einer widerspenstigen Wissenskultur aus interdisziplinärer Perspektive etabliertes Wissen und dominante Repräsentation in Frage zu stellen.“ (S. 17) Darin müsse enthalten sein, die Reflexion sowohl der eigenen Forschungsinhalte als auch die Frage, welche Rolle feministische Forscherinnen und ihre eigene wissenschaftliche Sozialisation im Prozess des Forschens und innerhalb der Institutionen spielen, in denen feministische Wissenschaft betrieben wird.

Im ersten Teil des Sammelbandes („Wissen und Selbstwahrnehmung: Prozesse der Aneignung und Subjektivierung“) schreibt Uta Schirmer unter dem Titel „Sich anders auf sich selbst beziehen“ über „Drag Kinging, Selbstverhältnisse und Wissensweisen von ‚Geschlecht‘“, die nicht durch die Vorstellung einer geschlechtlichen Wahrheit, die es auszudrücken gellte, organisiert sind. In ihrer Auswertung von qualitativen Interviews mit Menschen, die in die Drag-King-Szene involviert sind, führt sie mit Bezug auf Foucaults Selbsttechniken und auf Butler aus, wie der Zwang zur Vereindeutigung zu einem der beiden Geschlechter und der Zwang, geschlechtlich konnotierte stilistische Attribute als direkten Ausdruck einer inneren Wahrheit oder Identifizierung begreifen zu müssen, durchbrochen werden kann. Die Autorin macht deutlich, dass die angesprochenen Wirklichkeiten der Interviewten, von denen sie sehr aussagekräftige Aussagen vorstellt („Und dann muss ich mich selbst wieder daran erinnern, dass das nichts ist, woran ich glaube.“ S. 44), minoritär und prekär bleiben – bis jetzt. Kollektiv entwickelt und gelebt könnten die Selbsttechniken nur funktionieren, wenn sie in einem zumindest subkulturell vermittelbaren und teilbaren Bedeutungshorizont stattfänden, denn nicht zu unterschätzen sei, dass hegemoniale Sichtweisen ein verletzendes Potential beinhalten, vor dem sich geschützt werden muss – mit dominantem Wissen um Geschlecht sind die Interviewten täglich konfrontiert.

Bettina Brockmeyer arbeitet in „Geteilte Sorge ums Gemüt. Krankheitsdarstellungen und Wissen im Arzt-Patientinnen-Dialog um 1830“ heraus, dass in der Vor- und Frühmoderne eine Vielfalt von unterschiedlichen Wissensproduzent/-innen an der medizinischen Wissensproduktion beteiligt waren und dass medizinisches Wissen von Laienwissen nicht klar abgegrenzt oder hierarchisiert wurde. Annika Taxer untersucht die Handlungs- und Deutungsmuster einer Lokalpolitikerin in der Türkei, die über die Nutzung von Geschlechterrollenstereotypen zu einer Erweiterung von Handlungsspielräumen von Frauen in ihrer Gemeinde beiträgt.

Im zweiten Teil („Wissenschaft und Macht: Verhältnisse – Kritik – Gegenstrategien“) zeigt Karen Nolte, dass medizinische Wissensproduktion in der Vor- und Frühmoderne nicht hierarchisch nach Geschlechtern geordnet war. Die Medienwissenschaftlerin Uta Scheer und die Historikerin Annika Spilker analysieren anhand von zwei Fallbeispielen, wer was wie wem erzählt bzw. erzählen kann und darf, und arbeiten dabei heraus, dass Wissenschaft vor allem Deutungsmacht ist. Sarah Elsuni führt aus, wie sich die heterosexuelle Matrix im institutionalisierten Wissenssystem des Rechts auswirkt, und zeigt, wie diese in Frage gestellt werden kann. Drucilla Cornell, Professorin für Politische Wissenschaften, Frauen- und Geschlechterforschung und Vergleichende Literaturwissenschaft, weist darauf hin, dass Frauen sich nicht in einem rationalen Sinne kennen oder voneinander wissen müssen, sondern eine Verbundenheit eingehen können, auf Grundlage von Solidarität. Dabei müssten sie keine objektivierenden Identitätskategorien verwenden. Cornell regt am Beispiel des Romans „Paradise“ von Toni Morrison vielmehr an, offen zu lassen was Frauen sind oder sein könnten. Hier zeigt sich, dass das Öffnen für eine visionäre Vorstellungskraft dabei eine wichtige Rolle spielen kann und Verbundenheit nicht auf Identität oder Differenz beruhen muss.

Stephanie Braukmann nimmt unter dem Titel „Science Fiction“ Wissenschaft, Technologie und Geschlecht in den Filmen der Alien-Tetralogie in den Blick und greift dabei auf das Wissenschaftskonzept und den Cyborg-Mythos von Donna Haraway zurück. Es zeige sich, dass neben der Reinszenierung konventioneller Konstruktionen von Identität und Geschlecht auch andere Körperbilder generiert werden, die sich einer bipolaren Geschlechtersicht entziehen. Die von Ridley Scott geschaffene Figur im Zentrum der Narration, das Monster, das an der Grenze zwischen Natur und Technologie situiert ist, sorge für Optionen zur Trennung, Verschiebung und Rekombination der Sichtweisen von Körpern, mit der Folge, dass Geschlecht und Identität neu verhandelt werden können. Meiner Meinung nach darf aber nicht unterschätzt werden, dass durch die Reinszenierung der Konventionen, gestützt durch einen hegemonialen Diskurs, bipolare Geschlechterregime festgeschrieben werden können und die optionalen Lesarten ohne eine entsprechende Alphabetisierung oder Schulung im Lesen von Zeichen sich nicht nahelegen müssen. Der Cyborg dient als paradigmatisches Modell für ein Selbst, dem es möglich ist, politische Bündnisse auf nicht-essentialistischer Basis aufzubauen und ein Verhältnis zur Natur aufzubauen, das nicht auf Herrschaft und Kontrolle beruht.

Im dritten Teil („Feministische Wissensproduktion und politisches Handeln“) wendet sich Uma Narayan gegen eine liberal-philosophische, feministische Perspektive, in der die soziale Lage von Frauen in den Ländern des Südens auf eine kulturalistisch begründete Unterdrückung zurückgeführt wird. In dieser würden die globalen Faktoren, etwa die Weise, wie das neokoloniale Ungleichgewicht in der Weltwirtschaft die Struktur der lokalen Arbeitsmärkte beeinflusst, nicht berücksichtigt.

Eva Sänger geht auf den theoretischen und praktischen Nutzen des Zivilgesellschaftskonzepts ein und weist mit Chantal Mouffe darauf hin, dass die Debatte um die Zivilgesellschaft eine Stellvertreterdebatte sei, um die Frage zu umgehen, wie die sozialen Bedingungen demokratischen Zusammenlebens aussehen sollen. Sänger kommt es darüber hinaus darauf an, zu klären, unter welchen Voraussetzungen aus feministischer Perspektive ein Konzept der Zivilgesellschaft produktiv, also (frauen)politisch fruchtbar sein könne. Sie geht davon aus, dass die bürgerliche Ordnung der Geschlechter – als Ordnung ungleichen Rechts – und der prekäre Einschluss in die Familie sowie die damit einhergehende Klassenformation konstitutiv für die Gesellschaft sind, und hält mit Maihofer die Gleichzeitigkeit zwischen universalen Gleichheitsnormen und faktischem Ausschluss für einen grundlegenden Bestandteil bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften. Aufgrund der polarisierten Entgegensetzung von Staat und Zivilgesellschaft in normativen Theorien sei das Konzept anschlussfähig an neoliberale Reformdiskurse, so ihr Ergebnis nach einer Gegenüberstellung der Thesen von Jürgen Habermas und Antonio Gramsci. Diese Anschlussfähigkeit ist m. E. noch kein Argument gegen diese Theorien: auch wenn sie vielleicht politisch nicht wünschenswert ist, so kann nicht die Möglichkeit einer Verknüpfung mit neoliberalen Diskursen das Kriterium der Beurteilung sein. Die Bevorzugung eines Gramsci folgenden Verständnisses zivilgesellschaftlicher Prozesse und einer Vorstellung von gesellschaftlichen Interventionen, die über die repräsentationslogische Funktionsweise moderner Öffentlichkeiten hinausgeht, ist allerdings sehr produktiv. Nach näherer Betrachtung der These von Alex Demirovic, der deutlich macht, dass das Ideal der Inklusion prinzipiell uneinlösbar ist, formuliert die Autorin das Ziel, die Unterscheidung von Führenden und Geführten, von Regierenden und Regierten zu überwinden und die kapitalistische Arbeitsteilung selbst zur Disposition der kollektiven Selbstbestimmung zu stellen und damit Formen pluraler Selbstregulierung und Koordination zu erreichen.

Anil Al-Rebholz weist darauf hin, dass eine Neudefinition des Politischen in der Türkei, eine Eröffnung diskursiver Räume und eine Kritik an vorherrschenden Ideologien durch die türkische Frauenbewegung notwendig seien. Nancy Frasers Vorschlag, Feminismus und Feministische Theorie sollten sich mit allen Arten von Kämpfen gegen Unterdrückung in Gesellschaften beschäftigen, hält sie für die richtige Lösung für die Türkei.

In den Beiträgen von Gail Lewis und Jessica Gevers geht es um Imagination und darum, welche wichtige Rolle diese bei der Herstellung von Zwischenräumen spielt, die quer zu hegemonialen Repräsentationslogiken stehen. Beide Autorinnen beschäftigen sich mit literarischen und künstlerischen Wissensproduktionen und dabei vor allem mit der Übersetzung von Differenzen. Es geht ihnen um die Erarbeitung und Übersetzung einer feministischen Praxis, die nicht auf einer hierarchisierten ethnischen und sozialen Differenz gründet. Jessica Gevers’ Analyse ist davon geleitet, wie sich literarische Repräsentationen kritisch in gesellschaftliche Diskurse über ‚kulturelle Differenz‘ einschreiben, und folgt dabei der These, dass kulturelle Produktionen die Möglichkeiten haben, scheinbar festgefügte Machtverhältnisse in den Blick zu nehmen und neu zu entwerfen.

Die Diskussion über Wissen, Wissenschaft und Geschlecht soll durch Verknüpfungen der Kategorie Erfahrung und der Dimension des Politischen angeregt werden, die Beiträge dieses Bandes können diesem Anspruch sicherlich gerecht werden, sie müssen allerdings auch entsprechend rezipiert werden. Ein Verständnis für die Notwendigkeit einer feministischen, transdisziplinären Wissens- und Wissenschaftskritik ist vorauszusetzen.

URN urn:nbn:de:0114-qn091350

Anna Voigt M.A.

Berlin

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