Stefan Beck, Nevim Çil, Sabine Hess, Maren Klotz, Michi Knecht (Hg.):
Verwandtschaft machen.
Reproduktionsmedizin und Adoption in Deutschland und der Türkei.
Berlin: LIT-Verlag 2007.
184 Seiten, ISBN 978–3–8258–0422–0, € 19,90
Abstract: Der Band basiert auf Beiträgen des an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelten Forschungsprojektes „Verwandtschaft als Repräsentation sozialer Ordnung und sozialer Praxis: Kulturen der Zusammengehörigkeit im Kontext sozialer und reproduktionsmedizinischer Transformationsprozesse“. In dreizehn Artikeln wird anhand der Länder Deutschland, Türkei und Großbritannien der Frage nachgegangen: „Wie macht man Verwandtschaft?“ Angesichts des unaufhaltsamen Voranschreitens der Reproduktionsmedizin ist die Lektüre dieses Bandes vorbehaltlos zu empfehlen.
Letztendlich war es nur eine Frage der Zeit, und am 29. November 2007 war der Zeitpunkt gekommen: In einer bayrischen Privatklinik wurde dank einer im Ausland vorgenommenen Eizellenspende eine 64-jährige Türkin durch Kaiserschnitt von einem gesunden Baby entbunden. Damit ist auch in Deutschland – wie bereits in vielen Ländern – der Rubikon überschritten worden. Die global agierende und äußerst effektive Reproduktionsmedizin überlistete ein weiteres Mal ‚Mutter Natur‘ in gekonnt spektakulärer Weise und führte überdies auch noch das deutsche Embryonenschutzgesetz – das explizit die Eizellenspende verbietet – ad absurdum. Dessen ungeachtet ist die rechtliche Situation in Deutschland eindeutig: „Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat“ (§ 1591 BGB). Gleichwohl sind Mutter und Kind im vorliegenden Fall nicht miteinander verwandt. Oder doch? Beinhaltet „Verwandtschaft“ mehr als einen genetischen Code zu teilen? Kann man „Verwandtschaft“ eventuell sogar planen? Hat „Verwandtschaft“ im türkischen Kulturkreis eine andere Bedeutung als in Deutschland? Kurzum: Von welchen Faktoren ist die Entstehung des ‚sozialen Kitts‘ genetisch nicht verwandter Individuen abhängig?
Wer eine Antwort auf diese zeitgemäßen Fragen sucht, sollte das soeben erschienene Heft 42 der BERLINER BLÄTTER mit dem Titel Verwandtschaft machen. Reproduktionsmedizin und Adoption in Deutschland und der Türkei zur Hand nehmen. In dreizehn Beiträgen, davon zwei in englischer Sprache, wird der zentralen Fragestellung nachgegangen: „Wie macht man Verwandte und Verwandtschaft?“ (S. 8). In diesem Zusammenhang widmen sich vier Beiträge der türkischen Situation, ein Artikel problematisiert die Gegebenheiten in Großbritannien und die restlichen acht Abhandlungen beschreiben bzw. analysieren die deutsche und/oder die türkische Ausgangslage.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die ethnographische Erforschung und Beschreibung der Handlungsmuster von unterschiedlichen Akteuren, wie etwa ungewollt Kinderlosen, Ärzten, klinischem Personal, Selbsthilfeorganisationen und Adoptionsvermittlungsstellen. In Anbetracht dessen erschließt sich der Wert des Bandes nicht nur Ethnologen und Anthropologen, sondern auch Politologen, Soziologen, Philosophen und nicht zuletzt Juristen. Insbesondere der spezifische Ländervergleich Deutschland/Türkei erweist sich hierbei als äußerst fruchtbar. Er bedarf jedoch – angesichts der Fragestellung: „Wie macht man Verwandte?“ – der kritischen Hinterfragung.
Mehr als die Hälfte der Beiträge kreist um die zentrale Frage, wer in welcher Weise die neuen Reproduktionstechniken nutzt. Will man Spekulationen vermeiden, bedarf es harter Zahlen und Fakten. Diese wurden in Deutschland und der Türkei erhoben. So interviewte man in Deutschland Frauen, die dank der Reproduktionstechnologie erfolgreich schwanger geworden sind (S. 12). In der Türkei hingegen gestattete eine Istanbuler Privatklinik die Hospitation bei Patientengesprächen (S. 63ff.). In diesem Kontext ist jedoch zu bemängeln, dass die Herausgeber bzw. Autoren dezidierte statistische Angaben schuldig bleiben. Wenn also Stefan Beck, Sabine Hess und Michi Knecht in ihrem Beitrag „Verwandtschaft neu ordnen: Herausforderung durch Reproduktionstechnologien und Transnationalisierung“ (S. 12–31) schreiben, sie würden auf „empirische Erhebungen“ (S. 12) zurückgreifen, dann bedarf es der Publikation dieser Daten.
Dessen ungeachtet zeigt Sabine Hess in ihrem Artikel „Flexible reproduktive Biografisierung: Zum Kinder-Machen im Zeitalter biopolitischer Möglichkeiten – von Zeugungsstreiks und Spielermentalität“ (S. 109–123) überaus anschaulich das Dilemma der erfolgreichen ‚Powerfrau‘ jenseits des 35. Lebensjahres mit Kinderwunsch. Gemäß ihren Ausführungen sind dies hochgebildete, finanziell abgesicherte, ausgesprochen gut informierte Karrierefrauen, die bereit sind, die ganze Bandbreite der neuen Technologien einzusetzen, um ihren Wunsch nach einem Kind in die Tat umzusetzen. Im Sinne eines ‚Projektes‘ wird der Kinderwunsch – mit oder ohne Partner(in) – angegangen. So werden gezielt ausländische Klinken aufgesucht, um das restriktive deutsche Embryonenschutzgesetz, das sowohl die Eizellen- als auch die Embryonenspende verbietet, zu umgehen. Kritische Fragen und Zweifel, etwa ob angesichts der unterschiedlichen genetischen Disposition eine gefühlsmäßige Bindung zu dem Kind entstehen kann, scheinen nicht zu existieren. Vielmehr wird der Empfängnis ganz bewusst eine neue Gestalt gegeben, „wie beispielsweise das Bild des Moments der Befruchtung auf dem Gynäkologen-Stuhl im Fotoalbum des werdenden Kindes nicht fehlen darf“ (S. 118).
Freilich hätte man sich an dieser Stelle nähere Angaben gewünscht. So bleibt etwa die Frage nach dem Schwangerschafts- und Geburtserleben als konstitutiver Faktor für die Erzeugung von Verwandtschaft völlig unbeantwortet. Diesem Kriterium hätte nachgegangen werden müssen, denn es verwundert, dass Frauen ihren Körper jenseits des 35. Lebensjahres mit Hilfe der Reproduktionsmedizin geschickt überlisten, um anschließend auf eine ‚natürliche‘ neunmonatige Schwangerschaft und ihre psychischen Auswirkungen zu hoffen.
Eine völlig andere Situation wird von Nevim Çil in ihrem Artikel „Assistierte Reproduktion in Istanbul“ (S. 63–79) beschrieben. Genauso wie in Deutschland sind in der Türkei die Embryonen- und Eizellenspende verboten. Darüber hinaus wird die Fremdsamenspende sanktioniert. In Anbetracht dessen steht die Reproduktionsmedizin nur Ehepaaren zur Verfügung. Die Autorin hospitierte in einer hochmodernen Privatklinik in Istanbul, deren Patientinnen und Patienten zu ca. 70 % aus Kleinstädten und ländlichen Regionen der Osttürkei stammen. Kinderlosigkeit gilt in diesen Landstrichen als Schande und führt häufig zur Trennung und zu sozialer Isolation (S. 65). Der überwiegende Teil der Ratsuchenden hat lediglich eine rudimentäre Schulbildung genossen und vertraut ‚blind‘ den Worten der Ärzte und des klinischen Personals. So konnte Nevim Çil dank deren Protektion völlig ungehindert an hochsensiblen Patientengesprächen teilnehmen, die zum Teil ausführlich dokumentiert worden sind. Der Eindruck, dass in der Türkei eine autoritäre Bevormundung seitens des medizinischen Personals vorherrscht, manifestiert sich in den Ausführungen der Gründerin der Selbsthilfeorganisation ÇIDER, Sibel Tuzcu. Sie berichtet in ihrem Beitrag „Infertilität war ein Wort, das sich nicht ziemte“ (S. 168–174) durchaus emotional von den Gründungsproblemen einer Selbsthilfeorganisation, während Gül Özsan in ihrem Artikel „Gender and Reproductive Technologies: doing exploratory interviews in Istanbul IVF clinics“ (S. 175–179) sachlich dezidiert das Verhalten der weiblichen türkischen Ratsuchenden aus feministischer Sicht analysiert. Allerdings bleibt die Frage nach dem ‚Verwandtschaft-machen‘ in Bezug auf die Türkei bedauerlicherweise unbeantwortet. Der Artikel von Ferhunde Özbay „Fremde Töchter in den Häusern: Cariyeler, Evlatliklar, Gelinler“ (S. 32–62) ist in diesem Kontext wenig geeignet, Klarheit zu schaffen, denn die Autorin untersucht anhand belletristischer Zeugnisse die Entwicklung der Hausgemeinschaft zwischen türkischen und anderen Frauen, etwa Dienerinnen, Dienstmädchen und Sklaven, in einem Zeitraum von 1864 bis 1964.
Von Interesse wäre es gewesen, zu erfahren, wie türkische Paare ein genetisch fremdes Kind in die Familie integrieren. Hierfür hätte Nevim Çil jedoch Paare befragen müssen, die – entgegen den türkischen Gesetzen – eine Embryonen-,Ei- bzw. Samenspende im Ausland empfangen haben. Man darf unterstellen, dass es sich hierbei um die restlichen 30% der Patienten jener Istanbuler Privatklinik handeln dürfte.
Welche schwerwiegenden Folgen reproduktionsmedizinische Verfahren für die gezeugten Kinder nach sich ziehen können, diskutiert Michi Knecht in ihrem Beitrag „Spätmoderne Genealogie: Praxen und Konzepte verwandtschaftlicher Bindung und Abstammung“ (S. 92–108) besonders anschaulich. So haben sich mittlerweile in den USA Selbsthilfeorganisationen von ‚Samenspenderkindern‘ gebildet, die – da der Erzeuger namentlich nicht zu ermitteln ist – ihre Halbgeschwister suchen und nicht selten auch finden (S. 94 ff.). Das ‚Verwandtschaft-machen‘ wird sich somit in der Zukunft nicht nur auf das Verhältnis des Elternpaares zu den gespendeten Embryo-, Ei- und Samenzellen erstrecken, sondern auch auf das zwischen den ‚entfernten Geschwistern‘. Michi Knechts These, dass zwischen ‚Mutter‘, ‚Vater‘, ‚Erzeuger‘, ‚Kind‘ und ‚Halbgeschwistern‘ ein intra-generationales Fünfeck entsteht, „dessen Mitglieder durch die beziehungslose Beziehung zu einem namenlosen Genitor verbunden sind, deren Beziehung untereinander erst durch ihre eigenen Sach- und Findstrategien initiiert wurden, und die sich kollektiv und explizit Gedanken darüber machen, wie ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede genetisch oder sozial zu erklären sind“ (S. 95 f.) ist an Prägnanz nicht zu überbieten. Dabei sind allerdings die weitreichenden nationalen und internationalen juristischen Konsequenzen etwa in Bezug auf das Familien- und Erbrecht bis zum heutigen Zeitpunkt noch gar nicht angedacht worden. Und so empfiehlt sich abschließend in jedem Falle die Lektüre des Artikels von Stefan Beck „Globalisierte Reproduktionsregimes: Anmerkungen zur Emergenz biopolitischer Handlungsräume“ (S. 124–151), der geschickt die deutschen und türkischen Diskussionsfäden aufnimmt und zu einem dichten Geflecht verwebt, in der die Frage nach dem „Recht auf Wissen“ eine mannigfache Bedeutung erlangt.
Der vorliegende Band beleuchtet ein wichtiges und bisher eher unbemerktes Problem der Reproduktionsmedizin. Der türkische Bezug eröffnet ein neues hochinteressantes Forschungsfeld. Die Publikation ist daher – von einigen Marginalien abgesehen – als ein bemerkenswerter Beitrag in der aktuellen Diskussion um die Reproduktionsmedizin und ihre (internationalen) Folgen einzustufen.
URN urn:nbn:de:0114-qn091033
Dr. Susanne Benöhr-Laqueur
Rechtsanwältin, Bremerhaven, Homepage: http://www.sblq.de
E-Mail: dr_benoehr@web.de
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