Geschlechterdifferenzen und Geschlechtergrenzen. Über die Verflechtung von Geschlecht, Raum und Erzählung

Rezension von Annika Nickenig

Dominique Grisard, Jana Häberlein, Anelis Kaiser, Sibylle Saxer (Hg.):

Gender in Motion.

Die Konstruktion von Geschlecht in Raum und Erzählung.

Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2007.

405 Seiten, ISBN 978–3–593–38348–4, € 27,90

Abstract: Der vorliegende Sammelband beleuchtet aus verschiedenen Perspektiven die Verknüpfung von Geschlecht, Raum und Erzählung und löst damit seine Forderung ein, Geschlecht als Analysekategorie im interdisziplinären Forschungszusammenhang nutzbar zu machen. Die Prozesse der Konstruktion und Naturalisierung von Geschlecht werden in narratologischen und räumlichen Zusammenhängen untersucht. Mit ‚Raum‘ und ‚Erzählung‘ werden vor allem geographische und literaturwissenschaftliche Konzepte aufgerufen und miteinander verschränkt. Die Beiträge bewegen sich dabei konsequent an den Rändern der jeweiligen Disziplin und versuchen, das eigene Instrumentarium gegen den Strich zu bürsten, wodurch essentialistische Herangehensweisen vermieden werden.

Ebenso wie die Kategorie Geschlecht sind Räume und Narrative das Ergebnis dynamischer Konstruktionsprozesse, und als solche tragen sie zur Naturalisierung der bestehenden Geschlechterverhältnisse bei – so lautet die zentrale These der verschiedenen Beiträge des Sammelbandes Gender in Motion. Die Konstruktion von Geschlecht in Raum und Erzählung. Ausgehend von dieser Überlegung entsteht mit den hier vorgelegten Ergebnissen einer Konferenz der Schweizer Graduiertenkollegien Gender Studies ein komplexes Bild der Verschränkung von Lokalisierung und Normalisierung, Erzählung und Authentifizierung, Performativität und Materialität von Geschlecht. Aus den zugrundegelegten Kategorien ergeben sich drei große Analyseabschnitte, die sich mit dem ‚Geschlecht im Raum’, dem ‚Erzählen des Geschlechts’ und schließlich mit ‚Geschlechter-Politiken im Wandel’ befassen.

Das Private ist politisch – und das Lokale global

Eine kritische Revision geographischer Konventionen wird deutlich in der Zurückweisung der hierarchischen Implikationen von konstruierten Maßstäben und Unterteilungen, von scales. Die dualistische Aufteilung in innen und außen, privat und öffentlich ist geschlechtlich codiert und weist jedem Geschlecht eine ihm eigene Position zu. Was als natürliche Zuordnung erscheint, ist eigentlich die Folge eines Prozesses der Grenzziehung und Normalisierung. Mit dem Überschreiten solcher Positionen und Grenzen im Kontext von Migration befassen sich Bettina Fredrich, Pascale Herzig und Marina Richter in ihrem Aufsatz „Geschlecht räumlich betrachtet: Ein Beitrag aus der Geografie“. Raum ist nicht gegeben, sondern wird konstruiert durch die Menschen, die sich in ihm kreuzen, in ihm Spuren hinterlassen; Raum wird auf diese Weise zum Tat-Ort umcodiert. In der Verwendung des Begriffs der Transmigration (anstelle von Transnationalismus, in dem die Idee der Nation überlebt) klingen auch Ideen der feministischen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak an, die mit dem Schlagwort Planetarity die zweifache Unterdrückung von Frauen im postkolonialen Zusammenhang zu dekonstruieren versucht. Der Begriff der Transmigration versteht sich als nichthierarchisierter Zugang zum Raum und macht es möglich, „die Idee der multiplen Verbundenheit zu Orten zu nutzen, ohne in den Schemata nationaler Ordnung zu denken.“ (S. 72)

Auch Geraldine Pratt argumentiert für eine Welt ohne scales und versucht auf diese Weise, den Feminismus aus dem Dilemma zu befreien, die eigene Position unter Abgrenzung von der einer unterdrückten Dritte-Welt-Frau zu konstituieren und auf diese Weise protektionistischen und neokolonialistischen Tendenzen Vorschub zu leisten. Den regulierenden und Machtverhältnisse mitproduzierenden scales stellt Pratt deshalb eine ‚flache‘ Alternative gegenüber – in Form von Vernetzung und Verwischung von Unterscheidungen. In ihrem Beitrag, der sich zugleich als Einführung in aktuelle feministisch-geographische Denkansätze versteht, skizziert sie zunächst die Möglichkeit, die bestehende Wirklichkeit neu zu imaginieren. Anschließend entwirft sie mit ihrem Konzept des ‚leeren Raums‘ ein antiessentialistisches und antiuniversalistisches Programm für eine feministische und transnationale Ethik und Politik.

Eine gänzlich andere Perspektive auf den Zusammenhang von Raum und Geschlecht liefert der Beitrag von Gabriela Imboden, Anelis Kaiser und Christina Ratmoko mit dem Titel „Das ‚bewegte’ Geschlecht“. ‚Verortung‘ meint hier nicht die Konstruktion des geschlechtlichen Körpers im globalen oder lokalen Raum, sondern die des Geschlechts im Körper. Die Autorinnen spüren sowohl den verschiedenen Lokalisierungen des Geschlechts nach (eine Wanderung von den Keimdrüsen über die Hormone bis ins Gehirn) als auch den Arten und Weisen seiner Verankerungen. Bei aller Beweglichkeit des Geschlechts bleibt ein Aspekt offenbar konstant: „Indem Geschlecht im Körper unter großem Aufwand ‚herumgeschoben‘ wird, wandeln sich seine Verortungen, persistent bleibt aber seine diskursive beziehungsweise diskursiv geprägte Erscheinungsform.“ (S. 123)

Diskursanalyse und doing gender

Mit dem Verweis auf die Diskursivität der geschlechtlichen Verortung ist auch die Brücke zum zweiten großen Teil der Aufsatzsammlung geschlagen, dem „Erzählen des Geschlechts“. Hier wird deutlich, dass Geschlechter immer über (lineare, ideologische, hierarchische) Erzählungen konstruiert sind und dass im Gegenzug Narrative niemals geschlechtsneutral gelesen werden können: so grundlegende Kategorien wie Erzähler, Figur und Struktur sind geschlechtlich markiert. In diesem Sinne diskutieren die Sozial- und Literaturwissenschaftlerinnen Ruth Gantert, Elisabeth Kelan und Sibylle Saxer die narrative Herstellung von Geschlecht. In jeder Darstellung von Handlungsabläufen, in jeder eingenommenen Subjektposition wird ein Geschlecht konstituiert. Dieses ‚doing gender‘ lässt sich sowohl für faktuale (z. B. Interviews) wie auch für fiktionale Texte nachvollziehen. So macht es einen Unterschied, ob in einem literarischen Werk ein auktorialer Erzähler die Figuren und ihre Positionen durch die Geschichte manövriert oder ob anstelle einer allwissenden Instanz verschiedene konkurrierende Perspektiven aufeinander treffen. Auf diese Weise kann unter Umständen die narratologische Form der inhaltlichen Figurenebene entgegenlaufen, was eine differenzierte und mehrdeutige Lesart ermöglicht, die über die ‚Autorintention‘ weit hinausgeht. Dieser einführenden Darstellung folgen interessante Einzelanalysen, beispielsweise die Untersuchung von Jana Häberlein über „Erzählungen von Zugehörigkeit und Citizenship im Kontext von Fluchtmigration“, worin die Verquickung von Bewegung im Raum und Narration besonders deutlich wird.

Geschlechter-Politiken im Wandel

Die amerikanische Philosophin Nancy Fraser nähert sich in einem dritten großen Abschnitt über die politischen Implikationen räumlicher und narrativer Aushandlungen der Fragestellung auf besondere Weise, indem sie ihrerseits eine Erzählung (im Raum) konstruiert und Feminismus lokalisiert: Ihr Beitrag „Lageverzeichnis der feministischen Imagination“ schreibt eine gegen den Konsens gerichtete Geschichte des Feminismus, die diesen in den jeweiligen politischen, sozialen und ökonomischen Kontext und den jeweiligen Entstehungsraum setzt, ihn also nicht als unabhängige Bewegung versteht, sondern als verwoben mit (lokalen und globalen) gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Frasers Unterteilung der feministischen Imagination in drei Phasen – Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation – beinhaltet eine kritische Revision bisheriger feministischer Politiken und fordert eine Zusammenführung der verschiedenen Ansätze für die Zukunft. Sie formuliert ein Programm, mit dem feministischer Aktivismus Verbündete aus anderen politischen Kreisen finden kann, um eine Politik der Anerkennung durchzusetzen, ohne durch nationale Grenzen eingeschränkt zu werden: „Indem der transnationale Feminismus falsche Rahmensetzungen anficht, rekonfiguriert er Geschlechtergerechtigkeit als dreidimensionales Problem, bei dem Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation in Balance gehalten und integriert werden müssen“ (S. 278).

Als Konsequenz der Forderungen Frasers und um das Gesellschaftliche zu denaturalisieren, skizziert Andrea Maihofer Perspektiven für eine Zusammenführung von Gesellschaftstheorien und Geschlechterforschung. Sie konstatiert das Fehlen einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive im Bereich der Gender Studies und fordert eine konsequente transdisziplinäre Zusammenarbeit. Das Desiderat einer solchen Verbindung sieht Maihofer in einigen Ansätzen bereits zum Teil eingelöst: so in der radikalen Auffassung des Geschlechts als performativ oder als soziale Interaktion, in der Dekonstruktion des biologischen Geschlechtskörpers, in der Entwicklung einer Queer Theory, die sich Vereinheitlichungs- und Vereindeutigungsprozessen im Rahmen der Zwangsheterosexualität entgegenstellt, und schließlich in der kritischen Verschränkung der Kategorien class, race und gender.

Grundsätzlich ist in den Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes die Notwendigkeit einer transdisziplinären Perspektive der Geschlechterforschung erneut formuliert und ein überzeugender Schritt in diese Richtung getan: Die einzelnen Ansätze versuchen, das eigene Instrumentarium mit Begriffen und Konzepten anderer Disziplinen zu verschränken und auf diese Weise den vielfältigen Konstruktionsweisen von Geschlecht in Raum und Erzählung auf die Spur zu kommen.

URN urn:nbn:de:0114-qn091241

Annika Nickenig

Universität Mainz

E-Mail: annikanickenig@yahoo.de

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