Julia Zinsmeister:
Mehrdimensionale Diskriminierung.
Das Recht behinderter Frauen auf Gleichberechtigung und seine Gewährleistung durch Art. 3 GG und das einfache Recht.
Baden-Baden: Nomos Verlag 2007.
192 Seiten, ISBN 978–3–8329–2009–8, € 38,00
Abstract: Die vorliegende Monographie ist die publizierte Fassung einer juristischen Dissertation, die jedoch nicht nur für Jurist/-innen, sondern zweifelsfrei auch für andere Berufsgruppen und interessierte Individuen eine anregende und aufschlussreiche Lektüre bietet und hier von einer Nicht-Juristin rezensiert wird. Der Begriff der mehrdimensionalen Diskriminierung bezeichnet ein „Zusammentreffen von Benachteiligungen wegen nicht nur eines, sondern mehrerer Unterscheidungsmerkmale (Geschlecht, Behinderung, Rasse, Sprache etc.)“, welches „hinsichtlich seiner spezifischen rechtlichen Wirkungsweise bislang nicht eingehender analysiert worden“ ist (S. 19). Am Beispiel behinderter Frauen werden grundlegende Problemstellungen der mehrdimensionalen Diskriminierung erörtert.
Endlich wird die Debatte über das Thema „Doppelte Diskriminierung“ systematisch fortgesetzt. Julia Zinsmeister eröffnet in diesem Zusammenhang eine neue, nicht nur sozialwissenschaftliche, sondern auch rechtswissenschaftliche Perspektive. Sie analysiert und erklärt die soziale Benachteiligung behinderter Frauen im Kontext des Rechts, das heißt hier, deutscher Gesetze und deutscher Rechtsprechung. Dabei geht es ihr darum nachzuweisen, dass der Begriff der „doppelten Diskriminierung“, den neben behinderten Frauen auch Vertreterinnen ethnischer Minderheiten in den politischen Diskurs eingebracht haben und den die deutsche Rechtsprechung seit einigen Jahren unter dem Aspekt von „besonderer Benachteiligung“ aufgreift (vgl. S. 21), weder der sozialen noch der rechtlichen Problematik der genannten Personengruppen Rechnung tragen kann (vgl. S. 51).
In diesem Sinne steht am Anfang der Arbeit – theoretisch basierend auf der sozialen Ungleichheitsforschung – eine sozialwissenschaftliche, im Wesentlichen an statistischen Daten orientierte Analyse der Lebensbedingungen behinderter Frauen, gefolgt von einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem „Grundrecht behinderter Frauen auf Gleichberechtigung“ und der „Berücksichtigung der Belange behinderter Frauen im SGB IX“, die beide als wegweisende Neuerungen in die Sozial-/Behindertenpolitik eingegangen sind.
Ausgangspunkt der rechtlichen Analyse ist Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG), wonach niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen oder aber wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. Was aber, so wird in einem ersten Schritt gefragt, versteht das deutsche Recht unter Geschlecht und unter Behinderung? Die Autorin kommt, bezogen auf die Kategorie Geschlecht, zu der interessanten Feststellung: „Es gibt keine Legaldefinition von Geschlecht. Auch in der Rechtsprechung und Literatur finden sich kaum Ansätze, den Begriff ‚Geschlecht‘ positiv zu definieren“ (S. 56). Aufschlussreich ist aber die zeitgeschichtliche Entwicklung der Rechtsauffassungen des Bundesverfassungsgerichtes über die Geschlechterverhältnisse (vgl. Sacksofsky 1996; vgl. S. 66 f.).
Zur Bestimmung von Behinderung dagegen existieren Legaldefinitionen. Dabei knüpfen Gesetze weniger an einen klaren Begriff von Behinderung als vielmehr an „spezifische Zustände oder verminderte Fähigkeiten“ (S. 74) an. Bis 2001 galt v. a. die Definition des Schwerbehindertengesetzes, seitdem die Definition des Sozialgesetzbuches/SGB IX; mit dieser Weiterentwicklung verschob sich der Blick von den „Auswirkungen einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht“, hin zu der Perspektive der Beeinträchtigung der „Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“, verbunden mit einem „spezifischen Hilfebedarf im Bereich der Rehabilitation und Teilhabe“ (S. 75).
Was nun den Vergleich des Verständnisses von Behinderung in Grundgesetz und SGB IX betrifft, so arbeitet Zinsmeister entsprechend der unterschiedlichen sozialen Funktionen dieser beiden Gesetze einen wissenschaftlich, rechtlich und politisch interessanten Unterschied heraus. Im Sinne des bestehenden Benachteiligungsverbotes laut Grundgesetz geht es heute nicht mehr darum zu fragen, „welcher Mensch behindert ist, sondern wie, wo und warum Menschen behindert werden“ (S. 84). Mit dieser Sichtweise einher geht die analytische „Unterscheidung zwischen persönlicher Beeinträchtigung und gesellschaftlicher Behinderung […] Sie mündet in ein neues Verständnis der gesellschaftlichen Verantwortung für behinderte Menschen, in der nicht mehr die Fürsorge und Versorgung behinderter Menschen im Vordergrund steht, sondern der Abbau gesellschaftlicher Barrieren und Ausgrenzungsmechanismen“ (S. 88). Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass im heutigen allgemeinen Rechtsverständnis sowohl Behinderung als auch Geschlecht als Verhältnisse aufgefasst werden, die das „Wechselspiel individueller Handlungen und gesellschaftlicher Mechanismen“ (S. 91) zum Ausdruck bringen.
Geht es aber im Rahmen der Verteilung staatlicher Leistungen für behinderte Menschen darum, „ihre tatsächliche Gleichberechtigung zu fördern, z. B. durch Arbeitsförderungsprogramme, Nachteilsausgleiche etc., muss er [der Staat – U.Sch.] den Kreis der förderungsberechtigten Personen zwingend positiv anhand individuumsbezogener Faktoren und unabhängig von individuellen Diskriminierungserfahrungen eingrenzen können“ (S. 87). Das SGB IX lenkt dabei, anders als das Grundgesetz, sein Augenmerk speziell auf die individuellen Beeinträchtigungen derjenigen, die eine staatliche Förderung erhalten sollen, und bleibt damit ganz traditionell – anders als das Grundgesetz – dem medizinischen Paradigma verhaftet; denn seine Behinderungsdefinition ist zum einen „ausschließlich an Defiziten orientiert, zum anderen wertet sie individuelle Defizite einer Person als Ursache, gesellschaftliche Einschränkungen und Benachteiligungen dagegen als Folge von Behinderung“ (S. 82).
Da aber das SGB IX „das erste Bundesgesetz ist, das behinderte Mädchen und Frauen ausdrücklich als Zielgruppe benennt und ihre gleichberechtigte Rehabilitation und Teilhabe zur zentralen Zielsetzung erklärt“ (S. 139), verdient es eine besondere wissenschaftliche Beachtung. Die Autorin bescheinigt ihm allerdings traditionelles Denken, orientiert an männlichen und keineswegs an weiblichen Bedürfnissen, – da es (weiterhin) die „besonderen Probleme behinderter Frauen und Mädchen“ (§ 1 S. 2 SGB IX) zugrunde legt, ganz entgegen der politischen Verpflichtung des Staates zum Gender Mainstreaming. So reproduziere das SGB IX ein geschlechterhierarchisches Denken und eindimensionale Konzeptionen von Geschlecht und Behinderung (vgl. S. 143 f.).
Es gelingt Julia Zinsmeister, die Problematik der mehrdimensionalen Diskriminierung an einer exemplarischen Personengruppe – behinderten Mädchen und Frauen – aufzurollen. Das Buch ist gut lesbar und kann allen Leserinnen und Lesern, die sich mit dem Verhältnis zwischen Geschlecht und Behinderung, mit Fragen von Normalität und Abweichung (Normalismusforschung), mit der soziologischen Ungleichheitsforschung auf den unterschiedlichsten Feldern, mit dem Spannungsfeld zwischen Inklusion und Exklusion beschäftigen, neue Perspektiven eröffnen.
URN urn:nbn:de:0114-qn092274
Prof. Dr. Ulrike Schildmann
Technische Universität Dortmund/Fakultät für Rehabilitationswissenschaften
E-Mail: ulrike.schildmann@tu-dortmund.de
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