Geschlechterdifferenz im Richteramt?

Rezension von Ilse Reiter

Revital Ludewig, Kathleen Weislehner, Evelyne Anghern (Hg.):

Zwischen Recht und Gerechtigkeit.

Richterinnen im Spiegel der Zeit.

Bern: Stämpfli Verlag 2007.

203 Seiten, ISBN 978–3–7272–2042–5, € 35,00

Abstract: Richterinnen können in der Schweiz auf keine lange Geschichte zurückblicken. Zwar gehörte die Schweiz zu den Vorreitern in Hinblick auf die Öffnung der Universität für Frauen, im Richteramt aber konnten Frauen auf Bundesebene dort bis 1971 nicht tätig werden. Grund dafür ist, dass in der Schweiz Richter/-innen aus politischen Wahlen hervorgehen und das dafür nötige Frauenstimmrecht eben erst 1971 eingeführt wurde. Der von Juristinnen und Rechtspsychologinnen verfasste Sammelband geht nun den für Frauen relevanten Veränderungen seit der Wahl der ersten Bundesrichterin nach, reflektiert und analysiert die Erfahrungen, Arbeitsweisen, beruflichen Schwierigkeiten und Bewältigungsstrategien der ersten drei Generationen von Schweizer Richterinnen; außerdem wird deren Beurteilung durch die Öffentlichkeit sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Richteramt thematisiert. Diskutiert wird abschließend die Frage, wo und inwieweit heute noch Unterschiede zwischen Richtern und Richterinnen aufgewiesen werden könnten.

„Ich bin nämlich grundsätzlich der Meinung, daß sich die Frau auf Grund der in ihrer Natur liegenden Eigenschaften auch dann, wenn sie einen sozusagen männlichen Beruf ausübt, in der Art der Ausübung dieses Berufes vom Mann unterscheiden wird. Ich möchte sogar noch weiter gehen und behaupten, daß sie sich unterscheiden muß, um letztlich nicht zu einer Karikatur ihrer selbst zu werden“ – so meinte 1968 eine der ersten österreichischen Richterinnen, die vom außerstreitigen Zivilverfahren (das man seit der Zulassung von Frauen zum Richteramt nach 1945 aufgrund seines „fürsorgerischen Charakters“ als ein der „besonderen Eignung der Frau“ entsprechendes Tätigkeitsfeld neben der Jugendgerichtsbarkeit erachtet hatte) zur Richterin im streitigen Verfahren aufgestiegen war. (Elisabeth Bauer: Die Richterin im streitigen und im außerstreitigen Verfahren. In: Beiträge zum Thema „Die Juristin in der Justiz“. Tagung des Bundesministeriums für Justiz am 29. und 30. 10 1968, Wien 1968, S. 15 f.) Auch im vorliegenden Sammelband werden die klassischen Geschlechterstereotype bzw. die ‚Natur der Frau‘ ins Visier genommen, sei es in der biographischen Eigenwahrnehmung von Richterinnen, sei es in der wissenschaftlichen Analyse des konkreten richterlichen Handelns von Frauen, wobei das dem Differenzfeminismus innewohnende Risiko zu Tage tritt, letztlich auch für die Affirmation tradierter Frauenbilder bzw. Bestätigung (neo-)konservativer Ideologien herangezogen werden zu können.

Die ersten drei Generationen

Der Sammelband geht auf ein am Kompetenzzentrum für Rechtspsychologie der Universität St. Gallen durchgeführtes Forschungsprojekt über „Berufsschwierigkeiten, Moraldilemmata und Bewältigungsstrategien von RichterInnen und RechtsanwältInnen“ zurück, in dessen Rahmen ein Seminar mit Begegnungen von Richterinnen der ersten Richterinnengenerationen mit jungen Juristinnen stattfand. Im ersten Teil des Buches werden zunächst die Erfahrungen der ersten drei Generationen von Richterinnen in der Schweiz aus historischer, rechtlicher und psychologischer Perspektive in der Form von autobiographischen Berichten vermittelt. Den Beginn macht dabei Margrith Bigler-Eggenberger, die im Jahr 1974 gewählte, erste und für 17 Jahre einzige Bundesrichterin in Lausanne. Sie schildert zum einen die Ausgangslage für Juristinnen in der Schweiz, den eigenen Karriereverlauf, den Kampf gegen Vorurteile und Anfeindungen seitens männlicher Kollegen sowie ihre Erfahrung, stets beweisen zu müssen, dass Frauen ebenso gute Arbeit wie Männer zu leisten im Stande sind. Zum anderen thematisiert sie den korrigierenden Einfluss von Richterinnen auf eine für Frauen ungünstige Judikatur, wie dies etwa hinsichtlich der Rechtsprechung die Lohngleichheit betreffend 1977 der Fall war. Bigler-Eggenberger, die von sich selbst sagt, dass sie „bewußt (ihr) ‚So-Sein‘ als Frau“ gepflegt und […] auch weitgehend durchgesetzt“ habe (S. 9), schließt mit der aus ihren Erfahrungen heraus durchaus verständlichen Hoffnung, dass „Richterinnen stolz darauf sind, als Frauen tatsächlich manchmal anders zu denken, zu fühlen und zu entscheiden und nicht einfach zu ‚anderen Männern‘ zu werden“ (S. 20).

Ebenfalls zur ersten Richterinnengeneration gehört Verena Bräm, die erste Oberrichterin in Zürich, die das gesellschaftliche und politische Umfeld der Richterinnen auf kantonaler Ebene erörtert und besonders auf die Schwierigkeiten für parteipolitisch wenig eingebettete und beruflich noch nicht so erfahrene Frauen eingeht, die mit dem Wahlmodus für das Richter/-innenamt und den Erwartungen der Öffentlichkeit an sie verbunden waren. Die zweite Richterinnengeneration wird von Martha Niquille-Eberle vertreten, die in ihrem Beitrag vor allem den Wunsch der Richterinnen nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch insbesondere Teilzeitarbeit thematisiert. Sie behandelt aber auch die modifizierten Wahlbedingungen für das Richteramt, die den Frauen zugute kamen und so eine Steigerung ihres Anteiles in der Richterschaft bewirkten.

Als Vertreterin der dritten Generation geht Angela Marfurt-Jahn der Frage nach, inwieweit mittlerweile für Frauen der gleiche Zugang zum Richterberuf und die gleiche Akzeptanz in diesem gegeben ist. Sie kommt dabei grundsätzlich zu einem positiven Resümee, wenngleich sie davon ausgeht, dass hinsichtlich der Präsidien der Gerichte die ‚gläserne Decke‘ für Frauen nach wie vor besteht. Sie fordert daher für die bessere Realisierung weiblicher Lebenskonzepte verstärkt staatliche Maßnahmen im Bereich der Kinderbetreuung. Den Frauen sollten aber „als Richterinnen in ihrem beruflichen Umfeld die weiblichen Komponenten [nicht] verloren gehen“, bliebe man doch auch „als Richterin eine Frau“ (S. 61). Revital Ludewig und Kathleen Weisgerber analysieren daran anknüpfend die Erfahrungen dieser und anderer Richterinnen generationenübergreifend und arbeiten zusammenfassend die Charakteristika der einzelnen Generationen heraus.

Richterinnen und Richter im Vergleich

Die folgenden fünf Beiträge sind der Frage gewidmet, ob hinsichtlich der Richter und Richterinnen eher die Differenz- oder die Ähnlichkeitshypothese vertreten werden kann (vgl. S. 101 ff.). Annegret Katzenstein setzt sich zunächst mit der Frage nach dem Bild der Richterin in der Öffentlichkeit sowie den gesellschaftlichen Erwartungen an Richterinnen auseinander und konkretisiert ihre Beobachtungen mit Beispielen aus der medialen Berichterstattung über Prozesse. Sie zeigt dabei, dass anders als bei männlichen Richtern Kritik an Urteilen von Richterinnen zur Kritik an den Richterinnen selbst wird, denen unterstellt wird, dass sie den am traditionellen Frauenbild orientierten gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprochen hätten. Christina Steiner untersucht, ob Richterinnen im Verfahren mediativer als ihre männlichen Kollegen vorgehen, wobei sie zum Ergebnis gelangt, dass hierfür die Generationenunterschiede unter den Richter/-innen maßgeblicher sind als das Geschlecht, wenngleich sie die Ansicht vertritt, „dass die mediative Art der Konfliktlösung Frauen und ihren Bedürfnissen besonders entgegenkommt, dass die Frauen ein besonderes Talent und Sensorium dafür haben“ (S. 130).

Ob Richterinnen anders entscheiden und Moraldilemmata anders erleben bzw. verarbeiten, analysieren Evelyne Angehrn und Revital Ludewig. Sie thematisieren dabei auch, ob sich Carol Gilligans These von der weiblichen Fürsorge- und der männlichen Gerechtigkeitsmoral auf Richterinnen und Richter übertragen lässt, wobei sie zum Schluss kommen, dass die Wahl der Moralperspektive jeweils von situativen oder persönlichen Faktoren abhänge und die Berufssozialisation darauf deutlich mehr Einfluss habe als das Geschlecht. Die hinsichtlich des Erlebens von Berufsschwierigkeiten und deren Bewältigung feststellbaren, marginalen geschlechtsspezifischen Unterschiede führen die Autorinnen auf das Maß der jeweiligen Identifikation mit dem Geschlechterstereotyp oder auf die unterschiedlichen Arten von Problemen und Belastungen zurück.

Regula Maag erörtert sodann aus psychologischer Sicht allgemein, ob Frauen Konflikte anders wahrnehmen als Männer und über andere bzw. zusätzliche Konfliktlösungsstrategien verfügen. Im letzten Beitrag beschäftigen sich Revital Ludewig und Kathleen Weisgerber auf der Grundlage von Interviews mit dem konkreten Erleben der Berufstätigkeit durch Richter und Richterinnen. Unterschiede stellen sie dahingehend fest, dass die Richterinnen zum einen subjektiv – jedoch nicht empirisch verifizierbar – davon ausgehen, sich in ihrer Berufsausübung anders zu verhalten als Männer, und zum anderen, dass sie nachweisbar die Erfahrung machen, aufgrund des Geschlechts diskriminiert zu werden.

Die Herausgeberinnen kommen zu dem Ergebnis, „dass sich Richter und Richterinnen in vielen Aspekten ähneln: beginnend bei der Integration von mediativen Aspekten in Vergleichsverhandlungen, über Berufsbelastungen wie Zeitdruck oder Umgang mit Parteien bis hin zur Anwendung von Bewältigungsstrategien für die Reduktion von Belastungen“ ( S. XVII). Gleichzeitig stellen sie aber auch „gewisse Unterschiede bei der Anwendung von einzelnen Bewältigungsstrategien […], beim Erleben von Benachteiligungen, bezüglich der Verbreitung von Teilzeitarbeit sowie insgesamt in Bezug auf die prozentuale Präsenz von Richterinnen und Richtern in den Gerichten“ (S. XVII) fest. Freilich liegen diese Unterschiede größtenteils nicht in einer anderen „Natur“ der Frau, sondern nach wie vor schlicht in gesellschaftlichen Erwartungen und Behinderungen sowie individueller Sozialisation. So gesehen ist den Herausgeberinnen voll zuzustimmen, dass zwar viel erreicht wurde, es aber „noch viel zu tun“ gebe (S. XVII). Ebenfalls zu leisten ist aber jedenfalls wohl auch, dass sich die Frauen selbst endgültig von dem stets hinter eigener Selbstwahrnehmung und juristischer Professionalität lauernden Geschlechterstereotyp lösen, wozu die Bewusstmachung der geschichtlichen Entstehungsbedingungen und Legitimationsfunktionen einer derartigen ‚typischen‘ Weiblichkeit bzw. ‚Natur‘ geboten erscheint. Wichtige Reflexionsanstöße dazu können Studien wie diese geben, zeigen sie doch am Beispiel der Richterinnen und Richter, dass die Differenz zwischen Männern und Frauen erheblich geringer ist als die zwischen den Individuen. So gesehen kann man die Ergebnisse der Studie auch als Absage an den Differenzfeminismus interpretieren.

Unzweifelhaft erscheint jedenfalls, dass die Beschäftigung mit der Geschichte der Richterinnen in der Schweiz längst überfällig war. Möge diese Initiative in Zukunft Vertiefung und auch Ausweitung, sowohl in thematischer als auch geographischer Hinsicht, erfahren.

URN urn:nbn:de:0114-qn092250

Ilse Reiter

Homepage: http://homepage.univie.ac.at/ilse.reiter-zatloukal/

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