Gönke Christin Jacobsen:
Sozialstruktur und Gender.
Analyse geschlechtsspezifischer Kriminalität mit der Anomietheorie Mertons.
Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008.
246 Seiten, ISBN 978–3–531–15577–7, € 29,90
Abstract: Die von der Verfasserin vorgenommene Bearbeitung der Anomietheorie des Soziologen Robert K. Merton zielt darauf ab, „relevante Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu finden, die den unterschiedlichen Anteil der Geschlechter bei der registrierten Kriminalität erklären können“ (S. 223). Dies gelingt insofern, als sie strukturelle Variablen herausarbeiten kann, die per se die Wahrscheinlichkeit von strafbarem Verhalten erhöhen. Das Geschlecht spielt dabei (nur) insofern eine Rolle, als der Frauenanteil in der besonders kriminalitätsgefährdeten Personengruppe geringer ist.
Am Beispiel der von Robert K. Merton im Jahre 1938 entwickelten Anomietheorie versucht die Verfasserin in ihrer im Wintersemester 2006/07 approbierten rechtswissenschaftlichen Dissertation deutlich zu machen, dass – was in feministischen Kreisen (jedenfalls mitunter) bestritten wird – auch mit konventionellen Methoden „geschlechtssensible Fragen“ beantwortet werden können. Das ist ein löbliches Unterfangen. Die Kernfrage, auf der fünf weiterführende und differenzierende Ausgangshypothesen (vgl. S. 35) aufbauen, ist wohl, ob das quantitative Phänomen der Frauenkriminalität – dass nämlich Frauen mit wesentlich weniger Straftaten registriert werden – durch ein an Merton angelehntes Anomiemodell erklärbar ist. Die Rückkoppelung zwischen einzelnen Variablen, insbesondere zwischen der sozialen und der kulturellen Struktur sowie dem sozialen Druck auf das Individuum, ist besonders wichtig für das Analysemodell, das Jacobsen ihrer Untersuchung zugrunde legt (vgl. die Graphik auf S. 30).
In Jacobsons Aufarbeitung der Anomietheorie, aus der sie fünf Kategorien ableitet – abweichendes Verhalten, soziale Kontrolle, kulturelle Struktur, soziale Struktur und sozialer Druck –, begegnet man allem Theoretischen und Empirischen, was insbesondere in die deutsche Diskussion um die Frauenkriminalität Eingang gefunden hat: dargestellt, kritisch hinterfragt und auf die eigene Fragestellung bezogen. So gewinnt man – praktisch nebenbei – auch einen guten Überblick über die diesbezügliche Forschungsentwicklung.
Im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand „Kriminalität“ als „Teilmenge des abweichenden Verhaltens“ (S. 44) wendet sich die Verfasserin ganz entschieden gegen den feministischen Ansatz, der „die Untersuchung von geschlechtsspezifischen Problemen als Geschlechtervergleich“ ablehnt (S. 58), und fordert, dass „das Bestreiten der Vergleichbarkeit von männlichen und weiblichen Verhaltensweisen aufgegeben“ werden müsse (S. 60). Dies ist aus der Sicht der Rezensentin ein konstruktiver Ansatz zur Überwindung der feministischen ‚Selbst-Beschränkung‘ (gemeint ist damit, dass Feministinnen durch ihr Theoriekonzept das, was sie an Ergebnissen erzielen können, möglicherweise selbst beschränken).
Dafür, dass Verbrechenskontrolle – synonym für strafrechtliche Sozialkontrolle – ein geschlechtsspezifischer Kriminalisierungsprozess sei, findet Jacobsen keine Anhaltspunkte; für eine mildere Sanktionierung von Straftäterinnen sind allgemeine Strafzumessungsparameter wie „niedrigere Vorstrafenbelastung, durchschnittlich geringerer Schaden, höherer Anteil von Beihilfehandlungen bei schwerer Kriminalität“ ausschlaggebend (S. 108).
Bestehen im Rahmen der kulturellen Struktur Geschlechtsunterschiede? Nicht beim Rechtsbewusstsein bzw. den Moralvorstellungen; die ‚weibliche Moral‘ ist für Jacobsen tatsächlich ein Mythos (vgl. S. 134, 146, 150). Bei der anwendungsorientierten Frage, „ob Frauen und Männer unterschiedliche Wertvorstellungen zum Ausgangspunkt ihres Verhaltens machen“ (S. 121), stellt die Verfasserin auf der Basis der analysierten Studien fest, dass insofern ein kleiner Unterschied zwischen den Geschlechtern bestehe, als Frauen idealistischen Werten mehr zugeneigt seien als – insbesondere junge – Männer, die moderne materialistische Werte (z. B. schnellen Erfolg, Macht, Vergnügen) höher bewerten, was mit einer geringeren Normakzeptanz verknüpft sei; Gemeinsamkeiten in der Wertorientierung der Geschlechter überwögen jedoch (vgl. S. 122 f., 150 f.).
Die Parameter Bildung und Erwerbstätigkeit sollen für Jacobsen Aussagen zur sozialen Struktur ermöglichen. Auf Grund der herangezogenen Studien stellt sich jedoch kein direkter Zusammenhang zwischen diesen Faktoren und Kriminalität heraus. Am Rande unterlaufen ihr bei der Wiedergabe der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung zwei Unkorrektheiten (vgl. S. 171): Zum einen war die Vergleichsgruppe nicht „unauffällig“, sondern stellte einen Querschnitt aus der adäquaten Durchschnittsbevölkerung dar, der 23,5% Vorbestrafte aufwies (Göppinger, Kriminologie, 6. Auflage, München 2008, § 3 Rn. 7); zum anderen dürfte es sich beim Vorwurf des Zirkelschlusses im Zusammenhang mit dem „Syndrom mangelnder beruflicher Angepasstheit“ um ein Missverständnis handeln (vgl. Göppinger, Angewandte Kriminologie, Berlin/Heidelberg 1985, S. 221 f.).
Bei der Frage, ob sozialer Druck zu konformem Verhalten (als Ausfluss der Mechanismen sozialer Kontrolle) bei den Geschlechtern unterschiedlich wirkt, kommt die Verfasserin – auf der Basis der sehr wichtigen Unterscheidung von Geschlechtsrollen und -stereotypien – zu dem interessanten Schluss, dass beide Geschlechter „nach Konformität mit der jeweiligen Geschlechterrolle“ streben: „Gewalthandeln erscheint vielmehr als rollenspezifischer Statuserhalt.“ (S. 221)
Aus der Verbindung der Untersuchungsergebnisse mit der Anomietheorie Mertons ergibt sich nach Jacobsen eine Personengruppe, die „durch eine hedonistisch-materialistische Einstellung und geringe Normenakzeptanz gekennzeichnet ist“ (S. 228) und die dadurch, dass sie diese Werte ihrem Rollenleitbild zugrunde legt, einem hohen Druck ausgesetzt wird. Sind diese Personen – insbesondere durch ihr Umfeld – sozial benachteiligt, steht ihre Wert- und Zielorientierung im Widerspruch zu den diesbezüglichen Verwirklichungschancen. In Verbindung mit geringer Normakzeptanz besteht die Gefahr illegaler Verhaltensweisen. Innerhalb der so charakterisierten Gruppe ist der Anteil der Frauen – und damit der Anteil an weiblicher Kriminalität – allerdings deutlich geringer als der der Männer.
So weit ist dieses Ergebnis in aufwändiger Detailarbeit abgeleitet und nachvollziehbar aufbereitet. Die Frage, warum Frauen in dieser Gruppe unterrepräsentiert sind, kann mit den in dieser Arbeit zur Verfügung stehenden Mitteln jedoch nicht beantwortet werden. „Hier müsste eine empirisch gesättigte Theorie der kulturellen Geschlechterdifferenz Modelle erarbeiten“ (S. 228), so lautet der ‚Auftrag‘ der Verfasserin. Gelänge dieses Unterfangen – ohne Zirkelschluss –, so wäre es wohl für verschiedenste Theorieansätze nutzbringend.
URN urn:nbn:de:0114-qn092286
Univ.Prof. Dr. Gabriele Schmölzer
Karl-Franzens-Universität Graz/Institut für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie
E-Mail: gabriele.schmoelzer@uni-graz.at
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