„Muttertag“

Rezension von Gunilla Budde

Marlene Zinken (Hg.):

Der unverstellte Blick.

Unsere Mütter (aus)gezeichnet durch die Zeit 1938 bis 1958. Töchter erinnern sich.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2007.

229 Seiten, ISBN 978–3–86649–136–6, € 19,90

Abstract: Mit kurzen Geschichten, Photos, Bildern und Gedichten versuchen die Autorinnen eine Annäherung an ihre Mütter zwischen den Jahren 1938 und 1958. Es geht ihnen darum, eine Frauengeneration die „Ehre“ zukommen zu lassen, die ihr in den Augen der Autorinnen – den Töchtern – zukommt. Wenig ‚redselig‘, wie die meisten waren, wenn es um sie selbst ging, müssen ihre Töchter zum Teil sehr mühsam Informationen zusammentragen. Es entsteht ein zum Teil sehr berührendes Panorama von starken und weniger starken Frauen, deren Positionierung zum politischen Kontext ihrer Zeit jedoch vielfach erstaunlich unklar bleibt.

Mütter’entdeckungen’

27 Lebensgeschichten, erzählt von Töchtern über ihre Mütter, konzentriert auf die zwei Jahrzehnte zwischen 1938 und 1958, angereichert mit zeitgenössischen Fotografien, Dokumenten und, jeweils den sieben Kapiteln vorangestellt, Kunstwerken und Gedichten aus weiblicher Feder: Kein Zweifel, die Autorinnen des von Marlene Zinken herausgegebenen Buches Der unverstellte Blick haben ein wichtiges Anliegen, es geht um eine „Herzensangelegenheit“ (S. 7). Und es sind in der Tat neue Töne, die hier von den Autorinnen, viele von ihnen aktiv in der Frauenbewegung engagiert, angeschlagen werden. Schließlich waren sie es, die in den 1970er Jahren eher schonungslos gerade mit ihren Müttern ins Gericht gegangen waren und ihre Lebensentwürfe bewusst als Gegenentwürfe zu denen der eigenen Mutter verstanden hatten. Kopfschüttelnd hatten sie registriert, dass die Generation ihrer Mütter, die während Krieg- und Nachkriegszeit so ungeahnte Kräfte zu mobilisieren verstanden hatte, nach Rückkehr der Männer offenbar anstandslos zurück in die zweite Reihe traten. Es erstaunt daher wenig, dass eben diese Frauen, nach einer kurzen Episode der „Entdeckung der Trümmerfrauen“ im Zuge von Erinnerungstagen, bislang eher ein Stieftochterdasein in der (Geschichts-)Wissenschaft gefristet haben. Auch sie, so die Herausgeberin, hätten „bewahrungswürdige Frauengeschichten – und damit Frauengeschichte“ geschrieben, die nun von ihren Töchtern weitergegeben werden solle (S. 7). Der Wunsch, der alle Autorinnen verbindet: den Müttern den Platz zu geben, „den sie in unserem historischen Gedächtnis verdienen“ (S. 12).

Müttergeschichten – Töchtergeschichten

Was sich vor der Leserin auftut, ist ein breites Spektrum von Lebensgeschichten, die sich in einem Punkt treffen: Alle die vorgestellten Mütter, die die schweren Zeiten zumeist äußerst eigenständig meisterten, gaben ihren Töchtern diesen Wert der Selbständigkeit mit auf den Weg, gepaart mit dem expliziten Auftrag, Bildungs- und Berufschancen mehr zu nutzen, als es den meisten von ihnen selbst möglich war. Von daher ist es auch spannend zu lesen, wie jeweils am Ende der Mütterbeschreibungen die Autorinnen ihren eigenen Werdegang, gleichsam als Rechenschaftsbericht, kurz skizzieren. „Meine Mutter hätte sich darüber gefreut“, (S. 192) lautet Annette Kuhns Fazit, und sie spricht damit aus, was bei allen anderen mitschwingt.

Wer waren diese Mütter, denen ihre Töchter mit diesem Band „Ehre“ erweisen möchten? Da war die junge Frau, die hochschwanger mit zwei kleinen Kindern – und einem Kindermädchen – aus Königsberg floh; da war die Jüdin, die versteckt in Holland überlebte, aber nach dem Krieg erfahren musste, dass zwei ihrer Töchter in Konzentrationslagern ermordet worden waren; da war die Prinzessin, die jung verheiratet auf Wolken gebettet über ihrem „Haushalt schwebte“ (S. 71), dann aber als Ehefrau eines Widerstandskämpfers mit ihren Kindern in ständiger existentieller Bedrohung leben musste (eine Geschichte, die nebenbei noch eine berührende Erklärung liefert, warum das Gros der Ehefrauen von Widerstandskämpfern Witwen blieben: Ein ‚Held‘ ließ sich nicht ersetzen, Verstöße dagegen endeten mit dem Ausschluss aus dem Kreis des Widerstands); da war die andere Ehefrau eines Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes, die, um ihre Töchter vor der Inhaftierung zu bewahren, das Versteck ihres Mannes preisgab und mit dieser ‚Schuld‘ nicht leben konnte; da war die habilitierte Historikerin, die aktiv in der französischen Résistance kämpfte, den verdienten Lohn jedoch nie bekam; da war die Mutter, die nach dem Krieg ihre vier Kinder ins Waisenhaus gab, um ihr Medizinstudium abzuschließen; und da war die „stolze Jüdin“, die 16-jährig als Krankenschwester „in den Ersten Weltkrieg zog“ (S. 184), für ihre Verdienste mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde, Altphilologie studierte, ihren Kindern eine heile Steifftierwelt schuf, mit viel Glück als Jüdin im Ausland überlebte und nach dem Krieg als engagierte „Brückenbauerin“ Opfer und Täter zusammenführte.

Mütter’bilder’

Das Panorama von Geschichten ist so vielfältig wie ihre Darstellung. Bei manchen Erzählungen ahnt man nur die Frau, der sie gelten, manche, vor allem diejenigen, die die Mütter selbst durch Tagebuchnotizen und Briefe zu Wort kommen lassen, rücken ihnen deutlich näher. Häufig dringen die Fotografien aus den Familienalben mehr in die Tiefe als die schriftlichen Ausführungen. Manchmal lassen sie den Atem stocken. Wie etwa die Bilder (S. 174) von wunderschönen, liebevoll aufgebahrten Kinderleichen im Sonntagsstaat, ein weiteres Kind auf dem Schoß einer offenbar vor Schmerz erstarrten Mutter: Eine Scharlachepidemie hatte ihr innerhalb kürzester Zeit vier Kinder genommen; kein Wunder, dass die überlebende Schwester als Mutter später bei Scharlach in eine für die Tochter damals unverständliche Panik verfiel. Unverständnis, Missverständnisse: Auch dies ist ein Topos, der sich durch einige der Geschichten zieht: Als Kinder und junge Frauen wusste man wenig über die Mutter, erst im Alter kam man zunehmend ins Gespräch, folgten Erklärungen für lange zurückliegende Erlebnisse, kam man sich näher.

Wir blicken in Abgründe, aber auch in scheinbar wenig spannende Alltage. Wir sehen ‚Heldinnen‘ und ‚ganz normale Frauen‘. Einige der Leben waren zutiefst geprägt von den Zeitumständen, andere verliefen „ganz unspektakulär. Und nicht untypisch für ein Frauenleben dieser Zeit“ (S. 110). „Sie wollte mehr und hatte das Zeug dazu“ (S. 124) ist ein Fazit, das über vielen dieser und vielen noch nicht erzählten Lebensgeschichten stehen könnte. Doch bei aller Bandbreite von Frauenbiographien, die sich auftut: eine Gruppe von Frauen, von Müttern, die es in der beschriebenen Zeit auch gegeben hat, kommt hier nicht vor: die ‚Täterinnen‘, die Frauen, die aktiv an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren. Will man nicht der These von Claudia Koonz‘ Buch Mütter im Vaterland folgen, wonach schon die Aufrechterhaltung des Familienalltags ein großes Stück weit Mitverantwortung bedeutete, dann findet man in dem vorliegenden Buch nur die eine, die ‚Opfer‘-Seite der Geschichte. Hier tritt nur die „betrogene Generation“ auf (S. 58), wie auch eine der Geschichten überschrieben ist. Allzu schnell, so hat man bei einigen Erzählungen den Eindruck, nehmen die Autorinnen ihren Müttern das ‚Unpolitische‘ ab, doch eher zu kurz kommt – sicherlich dem mütterlichen Schweigen über die Zeit entsprechend – letztlich die Haltung der Frauen zum Nationalsozialismus. Hier zeigt sich in diesem lesens- und sehenswerten Buch ein Schönheitsfehler: der Titel. „Unverstellt“ ist der Blick der Töchter auf die Mütter sicherlich nicht – wie könnte er auch.

URN urn:nbn:de:0114-qn092075

Prof. Dr. Gunilla Budde

Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg, Institut für Geschichte, Homepage: http://www.staff.uni-oldenburg.de/gunilla.budde/

E-Mail: gunilla.budde@uni-oldenburg.de

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