Georg Dörr:
Muttermythos und Herrschaftsmythos.
Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.
380 Seiten, ISBN 978–3–8260–3511–1, € 49,80
Abstract: Georg Dörr stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Mutter- und Herrschaftsmythos und spannt einen weiten philosophischen Bogen auf. Zu weit, denn die Untersuchung verliert sich in unverbunden und lose bleibenden Einzelheiten und in einer Anhäufung von Materialien und Zitaten, die nicht dazu genutzt werden, die Ausgangsfrage näher zu beleuchten.
Betrachtet man Fotos des Kosmiker-Kreises, aufgenommen in München um die (vorletzte) Jahrhundertwende, so sind nicht selten in griechische und römische Gewänder verhüllte Männer zu sehen. Auf den ersten Blick könnte man diese für bayerische Faschingsbilder halten, wären da nicht diese pathetisch und übertrieben stilisierten Blicke. Zudem lächelt niemand. An der Ernsthaftigkeit dieser Männer – mitten unter ihnen Stefan George – kann keineswegs gezweifelt werden. Es stand nichts weniger an als die Erschaffung und Neuordnung einer Religion, einer neuen Kultur und Zivilisation.
Georg Dörr erfasst in der vorliegenden Untersuchung zunächst das In- und Gegeneinander griechisch-römischer Antike- und Mythenrezeption der Kosmiker, ausgehend von Bachofen und Nietzsche. Der Autor versucht im Weiteren, die Absetzbewegung Georges aus dem Kosmiker-Kreis, vor dem Hintergrund seiner spezifischen Mythenrezeption, auszuweisen. Quer dazu formuliert Dörr den Anspruch, Mutter- und Herrschaftsmythos zu betrachten und geschlechtsspezifische Herrschaftsverhältnisse in der jeweiligen Religion deutlich zu machen. Schließlich soll die Einflussnahme des Kosmiker-Kreises auf die Frankfurter Schule, insbesondere auf Walter Benjamin und auf die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno verfasste Dialektik der Aufklärung beschrieben werden. Kurz und gut: Ein weites Feld soll abgeschritten, beschrieben und eingeordnet werden. Ob dabei nun zeithistorische, philologisch-literaturwissenschaftliche oder gar ideologiekritische Aspekte im Vordergrund stehen sollen, erschließt sich nicht unmittelbar. Angesichts der Fülle des zusammengetragenen Materials bleibt dies auch nicht weiter verwunderlich.
Von Johann Jakob Bachofen und Friedrich Nietzsche über Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer bis zu den Kosmikern Alfred Schuler, Karl Wolfskehl, Ludwig Klages und Ludwig Derleth (und ihren jeweiligen Bezugnahmen auf griechische und/oder römische Philosophie) werden Traditionslinien aufgespannt, die im Werke Stefan Georges zusammenlaufen sollen. Der philosophiegeschichtliche Rückgriff, gerade der Kosmiker, auf ausgewählte griechische und römische Themen taucht sowohl im Früh- als auch im Spätwerk Georges auf. Nach dem Abschied von den Kosmikern suchte Stefan George das ‚Geheime Deutschland‘ – v. a. bekannt durch die beiden Stauffenberg-Brüder – zu erschaffen. Die Bezugnahme auf die griechisch-römisch antike Philosophie war bei den Kosmikern und bei George allerdings eher ausschnittartig. Oft kreisten die Themen um Erde, Volk, Natur, Vergangenheit, Mythos, Mystik, Tod und um Homoerotik. „Georges Absicht ist es […], eine seinem mythischen Weltbild entsprechende lyrische Sageweise auszubilden. Da es in Deutschland keinen nationalen Mythos mehr gibt, braucht er, um diese lyrische Sprechweise einführen bzw. wiederbeleben zu können, seinen eigenen Maximin-Mythos, der aufs engste mit dem Begriff des ‚geheimen Deutschland‘ des verborgenen deutschen Gottes, verknüpft ist.“ (S. 325)
Die Untersuchung mündet schließlich im Werk Georges. In der Gesamtschau der zusammengetragenen Zitate werden die eingangs formulierten Fragestellungen aber stets nur angedeutet, rudimentär ausgeführt und kaum ideengeschichtlich oder (zeit-)politisch eingeordnet. Im Gegenteil: Am Ende stehen in loser Aufeinanderfolge Gedichtinterpretationen Georges, und obwohl die Kapitelüberschrift einen Blick auf die ‚Abschwächung des Herrschaftsmythos in Georges späten Gedichten‘ verspricht, handelt es sich eher um das Zusammentragen zentraler Motive Georges: Natur, germanische Mythologie, männlicher Geist und menschliche Kultur, Schöpfungsgedanken, Homoerotik. Wie die Kosmiker – und später dann Stefan George – Versatzstücke der griechischen (und auch der römischen) Philosophie rezipierten und wie diese in einen engen Zusammenhang mit der kommenden und angestrebten neuen deutschen Kultur gebracht werden sollten, findet sich kaum ausgeführt. Über weite Strecken werden eher nur Primär- und Sekundärliteratur wiedergegeben, was bei der Bandbreite des Themas zwar einen interessanten Ein- und Überblick erlaubt, aufschlussreicher wäre aber eine Herausarbeitung und Gegenüberstellung der verschiedenen Argumentationslinien, in denen sich einerseits die Kosmiker und anderseits George selbst einordneten. Damit käme nicht zuletzt die Ausgangsfrage nach dem Zusammenhang zwischen Mutter- und Herrschaftsmythos deutlicher in den Mittelpunkt der Untersuchung. Versatzstücke aus dem antiken Rom stehen zuweilen unverbunden neben Bezugnahmen auf die griechische Philosophie. Daneben werden aber auch Trennungslinien deutlich: Dem Maximin-Kult Georges unterliegt ein antik-religiöser Knabenkult aus römischer Kaiserzeit; in der Dichtung hingegen finden sich zuallererst klassisch griechische Elemente. „Im Grunde führt die Tradition, in der George sich sehen will, direkt bis in die Antike zurück. Die direkte Beziehung der deutschen zur griechischen Kultur ist, um es überspitzt auszudrücken, ein ideologisches Konstrukt, das schon Goethe pflegte und das zuletzt noch bei Heidegger überlebte.“ (S. 344) Genau diesen Zusammenhang auszuarbeiten und darzustellen, unterlässt die Untersuchung. Etliche Zitate werden zwar zusammengetragen, aber kaum schlüssig aufeinander bezogen – im Gegensatz zu der wohl als Standardwerk zu bezeichnenden Untersuchung von Stefan Breuer (Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995). Gerade die für Deutschland eigentümliche Verquickung von konservativ-revolutionärer Weltanschauung, die zuweilen ästhetisiert und oft kultur- und zivilisationskritisch unterlegt ist, übte eine nicht geringe Faszination auf zahllose Intellektuelle aus. Breuer fasst am Ende seiner Studie zusammen: „Der Dialektik der Aufklärung, die Rationalisierung in Mythos umschlagen lässt, korrespondiert eine Dialektik der Gegenaufklärung, die durch den Mythos die Rationalisierung befördert. […] Es ist diese Paradoxie, die dazu zwingt, am ästhetischen Fundamentalismus mehr die Unwahrheit als die Wahrheit zu betonen.“ (Breuer, S. 244) Breuer bestimmt damit das Verhältnis des George-Kreises (und erst recht der Kosmiker) zur Aufklärung und zur Emanzipation präzise. Dörrs These, Ludwig Klages habe die zentralen Thesen der Dialektik der Aufklärung gleichsam vorformuliert (vgl. S. 149), findet sich deshalb bei Breuer nicht. Adorno und Horkheimer weisen selbst auf den Doppelcharakter des Emanzipationsversprechens von Klages und George im Anhang zur Dialektik der Aufklärung hin: „Sie denunzierten nicht das Unrecht, wie es ist, sondern verklärten das Unrecht, wie es war.“ (Adorno/Horkheimer, S. 267) Ob in der Dialektik der Aufklärung „wissenschaftsgeschichtlich im Hinblick auf den Mythosbegriff längst überholte Schlachten geschlagen werden“ (S. 152), mag man nun nicht mehr allein der Beurteilung Dörrs überlassen.
Dennoch finden sich, allein schon aufgrund der Fülle an Material und Zitaten, Hinweise und Bemerkungen, die eine eingehendere Beschäftigung durchaus verdienen. „Die Faszination, die Benjamin im Gefolge der 68er Bewegung lange Jahre auf weite Teile der kritischen Intelligenz ausübte und noch ausübt, hat ihren Grund vermutlich darin, daß man bei ihm verbotene Früchte (Mythos, Mystik, Messianismus, Theologie, Aura) genießen konnte, ohne sofort in den Verdacht des Konservatismus zu geraten.“ (S. 126) – angesichts der aktuell hitzig geführten Debatten um ‚1968‘ eine durchaus interessante Anmerkung, aber solche finden sich eben selten und zudem über das gesamte Werk verstreut. Insgesamt referiert Dörr viel Primär- und Sekundärliteratur und stellt damit eine Art Familiengeschichte der Kosmiker und des Kreises um Stefan George dar. Lieblos wirkt am Ende das letzte Kapitel, in dem noch rasch auf wenigen Seiten die Heidegger-Interpretation Georges wiedergegeben wird. Inhaltlich Entscheidendes verbleibt so stark im Hintergrund: Linien, die aufzuzeigen und auszuführen wären, werden nur schwach angedeutet. So werden die Herrschaftsimplikationen in der griechisch-dionysischen und in der römisch-apollinischen Linie nicht klar und deutlich benannt, die Rolle der Homoerotik in Georges Werk ist sicherlich nicht alleine auf Erotik zu reduzieren, Homoerotik in Männerbünden keineswegs überraschend (vgl. S. 298). Genau das der Untersuchung vorangestellte Zitat Georges („…Das weib / gebiert das tier, der mann schafft mann und weib“) böte hier entscheidende Kritikpunkte einer Traditionslinie, die vom Gegensatz zwischen männlichem Geist und weiblicher Natur ausgeht.
URN urn:nbn:de:0114-qn092196
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