Frank Lettke, Andreas Lange (Hg.):
Generationen und Familien.
Analysen – Konzepte – gesellschaftliche Spannungsfelder.
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007.
399 Seiten, ISBN 978–3–518–29411–6, € 14,00
Abstract: Der Sammelband Generationen und Familien, welcher dem Soziologen Kurt Lüscher zum 70. Geburtstag gewidmet ist, stellt eine kritische Gegenwartsdiagnose des aktuellen Theorie- und Forschungsstandes zu diesem Thema dar. Schon in ihrem Vorwort machen die beiden Herausgeber auf die Diversität und den Facettenreichtum des Familien- und Generationenkonzeptes in modernen Gesellschaften aufmerksam: familiale Generationenbeziehungen werden in ganz unterschiedlicher Weise gelebt, und je nach theoretischer Lesart ergeben sich vielfältige Deutungsmuster. Die Beiträge nähern sich der Verflechtung von Familie, Generation und Gesellschaft sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht. Inhaltlich reihen sie sich in drei übergeordnete Themenblöcke ein: „Generationen, Generationenverhältnisse und Generationenbeziehungen“, „Familie, Alltag und Identität“ und „Soziologie, Recht und Politik“.
Im einführenden Aufsatz setzen die beiden Herausgeber auf eine neutrale Betrachtungsweise eines erweiterten Familienbegriffs: Eine aktive Rollengestaltung der einzelnen Mitglieder und deren subjektive Familiendefinitionen lassen in sozialer Hinsicht vielfältige Familienkonstellationen zu, während der Anstieg der Lebenserwartung in zeitlicher Dimension dazu führt, dass Lebensabschnitte von Familienangehörigen länger begleitet werden und es so zu Veränderungen des Familien- und Generationengefüges kommt. Als dritte und letzte Erweiterung von Familie konstatieren die Autoren eine sachliche; hier steht die zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit im Vordergrund. Die Ausweitung und Verflechtung dieser drei Ebenen kann leicht zu Ambivalenzen führen, wenn ein breites Beziehungsgefüge und Multilokalität angesichts begrenzter Zeitressourcen mit den Anforderungen enger sozialer Beziehungen konfligiert.
Der erste thematische Abschnitt nähert sich dem Generationenkonzept anhand verschiedener Diskurse um Identifikation, Lernen, Vererben und Erben sowie um die Eltern-Kind-Beziehung, wobei in den Beiträgen die Bedeutung von Ambivalenz für die Beschreibung des Beziehungsgefüges betont wird.
Martin Kohli geht dem Generationenbegriff in historisch-identifikatorischer, interessensbezogener und in familialer Hinsicht auf die Spur. Im Zuge von Individualisierungsprozessen evozieren die unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen der Kinder- und Elterngenerationen Ambivalenz. Generation muss als eine Zuschreibungskategorie und identifikatorische Symbolstruktur aufgefasst werden, wenn Mobilisierung als Voraussetzung innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Sphären und der daraus resultierenden Überlagerungen und Konfliktpotentiale mitgedacht wird.
Ludwig Liegle behandelt die Bedeutung des Generationenlernens, welches er als Konzept individueller Prozesse des Lernens von Handlungsfähigkeit und zugleich als Aneignung und Tradierung von Kultur beschreibt. Der Autor argumentiert entlang der Prämisse, dass es eine Institution des Generationenlernens geben muss, „die allen Heranwachsenden ein Verständnis der genannten komplexen Zusammenhänge nahe bringen und ihnen eine von bestimmten Wertprämissen ausgehende Orientierung für eine aufgeklärte und verantwortungsvolle Lebensführung geben kann“ (S. 71). Mit dem Recht auf Bildung eröffnet sich somit ein universelles Gedankengut, das die Weltgesellschaft überhaupt erst denkbar macht.
Im folgenden Beitrag stellt Frank Lettke die Bedeutung des Vererbens als vernachlässigtes soziologisches Phänomen heraus. Anhand einer empirischen Analyse zeigt der Autor, dass die gesetzliche Erbfolge als Grundmuster für die Vererbungspraxis fortbesteht und die Ehe damit trotz einer Vielzahl bestehender Familienformen deren zentraler Einflussfaktor und Koordinator bleibt. Lettke spricht daher von einer „Institutionalisierung generationaler Kontinuität und Identität“ (S. 123), um auf die Bedeutung historischer, sozialer und familialer Veränderungsprozesse aufmerksam zu machen, mit denen Vererbungsmuster und -praktiken in einer dynamischen Wechselbeziehung stehen.
Der Aufsatz von Karl Pillemer und Katrin Müller-Johnson zielt auf eine neue Konzeptualisierung von Ambivalenz als zentrale Kategorie von Intergenerationenbeziehungen zwischen alternden Eltern und erwachsenen Kindern, die durch die Gleichzeitigkeit negativer als auch positiver Emotionen gekennzeichnet ist. Diese „Intergenerationsambivalenz“ (S. 133) ist einerseits durch die soziale Struktur und andererseits durch Ambivalenzen auf subjektiver Ebene gekennzeichnet. Hinsichtlich der Messung von Intergenerationsambivalenz stellt sich hierbei für die Forschung die interessante Herausforderung, über eine verbreitete bipolare hin zu einer mehrdimensionalen Erfassung von Einstellungen und Emotionen in Bezug auf denselben Sachverhalt bzw. dieselbe Person zu gelangen.
Vom Konzept der Generationen ausgehend widmet sich der nächste übergeordnete Abschnitt einer Bestandsaufnahme der Familienforschung und der Analyse von Lebensformen, Vereinbarkeit und generativer Identität.
Wolfgang Lauterbach geht unter dem Aspekt einer generellen Individualisierung des Jugendalters und einer Pluralisierung der Lebensformen der Frage nach den Bedingungen für oder gegen eine partnerschaftliche Lebensform auf den Grund. Eine empirische Längsschnittstudie konnte zeigen, dass der Single-Status bei Jugendlichen eine unbedeutende Rolle spielt, da die meisten Partnerschaften eingehen und nur in begrenzten Zeiträumen als Single leben. Von einer bindungs- bzw. partnerlosen Gesellschaft, wie es in den 1980er und 1990er Jahren häufig postuliert wurde, kann daher keine Rede sein.
Trudie Knijn, Ilona Ostner und Christoph Schmitt greifen in ihrem Aufsatz ein Forschungsdesiderat auf, indem sie das Ausmaß und die Ursachen männlicher Kinderlosigkeit im Zuge des demographischen Wandels in Augenschein nehmen. Auch hier wird das Konzept der Ambivalenz als fruchtbar bei der Untersuchung männlicher Einstellung zur Vaterschaft und zum Kinderwunsch angesehen, um die Konflikthaftigkeit und Zweideutigkeit dieser Entscheidung für oder gegen Kinder, die einerseits einen hohen emotionalen Wert bedeuten, andererseits aber auch die Struktur der Partnerschaft verändern, zu erfassen.
Im Beitrag von Andreas Lange und Peggy Szymenderski wird die „harmonisierende Redeweise von der Vereinbarkeit“ (S. 223) von Beruf und Familie als Euphemismus entlarvt, da gesellschaftliche Rahmenbedingungen Widersprüche hervorbringen, die der emotionsbehafteten Verbindung von Familien- und Berufsarbeit entgegenwirken. Auch die Auswirkungen wirtschaftlicher Entgrenzungstendenzen erfassen die Familie, da Erwerbsarbeit und private Lebensführung sich zunehmend verschränken, wovon vor allem Frauen betroffen sind. Eine besondere Bedeutung gewinnen emotionale Prozesse für die familiale und berufliche Lebensführung und für individuelle Bewältigungsstrategien von Vereinbarkeit.
Amelie Burkhardt, Brigitte Rockstroh und Karl Studer machen auf ein Manko innerhalb der klinischen und pflegewissenschaftlichen Forschung aufmerksam, welche das Generationenlernen entweder als negativeoder positive Generativitätdiskutiert. Das Ambivalenzkonzept Kurt Lüschers könnte dabei als analytisches Forschungskonstrukt zur Deutung von Eltern-Kind-Beziehungen psychisch Kranker diese beiden polaren Ebenen zusammenführen.
Der Beitrag von Matthias Grundmann und Dieter Hoffmeister behandelt mit den Kriegskindheiten eine Generation, die durch das einschneidende biographische Erlebnis einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund aufweist, der aber von Widersprüchen und von doppelter Ambivalenz gekennzeichnet ist. Kollektive Ambivalenzerfahrungen sind auf unterschiedlichen analytischen Ebenen miteinander verwoben, ohne dass sie zwingend bestimmte Deutungs-, Denk-, Orientierungs- und Handlungsmuster hervorbringen. Die hier zu interessierenden soziologischen Fragestellungen richten sich vielmehr an die daraus hervorgegangenen Selbstbilder und die unterschiedlichen Bewältigungsstrategien von Ambivalenzen.
Der letzte thematische Abschnitt rückt Generation und Familie stärker in einen analytisch-methodischen und disziplinären Kontext.
In einem Überblick zu verschiedenen Funktionsleistungen von Familie weist Max Wingen insbesondere auf Leistungsbehinderungen und -grenzenhin, welche nur durch eine verantwortungsbewusste Sozialordnungspolitik, die Familienbedürfnisse stärker in das Konzept der sozialen Marktwirtschaft integriert, behoben werden können.
Franz-Xaver Kaufmann diskutiert Urie Bronfenbrenners Ansatz zur sozialökologischen Sozialisationsforschung sowohl in der wissenssoziologischen Perspektive Kurt Lüschers als auch in seiner eigenen sozialpolitischen Sicht. Der Autor macht auf die Problematik der Zusammenführung makro- und mikrosoziologischer Betrachtungsweisen in der Familien- und Sozialisationsforschung aufmerksam, wobei er auf eine Vermittlung dieser beiden Ansätze in einem mehrebenenanalytischen Modell setzt, welches „die spezifischen systemischen Eigenschaften bestimmter Untersuchungsobjekte, auch im theoretischen und methodischen Ansatz berücksichtigt“ (S. 328).
Lothar Krappman stellt in seinem Beitrag zunächst den Bezugsrahmen einer Sozialpolitik für das Kind nach Kurt Lüscher (1979) vor, dem es daran gelegen war, zu betonen, dass „Kinder selber als unmittelbare Adressaten der Sozialpolitik begriffen werden müssen“ (S. 337). Krappmann hebt hierbei die Wichtigkeit weiterer praktischer Ausgestaltung des Rahmenwerkes Lüschers hervor, welche die aktive Rolle des Kindes als Subjekt und parallel dazu im Verhältnis zu seinem sozialen Umfeld herausstellt.
Michael-Sebastian Honig richtet sich mit der Leitfrage „Kann der Ausbau institutioneller Kinderbetreuung das Vereinbarkeitsproblem lösen?“ auf eine familienpolitische Debatte, welche einstimmig die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fordert. Anhand empirischer Ergebnisse zieht er den Schluss, dass es sowohl von den unterschiedlichen Zeitregimes als auch von den Erwartungen der Eltern an ein Familienleben abhängt, ob eine Vereinbarkeit möglich ist oder nicht. Da das Vereinbarkeitsproblem kein pragmatisches sei, kann es nur individuelle Bewältigungsstrategien nach sich ziehen, weswegen der Autor für eine genuine Forschungspraxis im Sinne einer die Position der Kinder einnehmende Analyse der Betreuungsverhältnisse plädiert.
Im letzten Beitrag setzt Alois Hahn einen philosophischen Schlusspunkt unter den inhaltlichen Diskurs des Bandes. Anhand Sokrates´ Dialogen in Platons Politeia durchstreift er philosophische Modelle utopischer und idealer Familienordnungen und verbindet sie mit heute noch aktuellen Diskursen.
Dieser Sammelband ist ein bedeutender Beitrag zu aktuellen Diskursen, wie um die Krise der Familie oder das Ende des Generationenvertrages. Kurt Lüschers Modell generationaler Ambivalenz wird in einigen Beiträgen unter verschiedenen Perspektiven mit Recht als analytisch wertvolles Konzept diskutiert und gewürdigt. Sowohl theoretisch als auch methodisch liefert der Band neue Inspirationen und Möglichkeiten für weitere Forschung, in der gerade im Hinblick auf die Strukturierung der mehrdimensionalen Verflechtung und Diskurse von Generation, Familie und Gesellschaft noch erheblicher Entwicklungsbedarf besteht.
URN urn:nbn:de:0114-qn092060
Vera Bollmann, M. A.
Hochschule Vechta, Institut für Bildungs- und Sozialwissenschaften, Homepage: http://www.uni-vechta.de/ibs/sozialwissenschaften/160.html
E-Mail: vera.bollmann@uni-vechta.de
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