Torsten Junge, Imke Schmincke (Hg.):
Marginalisierte Körper.
Beiträge zur Soziologie und Geschichte des anderen Körpers.
Münster: Unrast-Verlag 2007.
226 Seiten, ISBN 978–3–89771–460–1, € 14,00
Abstract: Für Arbeitsprozesse werden Körper normiert, um sie bestmöglich und gewinnbringend verwerten zu können. Sie sollen funktionieren – tun sie es nicht, stehen sie am Rand. Aber auch im Konsum- und Freizeitbereich werden Normen gesetzt – nicht von einer „repressiven Macht“, sondern durch die Mitwirkung aller Beteiligten. Ausgehend von einer insbesondere Foucault’schen Perspektive setzen die Beiträge des Sammelbandes einige an den Rand gedrängte Körper ins Licht. Mit welchen körperlichen Merkmalen wird man an den Rand gedrängt? Welche körperlichen Merkmale werden darüber hinaus eigens erdacht, um antisemitische, rassistische, sexistische Ausschlüsse zu vollziehen? Dieses Buch bietet lesenswerte historische und aktuelle Einblicke an; geschrieben sind sie zumeist von lange an entsprechenden Thematiken arbeitenden Wissenschaftler/-innen, von deren Arbeiten die Lesende hier knapp gefasst partizipieren kann.
„Noch lebend werden sie im Operationssaal für die Entnahme vorbereitet. Zwei Minuten nach Herzstillstand wird der (Herz)Tod erklärt, 15 Sekunden später ist das Team zur Stelle und nach 20 Minuten sind Nieren und Lebern entnommen.“ (S. 210) Im letzten Beitrag des Bandes (S. 205 ff.) widmet sich E. Feyerabend der Verwertung und der Vermarktung von Körpern und von Körperstoffen. Körperorgane, Körpergewebe und Eizellen werden unter invasiven Maßnahmen gewonnen, eine ganze Industrie hat sich etabliert, um Körper, die Menschen freiwillig oder unfreiwillig zur Verfügung gestellt haben, abzuschöpfen: kapitalistische Verwertungslogik.
Das angeführte Zitat bezieht sich auf Menschen, die nicht mehr leben wollen, die aufgrund von Multipler Sklerose oder von Atemwegs- und Herzerkrankungen angefragt haben, lebensverlängernde Maßnahmen abzubrechen, und die den Körper zur Organentnahme bereitstellen. Dies bringt einen weiteren Zugang zum Band: welche Menschen, und aus welchen Gründen ziehen Menschen aufgrund ihres Körpers den Tod dem leidvollen Leben vor? Welche Körper werden hingegen als reparabel begriffen, welche Voraussetzungen werden an diese geknüpft?
Welche Körper mit welcher Wertigkeit versehen wurden, welche marginalisiert, ausgegrenzt wurden, sind die thematischen Fragen des Bandes, der – und dies sei kurz vorangestellt – aus verschiedenen Blickwinkeln einen lesenswerten Zugang zu Körpern bietet. Mit Bezügen zu M. Foucault (Bio-Politik, Technologien des Selbst), J. Butler (Performative Hervorbringung von Materialität) und P. Bourdieu (Habitus-Begriff) werden Bedeutungen des Körpers in seiner Materialität in den Blick genommen. Dies geschieht entlang aktueller Problematisierungen und historischer Zugänge. I. Schmincke stellt in einem einführenden Beitrag dar, dass jede Gesellschaft „außergewöhnliche Körper“ bzw. „marginalisierte Körper“ hervorbringe. Schmincke arbeitet heraus, dass Norm und Ausgrenzung konstituierende Faktoren (bisheriger) gesellschaftlicher Ordnungen sind (S. 11 ff.). A. Waldschmidt wählt im Anschluss „behinderte Körper“, um deutlich zu machen, dass „außergewöhnliche Körper“ zwar gesellschaftlich problematisiert werden, in der Körpersoziologie hingegen „behinderte Körper“, als solche „außergewöhnlichen Körper“, keine oder nur unzureichende Beachtung finden (S. 27 ff.).
U. Klöppel, K. Höldl, J.-R. Berg, H. Stoff, M. Möhring und S. Lewerenz stellen aus einer historischen Perspektive, insbesondere mit Rekurs auf M. Foucaults „Bio-Politik“, heraus, welche Körper historisch – insbesondere im 19. Jh. und Anfang des 20. Jhs. – problematisiert wurden. Geschlecht, Religion, Herkunft (die durch Zuwanderung als bedrohlich empfunden wurde) und Alter waren konstituierende Faktoren, die Körper kennzeichneten und die einer genaueren Untersuchung für wert befunden wurden. Uneindeutiges Geschlecht wurde genutzt, um (europäische) Männer mehr noch als (europäische) Frauen für höherwertig zu erklären und deren Eigenschaften, ausgehend von Untersuchungen des „außergewöhnlichen Körpers“, festzuschreiben (Klöppel, S. 45 ff.). „Körper“ jüdisch glaubender Männer wurden in androzentrisch geprägter Gesellschaft als abgewerteten „weiblichen Körpern“ ähnlich konstituiert (Höldl, S. 63 ff.). Hingegen variierte das Bild der Abweichung bei insbesondere aus Osteuropa in die USA Zugewanderten. Wurden sie mal als bedrohlich aufgrund „muskelbepackter Männlichkeit“ und „Grobschlächtigkeit“ gesehen, wurde an anderer Stelle deren „schwächliche Konstitution“ beklagt (Berg, S. 79 ff.). In jedem Fall galten sie als schmutz- und krankheitsbringend und waren damit für die bereits fertig migrierte US-amerikanische Mittelschicht-Bevölkerung bedrohlich; gleichzeitig erschienen sie durch gesunde und reinliche Lebensweise kurierbar (S. 87 f.).
Fortschreitendes Alter wurde um 1900 nicht als Kennzeichen für zunehmende Gelehrigkeit und Welterfahrung empfunden, vielmehr galt es als Inbegriff von Degeneration und Leistungsabfall, die das produktive Leben jeder und jedes Einzelnen und insbesondere die Gesellschaft in ihrem Bestand bedrohten. Alternde griffen zu Verjüngungsmitteln, Noch-Jüngere diskreditierten diese Maßnahme als „das Leben streckend“ und das eigentliche Alter „übertünchend“, wobei sie ihre eigene „jugendliche Frische“ für die Alternden als ohnehin nicht erlangbar herausstellten (Stoff, S. 97 ff.).
Das Anreizen zu Ab- und Ausgrenzungen von Menschen im Lebensalltag arbeiten Möhring und Lewerenz anschaulich heraus. Möhring stellt die FKK-Bewegung nach 1900 dar und führt aus, dass deren Vertreter/-innen, trotz der Annahme gesundheitsfördernder Wirkungen von FKK, diskutierten, ob auch „nicht so schöne Körper“ daran teilnehmen, oder ob diese sich besser weiter verhüllen sollten (Möhring, S. 117 ff.). Rassistische Abgrenzungen durch Völkerschauen, die Interessen an der Teilnahme seitens der Zuschauenden bzw. Darstellenden sowie gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessen an der Förderung der Völkerschauen und schließlich an deren Schließung hält Lewerenz fest (S. 135 ff.).
Nach diesen historischen Perspektiven, die den Schwerpunkt des Bandes darstellen, schließen sich Beiträge zur aktuellen Problematisierung von Körpern an. Ausgehend von der Männlichkeitsforschung arbeitet J. Budde heraus, welche „männlichen Körper“ als abweichend und damit nicht mehr einem Männlichkeitsideal entsprechend gelten und welche Reaktionen dies zur Folge haben kann. Männlichkeit wird als labil herausgestellt, so dass sie in sozialen Aushandlungsprozessen, auch durch Abwertung anderer, der Stabilisierung bedarf (S. 155 ff.). T. Junge nimmt die Reproduktions- und Genmedizin in den Blick und macht deutlich, dass in dieser eine Unterscheidung „normaler“ und „unnormaler Körper“ vorausgesetzt und forciert wird. Abweichungen stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und treiben auch (jede) selbst zur Sorge um sich und zu Gedanken der Verantwortung für den „eigenen Körper“ an (S. 171 ff.). C. Ullrich stellt dar, wie im Behandlungsprozess ungewollter Kinderlosigkeit Körper in den Blickpunkt gerückt, Patientinnen konstituiert und Patientinnen zur Selbst-Verantwortlichkeit im Behandlungsprozess angehalten werden. Damit wird die Krankheitsdiagnose inkorporiert (S. 187 ff.). Der eingangs beschriebene Beitrag Feyerabends schließt den Band mit verwertungskritischen Gedanken ab.
Ansonsten abstrakt erscheinende performative Herstellung von Materialität wird in diesem Band anschaulich. Die Beiträge stellen vielfältige historische und einige ausgewählte aktuelle Beispiele als „außergewöhnlich“ bzw. „marginalisiert“ betrachteter Körper – im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext – zusammen. Sie geben gute Einblicke in die Herstellung „des Anderen“, in die Einschreibungen in deren Körper und in die (Selbst)Verortung der verbliebenen, bzgl. der jeweiligen körperlichen Merkmale sich als „normal“ betrachtenden Masse, – „Normalität“ wird über „Abweichung“ konstituiert.
Kritisch anzumerken ist (nicht viel): (1) In den historischen Beiträgen kommt – wie mit einseitiger Foucault’scher Rezeption fast unumgänglich – die Bedeutung der Schichtenzugehörigkeit der Bevölkerung zu kurz. „Bio-Politik“, im Sinne von Technologien insbesondere zur Gesunderhaltung, betraf praktisch zunächst die Ober- und die Mittelschicht. Untere Schichten vegetierten noch bis in das 20. Jh. bei schlechter Gesundheit, Ernährung und materieller Stellung, entsprechend ist die Erfassung Letzterer durch „Bio-Politik“ als praktisch sehr beschränkt zu betrachten (in Diskursen tauchten sie hingegen auf). (2) Postulate der Gleichheit sind zu ergänzen. Zu den weitreichenden Beschreibungen von Differenzen, aufgrund welcher Merkmale auch immer, gab es intensive Gegenbewegungen, die in den aktuellen Betrachtungen – das zeigt sich auch in diesem Band – unterbelichtet sind. Lediglich Berg nimmt eine diesbezügliche Positionierung ein (S. 84), ohne sich allerdings selbst auch Gleichheitspostulaten zuzuwenden.
URN urn:nbn:de:0114-qn092312
Heinz-Jürgen Voß
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