Rita Casale, Barbara Rendtorff (Hg.):
Was kommt nach der Genderforschung?
Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung.
Bielefeld: transcript-Verlag 2008.
264 Seiten, ISBN 978–3–89942–748–6, € 26,80
Abstract: Der Frage, ob die Kategorie ‚Gender‘ ausgedient hat oder weiter ertragreich genutzt werden kann, stellen sich die Autorinnen und Autoren des Bandes in einem von Erziehungswissenschaftler/-innen veranstalteten „Interdisziplinären Gespräch“. Eine Bestandsaufnahme der feministischen Theoriebildung wird vorgenommen und – durchaus vorhandene – neue Perspektiven werden aufgezeigt und diskutiert. Ein spezifisch erziehungswissenschaftliches Profil im Kontrast zu den Beiträgen aus Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte wird allerdings nicht deutlich.
Die Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft lud anlässlich ihrer Jahrestagung 2007 zu einem „Interdisziplinären Gespräch“ ein. In offenem Austausch sollten eine kritische Bilanz der Genderforschung im Hinblick auf Theorien, Methoden und politischen Stellenwert gezogen und neue Perspektiven aufgezeigt werden. Daraus ist ein Sammelband entstanden, dessen Anliegen die Herausgeberinnen Rita Casale und Barbara Rendtorff darin sehen, „die Debatten […] zusammenzuführen, zu gegenseitiger Anregung.“ (S. 9) Der Band versammelt elf Aufsätze sowie sechs Kommentare, die Erziehungswissenschaftler/-innen zu einigen Beiträgen aus den anderen Disziplinen formulieren – fachintern wird also nicht kommentiert.
Die Titelfrage veranlasst die Historikerin Claudia Opitz im ersten Beitrag des Bandes zu der Feststellung „Nach der Gender-Forschung ist vor der Gender-Forschung“. (S. 13) Die Autorin arbeitet sich hauptsächlich an den Ausführungen Joan Scotts ab, die sich in den 1980er Jahren für den Begriff ‚Gender‘ eingesetzt hatte, aktuell aber den Nutzen dieser Kategorie bestreitet. Opitz sieht eine „Geschichtsvergessenheit“ (S. 13) in der neueren Geschlechterforschung und beklagt den Verlust des Forschungsgegenstandes ‚Frau‘ wie auch die „Entkoppelung von feministischer Forschung und Bewegung“ (S. 22), die mit der institutionalisierten postmodern-kritischen Selbstreflexion in Sachen Gender einhergehe. Pia Schmid hält in ihrem Kommentar dagegen: Ihrer Meinung nach lässt sich für die erziehungshistorische Genderforschung keine derartige theoretisch grundlegende Infragestellung ihrer Kategorien feststellen, vielmehr habe sie „beachtliche Ergebnisse“ aufzuweisen und biete der Pädagogik damit „geschlechterhistorisches […] Reflexionswissen“ (S. 31) an.
Was bei Opitz implizit bleibt, wird von der Soziologin Gudrun-Axeli Knapp explizit an den Kämpfen im Wissenschaftsbetrieb ausgearbeitet: Unter kapitalistischen Verwertungszwängen würden in immer schnellerer Folge neue Begriffe auf den Markt geworfen, es sei kaum mehr möglich, sich auf Bildungsprozesse einzulassen. Dies verdeutlicht sie anhand des Konzeptes von „Intersectionality“, das sie inhaltlich dennoch als vorantreibend ansieht, da es ein „einfaches Label für eine weitreichende Programmatik“ (S. 43) sei, die die komplexen Zusammenhänge von sex-gender/race/class etc. zu erhellen versuche. In ihrem Kommentar kritisiert Helga Kelle das Fehlen „konkretere[r] methodologische[r] Hinweise“ (S. 55). Aus der Perspektive der Erziehungswissenschaft plädiert sie dafür, „Alter als Kategorie der gesellschaftlichen Ordnung“ (S. 57) und damit die generationale Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen mit in die Analyse von Herrschaftsverhältnissen einzubeziehen.
Unter diesem Aspekt generationaler Differenz (hier: zwischen Lehrenden und Studierenden) lässt sich der Beitrag von Silvia Kontos lesen, die ähnlich wie Opitz befürchtet, dass der „Forschung zur Frauenbewegung […] ihr Gegenstand abhanden zu kommen“ (S. 60) droht. Sie beschreibt ein in Zusammenarbeit mit Michael May durchgeführtes Genderseminar für Studierende mit dem Titel „Männer als Minderheit“, das äußerst konflikthaft verlief. Über den konfrontativen Nachvollzug der historischen feministischen Entwicklungen sei das Ziel, Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen zu reflektieren und zu verändern, gerade nicht erreicht, sondern verhindert worden. Abschließend plädiert Kontos für eine „subversive Schizophrenie“ (S. 75) und meint damit den Spagat zwischen der Beibehaltung eines politischen Subjekts ‚Frauen‘ und dessen Dekonstruktion. Bettina Dausien würdigt in ihrem Kommentar vor allem Kontos’ Ausführungen zur Passung von dekonstruktiver Theorie mit der neoliberalen Flexibilisierung der Subjekte und sieht ähnliche Zusammenhänge bei der aktuell favorisierten Idee selbstorganisierten Lernens. Eine differenzierte Kritik aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive entfaltet die Kommentatorin in Bezug auf das geschilderte Genderseminar – was leicht ist, da Kontos die Schwierigkeiten mit großer Offenheit dargelegt hat, wofür ihr zu danken ist – und nutzt diese zugleich, um eine bildungstheoretische Perspektive zu entwickeln, die Identität nicht normativ setzt, sondern „über eine historisch-empirisch fundierte Theoriebildung im Modus der Rekonstruktion“ (S. 80) zu erforschen sucht.
Die Bildungshistorikerin Juliane Jacobi stellt die feministische Wissenschaftskritik als einen der „produktivsten intellektuellen Ansätze […] in den letzten vierzig Jahren“ (S. 85) heraus und betont, dass die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung „extrem relevant“ (S. 84) für deren weitere Entwicklung und für die Einflussnahme auf den Mainstream der erziehungswissenschaftlichen Diskussion sei. Stellvertretend dafür nimmt sie die Berichte des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Berlin) in den Blick und untersucht, inwieweit dort seit 1979 Geschlechterfragen aufgenommen wurden. Ihre Bilanz ist ernüchternd bis bitter und legt sogar den Schluss nahe, dass die Geschlechterdimension in der Erziehungswissenschaft nicht nur nicht etabliert ist, sondern die wenigen Ansätze ihrer Aufnahme bereits wieder aufgegeben bzw. zurückgedrängt worden sind.
Susanne Maurer untersucht „die Thematisierungsdynamiken im Kontext feministischer Theoriebildung“ (S. 102). Ihre Reflexionsfolie ist u. a. ein bald 30 Jahre alter Text von Cheryl Benard (1981), in dem diese anhand der internationalen Frauenbewegung und der Schwarzen Bewegung in den USA die Probleme oppositioneller Theoriebildungen analysiert. Maurer zeigt das Spannungsfeld von identitätskritischer Utopie und „Sehnsucht nach Verortung“ (S. 111) auf und plädiert für eine relative und vorläufige Normativität. In ihrem Ausblick benennt sie Schnittstellen von Feminismus und handlungsorientierter Pädagogik, z. B. in der Sozialisationsforschung und der Menschenrechtsbildung (dies ist als optimistischer Kontrapunkt zu Jacobis Beitrag verstehbar).
Die Mitherausgeberin Barbara Rendtorff setzt sich (ohne expliziten Bezug zur Erziehungswissenschaft) mit Freud und Lacan sowie feministischen Kritiken an deren Entwürfen auseinander. In ihrem Fazit konstatiert die Autorin sowohl Nähe als auch Gegnerschaft zwischen Geschlechterforschung und Psychoanalyse: Beide hätten den Fokus auf Sexualität und Geschlecht und gingen davon aus, dass Bewusstmachung zu Veränderungen führt; aber aus psychoanalytischer Perspektive sei „die Idee einer rationalen Selbststeuerungsfähigkeit des Menschen“ (S. 135) in Frage gestellt, während Feministinnen „Gestaltungsmacht“ in Fortschreibung der humanistischen Idee einforderten. Rendtorff sieht eine Perspektive darin, „Entwürfe von Gleichberechtigung auf andere Konzepte aufzubauen als auf Gleichheit“ (S. 136).
Dazu passt der folgende Beitrag von Ida Dominijanni, politische Philosophin und Mitglied der Gruppe Diotima, die sich mit dem „Unterschied von gender und sexueller Differenz“ beschäftigt. Dabei wird vor allem deutlich, dass sich Prozesse der Herausbildung eines Mainstreams und der damit einhergehenden Marginalisierung bestimmter Positionen auch in der Geschlechterforschung finden lassen. Dominijanni beharrt auf der Eigenständigkeit der (marginalisierten) italienischen feministischen Entwicklung und kritisiert den Einfluss des us-amerikanischen Feminismus als hegemonial. Feministischen Dissens deutet sie als ein Gefangensein in der „ödipalen Position […], in der die Frauen nicht aufhören, gegeneinander um die Liebe des Vaters zu kämpfen“ (S. 145); sie fordert daher einen „Konsens über die gemeinsamen, unhintergehbaren Errungenschaften“ (S. 146).
Einen Akzent ganz anderer Art setzt die Medienwissenschaftlerin Astrid Deuber-Mankowsky: Sie schlägt vor, Gender als „epistemisches Ding“ zu verstehen (S. 170), wobei sie hervorhebt, dass „entlang der Kategorie Gender […] immer mehr Fragen zu finden“ (S. 176) sind als einfache Antworten. Sie skizziert u. a. die Forschungen zu Intersexualität seit den 1950er Jahren – ein Feld, auf dem von Bevölkerungspolitik, Medizin und medizinischen Technologien, Sozialwissenschaften etc. heftige Kontroversen um Sex und Gender sowie Natur und Kultur ausgetragen wurden und werden. Unter Bezugnahme auf Donna Haraway und Bettina Bock von Wülfingen favorisiert sie ein intersektionales Konzept von Gender, das neue Wege des Denkens jenseits der genannten Dichotomien und diesseits von Technologien, die Politik und Gesellschaft integrieren, zu finden versucht. In ihrem Kommentar dazu betont Eva Borst den Aspekt der Unabgeschlossenheit der Kategorie Gender und regt an, auch zu untersuchen, wie ‚Sex‘ als epistemisches Ding im Kontext von Lebenswissenschaften hervorgebracht wird. Die Erziehungswissenschaft solle überprüfen, inwieweit sie auf nur vermeintlich sichere naturwissenschaftliche Erkenntnisse (bzgl. Sex und Gender) als Grundlage pädagogischen Handelns zurückgreift.
Edgar Forsters Beitrag lässt sich als stärker politisch gewichtete Ergänzung zu den beiden letztgenannten Stellungnahmen lesen: „Gender auf der epistemologischen Ebene zu problematisieren, bedeutet, daraus ein Problem der Repräsentation zu machen“ (S. 203), und dies reicht Forster nicht. Er plädiert für einen „Arbeitsbegriff von gender […], der die Geschichte des Zusammenhangs von Frauenbewegung, feministischer Theorie und Praxis, Gender Studies, Männlichkeitsforschung und Männlichkeitspolitik thematisiert“ (S. 212). Er setzt sich damit für eine „Repolitisierung des Begriffs gender in der Männerforschung“ und „gegen Diskriminierung und Unterdrückung“ (S. 213) ein.
Diesem kämpferischen Statement folgt ein nachdenklicher Aufsatz von Sabine Hark, in dem eine Vielzahl von Fragen bezüglich der Institutionalisierung feministischer Wissenschaft aufgeworfen wird. Kristallisationspunkt ihrer Denkbewegungen zwischen „Aktivismus und Akademie“ (S. 215) ist die Frage nach den Möglichkeiten einer widerständigen Teilhabe im Wissenschaftsbetrieb. Ihr Fazit, ähnlich wie das von Jacobi, lautet, dass die Frauen- und Geschlechterforschung „noch längst keine anerkannte Stimme“ (S. 226) hat. Der etwas vage Kommentar von Karin Priem lobt an Harks Text die Aneinanderreihung von kritischen Fragen als vorbildhaft widerständig und endet mit der pauschalen Forderung nach gründlicher Revision der erziehungswissenschaftlichen Grundlagen.
Der letzte Beitrag des Bandes stammt von der Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer und spitzt die schon von Hark vertretene These der Entkräftung der politischen Ambitionen des Feminismus durch dessen Institutionalisierung noch zu: Geschlechterungleichheit werde de-thematisiert „durch die hegemoniale diskursive Einbindung frauenbewegten Engagements“ (S. 239); Gender Mainstreaming- und Diversity-Strategien verabschiedeten den Gedanken der sozialen Gleichheit und erhöhten den Druck auf das Individuum, sich selbst bestmöglich zu ‚managen‘. Auf diesem Hintergrund beantwortet Sauer die Titel-Frage des Bandes mit dem Aufruf, die „Intersektionalität von Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Sexualität“ zu analysieren, was sie zugleich als „feministische politische Interventionen“ (S. 251) begreift.
Ein interessanter Band, der zahlreiche Facetten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Genderforschung in den verschiedenen Disziplinen aufscheinen lässt und sich sowohl für Lehrveranstaltungen in den disziplinübergreifenden Gender Studies, als auch für wissenschaftskritische Reflexionen in den Seminaren der einzelnen Fachwissenschaften nutzbar machen lässt.
Deutlich werden an verschiedenen Stellen die Wandlungen der ursprünglichen Frauenforschung und ihrer kritischen bis revolutionären Impulse im Zuge ihrer Etablierung im Feld der Wissenschaft – die mit Ent-Täuschungen, Anpassungen an die jeweiligen Disziplinen und dem Verlust ihrer ‚Sprengkraft‘ einhergingen. Die vermehrt stattfindende Einbettung der Geschlechterforschung in eine intersektionale Perspektive schließlich wirft viele, vor allem methodische Fragen auf, die sich nicht allein mit kritischer Widerständigkeit, sondern nur in mühsam-kleinteiliger empirischer Forschung beantworten lassen.
Zu kurz kommt in den Beiträgen m. E., dass die jeweiligen Disziplinen nicht nur Anpassungsdruck und Frustrationen, sondern auch Werkzeuge für feministische Erkenntnisinteressen und damit für Erfolge lieferten. Zu kurz kommt auch die spezifisch erziehungswissenschaftliche Perspektive: Konsequenzen und Überträge für und in die Erziehungswissenschaft werden nur an einigen wenigen Stellen deutlich. Damit wurde auch eine Chance vertan, den Erträgen der pädagogischen Genderforschung (mehr) Raum zu geben, die zunehmend nach der Verschränkung von Verschiedenheiten und Ungleichheiten und deren Auswirkungen insbesondere in der Schule fragt und forscht. In Erweiterung von Claudia Opitz’ Feststellung und als Antwort auf die Titelfrage könnte man also sagen: „Nach der Genderforschung ist vor der Heterogenitätsforschung.“
URN urn:nbn:de:0114-qn093303
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